BGE 1 I 231 (231): 57. Urtheil vom 8. Oktober 1875 in Sachen Vetter.
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Sachverhalt
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A.
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Durch Entscheid vom 12. Juni d.J. hat das Bundesgericht auf die Beschwerde des Niklaus Exer den von den luzernischen Gerichten zu Gunsten des Senn Vetter auf das Guthaben des Exer bei der Dampfschifffahrtsgesellschaft in Luzern gelegten Arrest sammt allen Folgen als nichtig aufgehoben, weil, wie in der Begründung des Entscheides gesagt ist, aus dem, an andern Orten Rechtsvorschlag oder Rechtsdarschlag genannten, Zahlungsabschlage, auf welchen die Arrestverfügung sich stützte, die Zahlungsunfähigkeit Exer's nicht gefolgert werden könne und daher der gelegte Arrest gegen den Art. 59 der Bundesverfassung verstoße.
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B.
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Mittelst Eingabe vom 29. Juli d.J., eingegangen den 4. August d.J., sucht nun Vetter, welchem seiner Zeit von der Beschwerde des Exer keine Kenntniß gegeben und auch der Entscheid vom 12. Juni nicht mitgetheilt worden war, um Revision dieses Entscheides nach. Das Gesuch stützt sich auf Art. 192 Ziffer 1 litt. c des Bundesgesetzes über das Verfahren vor Bundesgericht in bürgerlichen Rechtsstreitigkeiten, indem das Bundesgericht die in den Akten liegende Thatsache des Zahlungsabschlages, der auf Heizer Exer gehaftet, unrichtig gewürdigt habe. Der Zahlungsabschlag beweise die Insolvenz des Schuldners, wie sich aus dessen Inhalt, den Artikeln 24 und 59 des luzernischen Schuldbetreibungsgesetzes, sowie aus Art. 27 der dortigen Kantonsverfassung ergebe, wonach der Besitz eines Zahlungsabschlages den Gläubiger berechtige, Guthaben des BGE 1 I 231 (232):
Schuldners, wo immer solche sich finden, mit Arrest belegen zu lassen, und der Schuldner, gegen welchen ein Zahlungsabschlag bestehe, bis zur Tilgung der Schuld im Aktivbürgerrecht eingestellt sei.
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Nun habe Exer, der als Matrose in Luzern die Kost genossen und auf dem Dampfschiff daselbst geschlafen, die von Vetter gegen ihn in Luzern angehobene Betreibung ohne Widerrede angenommen und weder gegen das Warnungsbot, noch gegen das Aufrechnungsbot, noch endlich gegen die Ausstellung des Zahlungsabschlages eine Einwendung erhoben. Dadurch sei die Betreibung rechtsgültig geworden und beweise der Zahlungsabschlag die Insolvenz Exer's, trotzdem derselbe in Luzern keine Schriften abgegeben habe und dessen Familie in Flüelen domizilire. Denn darin, daß Jemand da, wo er esse und schlafe und seinen Erwerb habe, eine Betreibung annehme, liege ein bestimmter Domizilverzeig.
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C.
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Exer bestreitet in erster Linie dem Senn Vetter die Berechtigung, als Revisionskläger aufzutreten, indem sein früherer Rekurs nicht gegen diesen, sondern gegen den Entscheid des luzernischen Obergerichtes gerichtet gewesen sei; eventuell verlangt derselbe Ausschluß des Revisionsgesuches wegen Verspätung, da von der Insinuation des Entscheides vom 12. Juni an das luzernische Obergericht bis zur Einreichung des Gesuches mehr als ein Monat verstrichen sei.
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Sodann beharrt Exer darauf, daß der Zahlungsabschlag nicht genüge, um ihn als nicht mehr aufrechtstehend im Sinne des Art. 59 der Bundesverfassung hinzustellen. Denn, da er in Flüelen domizilire, so seien alle Akte der Betreibungsbeamten in Luzern nichtig und kraftlos, übrigens auch deßhalb ohne Bedeutung, weil daraus nur hervorgehe, daß er in Luzern kein Vermögen besitze, was auch wirklich der Fall sei, da seine ganze Habe sich eben in Flüelen befinde, wo er ausschließlich sein Domizil habe. Davon, daß er die im Kanton Luzern gegen ihn angehobene Betreibung freiwillig zugelassen und anerkannt habe, sei keine Rede; denn, sobald sein Guthaben mit Arrest belegt worden sei, habe er sich vertheidigt, früher aber um die BGE 1 I 231 (233):
rechtlich ungültigen Vorkehrungen sich nicht zu bekümmern gebraucht.
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Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
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Erwägung 1
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1. Da der Arrest, dessen Aufhebung Exer durch den Entscheid vom 12. Juni d.J. erlangt hat, von dem Revisionspetenten Vetter ausgewirkt worden war, so erscheint Letzterer allerdings als die Gegenpartei des Rekurrenten und wird daher dessen Sachlegitimation von Exer ohne Grund bestritten.
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Erwägung 2
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2. Was die Frage betrifft, ob die Revision einer vom Bundesgerichte ausgefällten staatsrechtlichen Entscheidung zulässig sei, so enthält das Bundesgesetz über die Organisation der Bundesrechtspflege hierüber keine Bestimmung. Daraus darf jedoch nicht gefolgert werden, daß die Revision eines solchen Entscheides nicht nachgesucht werden könne. Denn wenn auch die staatsrechtlichen Entscheidungen unzweifelhaft der Rechtskraft fähig sind, so kann es doch unmöglich in der Absicht des Gesetzgebers gelegen haben, jedes Rechtsmittel gegen dieselben zu verschließen und denselben eine größere Rechtskraft, als den vom Bundesgerichte erlassenen Civilurtheilen beizulegen. Vielmehr muß es offenbar auch ein Rechtsmittel zur Beseitigung solcher staatsrechtlicher Erkenntnisse geben, welche z.B. wegen ungenügender oder illegaler Besetzung des Gerichtes oder wegen Nichtanhörung der Gegenpartei u.s.w. nach allgemeinen prozessualischen Grundsätzen als nichtig zu betrachten sind, und nun scheint es, namentlich bezüglich derjenigen Streitigkeiten, welche ihrem Wesen nach Civilstreitigkeiten sind und nur deßhalb, weil es sich um den Gerichtsstand handelt oder ein Konkordat zur Anwendung kommt, in das Gebiet der staatsrechtlichen Streitigkeiten hineingreifen, richtig, wenn der §. 192 des Bundesgesetzes über das Verfahren in bürgerlichen Rechtsstreitigkeiten analog zur Anwendung gebracht und gestützt auf diejenigen Gründe, auf welche hin die Revision eines Civilurtheiles stattzufinden hat, auch die Revision eines staatsrechtlichen Erkenntnisses zugelassen wird.
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Erwägung 3
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3. Im Ferneren erscheint auch hinsichtlich der Fristen, binnen welcher Revisionsgesuche gegen staatsrechtliche Erkenntnisse einzureichen sind, die analoge Anwendung des Art. 193 des zitirten BGE 1 I 231 (234):
Bundesgesetzes geboten. Die Einführung kurzer Fristen für die Einlegung von Rechtsmitteln, auf welche die Parteien ja verzichten können, ist im Interesse der Rechtssicherheit unbedingt nothwendig und es wäre daher eine offenbar ungerechtfertigte Annahme, daß der Gesetzgeber das Begehren um Revision staatsrechtlicher Erkenntnisse ohne Zeitbeschränkung habe zulassen wollen. Nun sind aber keine innern Gründe vorhanden, den Parteien für die Entscheidung, ob sie von dem Rechtsmittel Gebrauch machen wollen, bezüglich staatsrechtlicher Erkenntnisse andere Fristen zu setzen, als solche für die Revisionsgesuche gegen Civilurtheile bestehen und ist daher auch für erstere der oben zitirte Art. 193 zur Anwendung zu bringen. Hienach erscheint aber das Revisionsgesuch des Vetter keineswegs verspätet; denn nach dem Zeugnisse der Obergerichtskanzlei von Luzern hat Rekurrent von dem diesseitigen Entscheide vom 12. Juni d.J. erst am 29. Juli Kenntnis erhalten, seine Beschwerde aber schon am 4. August d.J., also lange vor Ablauf eines Monats beim Bundesgerichte eingereicht.
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Erwägung 4
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4. Muß demnach auf das Revisionsgesuch eingetreten werden, so trifft allerdings sowohl der in Art. 192 Ziffer 1 litt. c des Bundesgesetzes über das Verfahren in bürgerlichen Rechtsstreitigkeiten aufgeführte, als auch der in Ziffer 2 ibidem enthaltene Revisionsgrund zu, indem das Gericht in dem Entscheide vom 12. Juni die in den Akten liegende Thatsache des Zahlungsabschlages irrthümlich gewürdigt hat und dem Revisionspetenten auch die Beibringung des Zahlungsabschlages selbst im frühem Verfahren unmöglich war.
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Erwägung 5
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5. Aus der von dem Revisionspetenten eingelegten Urkunde und den von ihm angerufenen Gesetzesstellen ergibt sich nämlich, daß ein Zahlungsabschlag nicht, wie in dem früheren Entscheide angenommen wurde, einem Rechtsvorschlage gleich kommt, sondern allerdings die Zahlungsunfähigkeit des Schuldners beweist, indem er erst dann ausgestellt wird, wenn die Schuldbetreibung für eine Ansprache bis zur Aufrechnung durchgeführt worden, aber wegen Mangel an Vermögen keine Zahlung erhältlich gewesen ist. Wäre daher der Zahlungsabschlag gegen Exer auf BGE 1 I 231 (235):
rechtsgültige Weise zu Stande gekommen, so müßte dem Gesuche um Abänderung des früheren Entscheides Folge gegeben werden; denn der Zahlungsabschlag müßte genügen, um den Exer als nicht mehr aufrechtstehend (non solvable, wie es im französischen Texte heißt) zu betrachten, zumal nach der Verfassung des Kantons Luzern Schuldner, gegen welche ein Zahlungsabschlag besteht, bis zur Befriedigung der Gläubiger auch im Aktivbürgerrechte eingestellt sind.
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Erwägung 6
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6. Nun ist aber der gegen Exer ausgefertigte Zahlungsabschlag nichtig. Die in dem frühern Entscheide enthaltene Annahme, daß Exer in Flüelen, Kts. Uri, einen festen Wohnsitz habe, dagegen in Luzern ein Domizil nicht besitze, ist durch die Ausführungen des Revisionspetenten nicht entkräftet worden. Hienach konnte derselbe für die persönliche Forderung des Vetter nur in Flüelen betrieben werden und erscheint die in Luzern angehobene Betreibung, gemäß Art. 59 der Bundesverfassung, als nichtig und rechtsunwirksam, weil, wie schon in dem frühern Entscheide gesagt worden ist, nichts dafür vorliegt, daß Exer zur Zeit der Anhebung des Rechtstriebes zahlungsunfähig gewesen sei.
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Erwägung 7
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7. Daß derselbe durch Nichtauswirkung eines Rechtsdarschlages gegen die Betreibung den Gerichtsstand in Luzern anerkannt habe, wäre, wie das Bundesgericht schon in einem frühern Falle ausgesprochen hat, eine nicht gerechtfertigte Annahme. Jene Unterlassung kann auch auf bloßer Nachlässigkeit beruhen und es müßten daher, um aus derselben eine Anerkennung des luzernischen Gerichtsstandes zu folgern, noch anderweitige unterstützende Momente hinzukommen, woran es im vorliegenden Falle gänzlich mangelt.
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Demnach hat das Bundesgericht erkannt:
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Der diesseitige Entscheid vom 12. Juni d.J. ist bestätigt und hat es daher bei der Aufhebung des gegen Exer verhängten Arrestes sein Verbleiben.
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