BGE 23 I 113 - Gotthardbahn
 


BGE 23 I 113 (113):

Urteil
vom 24. Februar 1897
in Sachen Schuler gegen Gotthardbahngesellschaft.
 
Sachverhalt
 
A.
Der Antrag der Instruktionskommission ging dahin:
    1. Der Rekurs wird abgewiesen und es hat in allen Teilen beim Entscheid der Schätzungskommission sein Bewenden.
    2. Die 359 Fr. 10 Cts. betragenden Instruktionskosten werden dem Rekurrenten auferlegt und es haften zur Deckung derselben die von den Parteien geleisteten Baarvorschüsse. Es steht somit der Gotthardbahn für den Betrag ihres Vorschusses von 150 Fr. der Regreß auf den Rekurrenten zu. Ueberdem hat der Rekurrent die Gotthardbahn außerrechtlich mit 27 Fr. zu entschädigen.
 
B.
Dieser Urteilsantrag wurde von der Expropriantin angenommen, nicht dagegen vom Expropriaten.
 
C.
In der heutigen Verhandlung beantragt der Vertreter des Rekurrenten, es sei der Rekurs in dem Sinne gutzuheißen, daß die Bahngesellschaft verpflichtet werde, dem Rekurrenten den Schaden nach Maßgabe des Gutachtens der bundesgerichtlichen Experten zu ersetzen.
Der Vertreter der Rekursbeklagten trägt auf Abweisung des Rekurses unter Kosten- und Entschädigungsfolge an.
 
Aus den Erwägungen:
Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
 
Erwägung 1
1. Der Rekurrent betreibt in Goldau in seinen zwei Häusern

BGE 23 I 113 (114):

ein Milchgeschäft. In Folge Erstellung eines neuen Aufnahmegebäudes und einer neuen Bahnanlage kamen seine Häuser hart an die Bahn zu liegen, und wurde ihm zudem der Zugang durch Abschneiden der Straße Goldau-Steinerberg erschwert. Sein Grundstück selber wurde gänzlich intakt gelassen. Er verlangte vor der Schätzungskommission, die Bahngesellschaft sei zu verpflichten, eine Überfahrt oder fahrbare Unterfahrt in der Richtung der bisherigen Straße nach Goldau zu erstellen, eventuell ihm für erschwerten Verkehr in seinem Geschäfte 4000 Fr. und für Minderwert der Liegenschaft und Schädigung der Milch im Keller durch Erschütterung 3000 Fr. Entschädigung zu bezahlen. Die Bahngesellschaft bestritt jegliche Entschädigungspflicht. Nach dem Gutachten der bundesgerichtlichen Experten beträgt der Umweg, den der Rekurrent jetzt zu machen hat, 284 Meter; der ihm entstandene Schaden in Folge Erschwerung des Geschäftsverkehrs und Minderwert der Liegenschaft wird auf 1200 Fr. beziffert, und ausgeführt, von einer Schädigung der Milch könne keine Rede sein. Heute hält der Rekurrent nur noch in dem sub Fakt. C erwähnten Umfange an seinen Begehren fest. Die Bahngesellschaft anerkennt auch heute noch keine Entschädigungspflicht.
 
Erwägung 2
2. Daß dem Rekurrenten durch die Verlegung der Straße ein Schaden entstanden ist, kann nach dem Gutachten der bundesgerichtlichen Experten nicht bezweifelt werden. Fraglich und entscheidend ist dagegen, ob er der Bahngesellschaft gegenüber ein Recht auf Ersatz dieses Schadens besitze. In dieser Hinsicht ist zu sagen: Nach dem Begriffe der Expropriation, und so auch nach dem eidgenössischen Expropriationsgesetze, Art. 1, ist Voraussetzung der Entschädigungspflicht, daß das Eigentum oder ein anderes Recht an Immobilien abgetreten werden muß. Nun behauptet der Rekurrent in der That, es stehe ihm ein solches Recht zu, und zwar auf den ungestörten Fortbestand der Straße; er leitet dieses Recht ab aus § 4 des schwyzerischen Gesetzes über die Expropriation vom Februar 1871, welcher folgendermaßen lautet:
    "Anspruch auf volle Entschädigung hat auch der Eigentümer, von welchem zwar keine Abtretung verlangt wird, dessen Gebäude oder Grundstück aber in Folge von Aufdämmungen oder Abgrabungen nicht mehr zweckmäßig benutzt werden kann."
 


BGE 23 I 113 (115):

Erwägung 3
3. Danach entsteht zunächst die Frage, ob das Bundesgericht zur Anwendung und Auslegung dieser kantonalen Gesetzesbestimmung kompetent sei. Dies wäre insofern zu bejahen, als auf diesen Artikel ein nach dem eidgenössischen Expropriationsgesetz zu verfolgender Anspruch gestützt wird. Denn, wie das Bundesgericht in seinem Urteile i.S. Frau Herzog-Gahnder gegen Centralbahn vom 15. Oktober 1896 ausgeführt hat, es ist nach eidgenössischen Civilprozeßgesetz in Uebereinstimmung mit Theorie, Praxis und Gesetzgebung der für die Hauptfrage -- hier die Frage der Entschädigung -- zuständige Richter kompetent auch zur Beurteilung über den Umfang der Rechte, auf welche der Entschädigungsanspruch gestützt wird. Würde dagegen der betreffende Artikel nur einen expropriationsrechtlichen Charakter haben, so könnte er in casu nicht angewendet werden, da hierauf bezüglich allein das eidgenössische Expropriationsgesetz Geltung haben kann. Ob ihm nun eine andere -- nachbarrechtliche -- Bedeutung zukommt, ist in concreteo nicht zu entscheiden; denn auch  wenn er zur
Anwendung kommen sollte, müßte dennoch das vom Expropriaten daraus hergeleitete Recht verneint werden. Der fragliche Artikel giebt dem Eigentümer, von dem eine Abtretung nicht verlangt wird, unter zwei Voraussetzungen einen Entschädigungsanspruch.
Er fordert:
    a. daß Aufdämmungen oder Abgrabungen stattfinden und
    b. daß in Folge derselben das Grundstück nicht mehr zweckmäßig benutzt werden kann.
Diese beiden Voraussetzungen nun sind in concreto, wie aus Erwägung 1 hervorgeht, gar nicht vorhanden. Daß dieser Artikel ein eigentliches Privatrecht auf den ungestörten Fortbestand einer öffentlichen Straße anerkenne und einen Entschädigungsanspruch für alle und jede Schädigung, die in Folge Aufhebung oder Verletzung einer solchen entsteht, begründe, kann aus demselben nicht abgeleitet werden; vielmehr zeigt gerade sein Wortlaut, daß nur in ganz exceptionellen Fällen ein so weitgehender Schadenersatzanspruch aufgestellt werden wollte. Das schwyzerische Gesetz hat sich also keineswegs die in der Doktrin z.B. von Regelsberger, Pandekten, Bd. I § 113 (S. 422 f.) und von Dernburg, Pandekten, Bd. I, § 72 Nr. 7, und in der Praxis vieler deutscher

BGE 23 I 113 (116):

Gerichte vertretene Ansicht, es sei ein Grundsatz des heutigen Rechts, daß Schädigungen der Privatrechtssphäre durch Maßregeln, die im Interesse der Gesamtheit getroffen werden, von der Gesamtheit zu vergüten seien, zu eigen gemacht. Übrigens wäre es nach Art. 3 der eidg. C.-P.-O., welcher, wie schon oft ausgesprochen, auch auf die Expropriationsprozesse Anwendung findet, Sache des Rekurrenten gewesen, nachzuweisen, daß der Art. 4 des schwyzerischen Expropriationsgesetzes von den schwyzerischen Gerichten in dem von ihm behaupteten Sinne interpretiert wird; dieser Nachweis ist ihm aber nicht gelungen.
 
Erwägung 4
4. Es fehlt somit der Entschädigungsforderung des Rekurrenten die notwendige gesetzliche Grundlage. Denn aus Art. 1 des eidg. Expropriationsgesetzes kann ein Anspruch nicht hergeleitet werden, da eben ein Privatrecht, in welches eingegriffen würde, fehlt. Nach konstanter bundesgerichtlicher Praxis entsteht kein Anspruch auf Entschädigung, weil bisherige publizistische Rechte des Gemeingebrauchs durch Bahnanlagen erschwert oder beschädigt, oder weil bloß faktische Vorteile entzogen werden. Faktische Vorteile sind vielmehr nur dann zu berücksichtigen, wenn eine Enteignung wirklich stattfindet; vergl. Schelcher, die Rechtswirkung der Enteigung, S. 261 ff. Es genügt in dieser Hinsicht auf das Urteil des Bundesgerichts i.S. Gaudy und Dormann gegen V.S.B. vom 15. März 1894 (Amtl. Slg. XX, S. 63) zu verweisen, dessen Erwägung 5 wörtlich auf den vorliegenden Fall zutrifft, sowie auf Bundesger. Entsch. VI, S. 444, Erw. 4.
 
Demnach hat das Bundesgericht erkannt:
Der Urteilsantrag der Instruktionskommission, Dispositiv 1 und 2, wird zum Urteil erhoben.