Der Vorschrift von Art. 2 des st. gallischen Anwaltsreglements, wonach die Inhaber von Anwaltspatenten anderer Kantone zum Zwecke der Berufsausübung im Kanton St. Gallen eine Bewilligung des Kantonsgerichts einzuholen haben, hat sich der Rekurrent freiwillig unterzogen und auch die ihm für die Bewilligungserteilung abverlangte Taxe anstandslos bezahlt. Die Frage der bundesrechtlichen Zulässigkeit dieser beiden Auflagen ist deshalb hier nicht weiter zu erörtern. Immerhin mag gegenüber der sie in Abrede stellenden Bemerkung des Rekurrenten auf die im gegenteiligen Sinne ergangenen Urteile des Bundesgerichts vom 1. April 1897 i. S. Bühler (AS
23 I Nr. 69 Erw. 2 in fine S. 480 [= BGE 23 I 478 (480)]) und vom 30. September 1897 i. S. Morel, das die kantonsgerichtliche Vernehmlassung anruft, verwiesen sein.
Dagegen ficht der Rekurrent mit seinem Begehren die ihm ferner gestellte Bedingung der Verzeigung eines "Rechtsdomizils" im Kanton St. Gallen, gemäß Art. 8 des Anwaltsreglements, als mit Art. 5 Üb.-Best. z. BV nicht vereinbar an. Diese Beschwerde erweist sich als begründet. Die den Rechtsanwälten als Vertretern einer wissenschaftlichen Berufsart durch Art. 5 Üb.-Best. z. BV eingeräumte Befugnis, auf Grund eines kantonalen Befähigungsausweises "ihren Beruf in der ganzen Eidgenossenschaft auszuüben", macht in der Tat die Ausübung der Advokatur in der Schweiz von den Kantonsgrenzen in dem Sinne unabhängig, daß es den Kantonen nicht gestattet ist, die Zulassung der sachlich verfassungsgemäß legitimierten Anwälte an eine dauernde örtliche Beziehung zum speziellen Kantonsgebiete zu knüpfen und demnach den außerhalb des Kantonsgebietes niedergelassenen Anwälten die Herstellung einer solchen Beziehung zur besonderen Bedingung zu machen. Der Zweck jener Verfassungsbestimmung erschöpft sich nicht, wie das Kantonsgericht anzunehmen scheint, darin, die Träger der verschiedenen kantonalen Befähigungsausweise, die im gleichen
Kantonsgebiete niedergelassen sind, für die Berufsausübung im betreffenden Kanton einander rechtlich gleichzustellen; die Bestimmung zielt vielmehr
BGE 39 I 48 (52):
mit ihrer vorbehaltlosen Gewährleistung der Berufsausübung "in der ganzen Eidgenossenschaft" ab auf die rechtliche Gleichstellung, nach Maßgabe der jeweiligen kantonalen Berufsvorschriften,
aller im
gesamten schweizerischen Staatsgebiete niedergelassenen Inhaber kantonaler Anwaltspatente. Gegen diesen Sinn und Zweck der bundesverfassungsmäßigen Freizügigkeit aber verstößt die Vorschrift der Verzeigung eines besonderen kantonalen "Rechtsdomizils" für die außerhalb des Kantons wohnhaften Anwälte, wie es Art. 8 des st. gallischen Anwalts-Reglements vorsieht. Das "Rechtsdomizil" begründet auch als bloßer "Adreßort" im Sinne der Erläuterung des Kantonsgerichts eine nicht unerhebliche und deshalb rechtlich bedeutsame Erschwerung der Berufstätigkeit des auswärtigen Anwalts. Denn es ist ohne weiteres klar, daß eine Adresse für gerichtliche Zustellungen -- sei es auch nur ein Postfach oder ein privater Briefkasten -- die Bedienung durch eine am Adreßorte selbst sich aufhaltende oder doch regelmäßig daselbst verkehrende Person erheischt, deren dauernde Dienstleistungen normalerweise nur gegen Bezahlung zu erlangen sein werden. Und außer dieser unmittelbaren pekuniären Belastung kann ein solches "Rechtsdomizil" dem Anwalte, zufolge des mit der Übermittelung gerichtlicher Zustellungen an sein wirkliches Geschäftsdomizil über die auswärtige Domiziladresse notwendig verbundenen Zeitverlustes und der dadurch bedingten Verzögerung der Erledigung beruflicher Angelegenheiten, unter Umständen auch noch anderweitige, möglicherweise sehr gewichtige ökonomische Nachteile bringen. Überdies kann anderseits ein rechtmäßig begründetes Interesse des Kantons am Bestande der streitigen Institution nicht anerkannt werden. Wieso ein innerkantonales "Rechtsdomizil" erforderlich sein sollte, damit eine "sichere" Adresse des außer dem Kanton niedergelassenen Anwalts für die Zustellung von Zitationen etc. gegeben sei, ist schlechterdings unverständlich. Da die gerichtlichen Zustellungen nach st. gallischem Prozeßrecht (Art. 80 und 118-120 des Gesetzes betr. die Zivilrechtspflege vom 31. Mai 1900) in der Regel durch eingeschriebene Postsendungen erfolgen, steht die Möglichkeit ihrer gleichmäßigen Durchführung in der ganzen Schweiz zum vornherein außer Frage. Und was den Gerichtsstand des Anwaltes für das besondere st. gallische Ver
BGE 39 I 48 (53):
fahren in Deservitensachen (Art. 248 des Zivilrechtspflegegesetzes) betrifft, dessen Anerkennung durch das "Rechtsdomizil" im Kanton erreicht werden soll, dürfen nach der bundesgerichtlichen Auslegung des Art. 59 BV allerdings Anstände wegen der
Höhe des Anwaltshonorars vor das Prozeßgericht als solches gewiesen werden und ist demnach jener Gerichtsstand auch für die auswärtigen Anwälte ohne weiteres maßgebend. Dagegen besteht für
anderweitige Streitigkeiten aus dem Vertragsverhältnis zwischen Anwalt und Partei die Garantie des Wohnsitzrichters im Sinne jener Verfassungsbestimmung. Zum Verzicht auf diesen Gerichtsstand durch Anerkennung des fraglichen Art. 248, soweit dieser, im Widerspruch mit Art. 59 BV (nicht publiziertes Urteil des Bundesgerichts vom 7. Juni 1911 i. S. Turina-Meyer gegen Curti, Erw. 1, wo die aus AS
26 I Nr. 33 Erw. 1 S. 180 [= BGE 26 I 178 (180)] ersichtliche Praxis speziell gegenüber der hier in Rede stehenden st. gallischen Prozeßrechtsbestimmung zur Geltung gebracht worden ist), das Prozeßgericht ganz allgemein für die Beurteilung streitiger Forderungen der Anwälte aus ihrer beruflichen Tätigkeit für zuständig erklärt, kann aber der auswärtige Anwalt ebensowenig gezwungen werden, als der im Kanton selbst niedergelassene, so daß die gleiche Belangbarkeit der beiden, wie das Kantonsgericht sie postuliert, in dieser Hinsicht auch ohne das streitige "Rechtsdomizil" gesichert ist.