BGE 40 I 1 - Rechtsagentenprüfung Bammert
 


BGE 40 I 1 (1):

1. Urteil
vom 27. Februar 1914 i.S. Bammert gegen St. Gallen.
 
Regeste
Unvereinbarkeit einer kantonalen Bestimmung, durch welche die Frauen zwar zur Advokatur zugelassen, dagegen von der Rechtsagentur (Parteivertretung vor den untern Gerichtsinstanzen und im Schuldbetreibungs- und Konkursverfahren) ausgeschlossen werden, mit der Garantie der Rechtsgleichheit.
 
Sachverhalt
 
A.
Das Gesetz betr. die Zivilrechtspflege für den Kanton St. Gallen vom 31. Mai 1900 bestimmt in den Art. 77 und 31:
    "Art. 77. In allen Streitsachen, welche von den Vermittlerämtern, den Bezirksgerichtspräsidenten und den Gerichtskommissionen entschieden werden, mit Einschluss der Nichtigkeitsbeschwerde, sowie in sämtlichen summarischen Streitigkeiten, in Betreibungs- und Konkurssachen ist die berufsmässige Vertretung von Parteien, soweit solche gesetzlich zulässig ist, nur solchen Personen gestattet, welche vom Kantonsgericht die Bewilligung zur Ausübung des Rechtsagentenberufes besitzen.
    Diejenigen Personen, welche die Bewilligung des Kantonsgerichts zur Ausübung des Anwaltsberufes besitzen, haben diese Befugnis und ausserdem auch diejenige zur berufsmässigen Vertretung oder Rechts

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    verbeiständung in allen Streitsachen, für welche das Bezirksgericht oder das Kantonsgericht zuständig ist."
    "Art. 31. Das Kantonsgericht erteilt die Bewilligung zur Ausübung des Anwalts- und Rechtsagentenberufes an solche Personen, welche die hierfür nötigen Fähigkeiten besitzen und in bürgerlichen Rechten und Ehren stehen. Es erlässt ein bezügliches Reglement, welches der Genehmigung des Grossen Rates unterliegt.
    Es übt die Oberaufsicht über die Berufsführung der Anwälte und Rechtsagenten aus, und ist befugt, im Falle grober Pflichtverletzung Rügen auszusprechen oder Ordnungsbussen bis auf 200 Fr. zu verhängen oder die erteilte Bewilligung zeitweise oder ganz zurückzuziehen."
Gestützt hierauf genehmigte der Grosse Rat des Kantons St. Gallen am 21. Mai 1901 ein vom Kantonsgericht ausgearbeitetes "Reglement für die Anwälte und Rechtsagenten im Kanton St. Gallen", worin für beide Berufe folgende gemeinsame Erfordernisse aufgestellt werden:
    1. Eigenschaft als stimmberechtigter Schweizerbürger;
    2. guter Leumund;
    3. Besitz des Anwalts- bezw. Rechtsagentenpatents.
Von dem ersteren Requisit wird in Art. 1 Abs. 3 inbezug auf die Anwälte insofern eine Ausnahme gemacht, als "Frauenspersonen" von diesem Berufe "nicht ausgeschlossen" sein sollen. Für die Rechtsagenten besteht eine analoge Bestimmung nicht. Hier wird also stets Besitz des Aktivbürgerrechts verlangt (Art. 15 und 16).
Vor Erteilung des Patents hat sich der Bewerber einer Prüfung zu unterziehen, die sich bei den Rechtsagenten auf eidgenössisches und kantonales Privatrecht und kantonales Zivilprozessrecht (auf diese Fächer "im Rahmen der gesetzlich normierten Tätigkeit eines Rechtsagenten"), sowie auf Betreibungs- und Konkursrecht, bei den Anwälten auf allgemeine Rechtslehre, schweizerisches und kantonales Privatrecht, Betreibungs- und

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Konkursrecht, Strafrecht, Strafprozess, Zivilprozess, Staatsrecht erstreckt.
Die Tätigkeit der Rechtsagenten ist nach dem zitierten Art. 77 in Verbindung mit den Art. 25-27 ZPO teils eine gerichtliche -- Vertretung vor den unteren Gerichtsinstanzen (Zivilstreitigkeiten bis auf 25 Fr. vor Vermittler, von über 25-200 Fr. vor Gerichtskommission, Nichtigkeitsbeschwerden gegen Urteile des Vermittlers an den Bezirksgerichtspräsidenten, summarische Streitigkeiten) -- teils eine aussergerichtliche -- Vertretung in Schuldbetreibungs- und Konkurssachen und darauf bezüglicher Inkasso (Art. 27 SchKG). Die Vergütung für ihre Verrichtungen, wie für diejenigen der Anwälte, richten sich gemäss Art. 347 ZPO nach einem vom Regierungsrat auf Antrag des Kantonsgerichts festzusetzenden Gebührentarif.
 
B.
Am 8. November 1913 fragte die Rekurrentin Fräulein B. Bammert, die nach ihren Angaben während sechs Jahren auf einem st. gallischen Anwaltsbureau angestellt war, das Kantonsgericht an, ob sie zur Rechtsagentenprüfung zugelassen würde, erhielt aber darauf am 28. November 1913 vom Kantonsgerichtspräsidenten den Bescheid, dass nach der Auffassung des Kantonsgerichts die Erteilung des Rechtsagentenpatentes an Frauenspersonen ausgeschlossen sei, weil Art. 15 des Reglements vom 21. Mai 1901 dafür die Stimmberechtigung als notwendiges Erfordernis voraussetze.
 
C.
Gegen diese "Verfügung" des Kantonsgerichts hat Fräulein Bammert den staatsrechtlichen Rekurs an das Bundesgericht ergriffen mit dem Antrage, sie sei aufzuheben und das Kantonsgericht anzuweisen, die Rekurrentin zur Rechtsagentenprüfung zuzulassen und ihr nach bestandener Prüfung das Patent zu erteilen. Zur Begründung wird geltend gemacht, dass der Ausschluss der Frauen vom Rechtsagentenberuf gegen Art. 31, je

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denfalls aber, mit Rücksicht auf ihre Zulassung zur Advokatur, gegen Art. 4 BV verstosse.
 
D.
Das Kantonsgericht St. Gallen hat auf Abweisung des Rekurses angetragen und ausgeführt: Art. 33 BV hindere die Kantone nicht, die Ausübung wissenschaftlicher Berufsarten noch von anderen Requisiten als dem Befähigungsausweis abhängig zu machen. So sei allgemein anerkannt, dass der Nachweis guten Leumunds verlangt werden könne. Ob sich das Reglement vom 21. Mai 1901, wenn es daneben für die Rechtsagentur ausserdem noch die Stimmfähigkeit und damit das männliche Geschlecht fordere, auf verfassungsmässigem Boden befinde, möge das Bundesgericht entscheiden. Sicher sei jedenfalls soviel, dass es nicht auf Zufall beruhe, wenn darin die Frauen zu dem höherstehenden Berufe des Anwalts zugelassen würden, zum Rechtsagentenberufe aber nicht. Infolge der Beobachtung, dass die Tätigkeit der Rechtsagenten häufig keine einwandfreie sei, habe sich bei Erlass des Prozessgesetzes bezw. des Reglementes eine starke Bewegung dahin geltend gemacht, die Rechtsagenten überhaupt zu beseitigen oder doch zum mindesten den Stand ihrer Vertreter möglichst zu beschränken. Wenn sich diese Bewegung auch nicht ganz habe durchsetzen können und das Gesetz den Rechtsagentenberuf nach wie vor zulasse, so habe sie doch ihren Niederschlag in der Bestimmung des Art. 15 des Reglementes gefunden, welche als Vorbedingung für die Erteilung des Patents die Stimmberechtigung aufstelle. Man habe es also mit einer bewusst aufgestellten Schranke zu tun.
 
Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
 
Erwägung 2
2. In der Sache selbst mag dahingestellt bleiben,

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ob die Rechtsagentur in St. Gallen sich als reines Gewerbe i.S. von Art. 31 BV darstelle, dessen Ausübung nur im Rahmen der litt. e ebenda aus gewerbe-polizeilichen Gründen beschränkt werden könnte, oder ob nicht der Rechtsagent gleich dem Anwalt, nach der ihm durch das Gesetz zugewiesenen Aufgabe und mit Rücksicht auf die aus der gegenwärtigen Ordnung des Prozessverfahrens sich ergebende Unentbehrlichkeit der sachverständigen Parteivertretung, daneben zugleich als Hilfsorgan der staatlichen Rechtspflege anzusehen, seine Tätigkeit mithin insoweit eine auf die Besorgung öffentlich-rechtlicher Funktionen gerichtete und den Charakter eines Amtes tragende sei (vgl. im letzteren Sinne Laband, Staatsrecht, 5. Aufl. III S. 491 ff.), was zur Folge hätte, dass die Zulassung zu ihr, soweit es jener Charakter fordert, auch noch von weiteren, durch den Vorbehalt der Art. 31 litt. e nicht gedeckten Erfordernissen abhängig gemacht werden dürfte. Ebenso, ob bei der letzteren Annahme der Ausschluss der Frauen von der berufsmässigen Parteivertretung vor Gericht, sofern er ein allgemeiner wäre, d.h. sich auf Rechtsagentur und Advokatur bezöge, vom Standpunkt des Art. 4 BV anfechtbar wäre, eine Frage, die bekanntlich vom Bundesgericht in einem früheren Entscheide (i.S. Kempin AS 13 N 1) verneint worden ist. Entscheidend ist, dass jedenfalls eine Differenzierung, wie sie das st. gallische Reglement vom 21. Mai 1901 trifft, wonach die Frauen zwar zur Advokatur zugelassen, dagegen von der Rechtsagentur ausgeschlossen sind, vor dem durch die erwähnte Verfassungsnorm gewährleisteten Grundsatz der Rechtsgleichheit nicht Stand hält.
Nach dem eingangs zitierten Art. 77 des st. gallischen Rechtspflegegesetzes kann keinem Zweifel unterliegen, dass die Tätigkeit des Anwaltes und des Rechtsagenten ihrem Gegenstand nach eine durchaus gleichartige ist. Beide befassen sich mit der berufsmässigen Vertretung der Parteien im Prozess- und Zwangsvollstreckungs-

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(Schuldbetreibungs- und Konkurs-)verfahren. Ein Unterschied besteht nur hinsichtlich des Umfangs und der Wichtigkeit ihrer Funktionen, indem das Anwaltspatent die Befugnis zur Vertretung vor allen Gerichtsinstanzen gibt, während die Vertretungsbefugnis der Rechtsagenten sich auf gewisse untere Instanzen und das Schuldbetreibungs- und Konkursverfahren beschränkt. Der Ausschluss der Frauen von der Rechtsagentur kann daher nicht von dem im angeführten Urteile i.S. Kempin geltend gemachten Gesichtspunkte aus gerechtfertigt werden, dass die verschiedene Behandlung der Geschlechter auf dem Gebiete des öffentlichen Rechts, insbesondere inbezug auf die Betätigung im öffentlichen Leben und damit inbezug auf das Auftreten als Parteivertreter vor Gericht der bisherigen Rechtsentwicklung und den traditionellen, zur Zeit noch herrschenden Rechtsanschauungen entspreche und deshalb der inneren Begründung nicht entbehre. Denn indem der Kanton St. Gallen die Frauen zur Advokatur zugelassen hat, hat er sich eben auf dem hier in Frage stehenden Gebiete, der Parteivertretung vor Gericht, über jene traditionellen Rechtsanschauungen grundsätzlich bereits hinweggesetzt. Nachdem er dies getan, ist er aber selbsverständlich in der Art, wie er die Zulassung der Frauen zu der fraglichen Tätigkeit regelt, an das Prinzip der Rechtsgleichheit gebunden und darf keine Unterschiede aufstellen, die damit nicht vereinbar sind. Die Bestimmung des Art. 15 des Reglementes von 1901, welche die Frauen von der Rechtsagentur ausschliesst, wäre mithin nur dann haltbar, wenn zwischen der Berufstätigkeit eines Rechtsagenten und derjenigen des Anwaltes tatsächliche Verschiedenheiten bestünden, welche die vom Reglement gemachte rechtliche Unterscheidung hinsichtlich der Zulassung der Frauen zu stützen vermöchten. Als solches Motiv kann nun aber das vom Kantonsgericht angeführte Argument, dass man wegen der in praxi vielfach nicht einwandfreien Geschäftsfüh

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rung der Rechtsagenten den Stand ihrer Vertreter möglichst habe beschränken wollen, unzweifelhaft nicht angesehen werden. Wenn die Tätigkeit mancher Rechtsagenten für das Publikum Gefahren bietet, so mag mit Rücksicht hierauf eine Verschärfung der Zulassungsbedingungen in qualitativer Beziehung, nach der Richtung der erforderlichen Kenntnisse und des Nachweises absoluter moralischer Integrität, vielleicht auch die Statuierung einer Kautionspflicht am Platze sein. Die vollständige Fernhaltung der Frauen vorn Rechtsagentenberuf kann diese Tatsache nicht begründen. Denn dass etwa den Frauen allgemein die Fähigkeit zum Erwerb der für die Rechtsagentur nötigen Kenntnisse abginge oder sie den mit dem Berufe verbundenen moralischen Versuchungen leichter unterliegen würden als die Männer, kann gewiss nicht gesagt werden und wird überdies ohne weiteres dadurch widerlegt, dass der kantonale Gesetzgeber sie zu dem schwierigeren und verantwortungsvolleren Berufe des Anwaltes, der ein grösseres Mass beruflichen Wissens und mindestens dasselbe Mass moralischer Garantien verlangt, zugelassen hat.
Da irgendwelcher andere Gesichtspunkt des öffentlichen Interesses, der für die verschiedene Behandlung der Frauen mit Bezug auf die Zulassung zur Advokatur und Rechtsagentur spräche, vom Kantonsgericht, dem Urheber des Reglements, nicht namhaft gemacht worden und auch nicht ersichtlich ist, muss dieselbe daher als unzulässig betrachtet und der Rekurs gutgeheissen werden;
 
Demnach hat das Bundesgericht erkannt:
Der Rekurs wird begründet erklärt und die damit angefochtene Verfügung des Kantonsgerichts vom 28. November 1913 in dem Sinne aufgehoben, dass die Rekurrentin zur Rechtsagentenprüfung zuzulassen ist.