BGE 58 I 285 - Erbschaftsklage in Abwesenheit |
48. Urteil |
vom 18. November 1932 i.S. Strohwig gegen Obergericht Zürich. |
Regeste: |
Erbschafts- (Herabsetzungs-)klage für eine unbekannt abwesende Person durch den ihr von der Vormundschaftsbehörde hiezu ernannten Beistand. Aus Art. 4 BV folgender bundesrechtlicher Anspruch auf Bewilligung der unentgeltlichen Prozessführung, wenn die Person ausser dem streitigen Anspruch kein bekanntes Vermögen besitzt und der Prozess nicht aussichtslos ist. |
Sachverhalt: |
A. |
Am 25. Dezember 1928 starb in Zürich E. Koch-Walter, gewesener Schuhmachermeister. Gesetzliche Erben waren seine fünf Kinder, worunter Ernst Koch-Lüscher in Zürich und Frau Marie Strohwig-Koch unbekannten Aufenthaltes. Durch letztwillige Verfügung hatte der Erblasser seine Liegenschaft an der Eigenstrasse in Zürich dem Sohne Ernst Koch-Lüscher für 41,000 Fr. zugewendet und diesen überdies berechtigt, von dem genannten Preise ein Lohnguthaben von 8000 Fr. abzuziehen. Der Bedachte war vor Jahren in das Schuhmachergeschäft des Vaters eingetreten, hatte darin lange Zeit gearbeitet, es schliesslich übernommen und in den letzten Jahren den Vater in seinen Haushalt aufgenommen. Nach Eintritt des Erb falls nahm er den Standpunkt ein, dass er seinen Geschwistern nichts herauszugeben habe, da der Vater ausser etwas -- beinahe wertlosem -- Mobiliar nur die Liegenschaft hinterlassen habe, die auf höchstens 43,000 Fr. geschätzt werden könne, und diesen Aktiven an grundpfandversicherten und weitern Passiven ungefähr 45,000 Fr. gegenüberständen. |
Die Vormundschaftsbehörde der Stadt Zürich bestellte der Frau Strohwig-Koch, die vor Jahren nach Amerika ausgewandert und zur Zeit unbekannt abwesend ist, gestützt auf ZGB Art. 392 Ziff. 1 und Art. 393 1 und 2 einen Beistand und erteilte diesem am 12. Juli 1929 die Vollmacht, namens der Verbeiständeten die von Vater Koch errichtete letztwillige Verfügung gerichtlich anzufechten. In der Folge erhoben die übrigen Erben, Frau Strohwig vertreten durch ihren Beistand, beim Bezirksgericht Zürich gegen Ernst Koch Klage über folgende Streitfrage:
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"Wie ist die Erbschaft des am 25. Dezember 1928 verstorbenen Witwers Ernst Koch-Walter zu teilen; hat der Beklagte die von ihm vorempfangenen Vermögenswerte zur Ausgleichung zu bringen, bezw. in die Erbmasse einzuwerfen und in welchem Betrage; und sind die Zuwendungen an ihn in der letztwilligen Verfügung des Erblassers vom 9. April 1924 entsprechend herabzusetzen?"
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Das Bezirksgericht Zürich gab der Frau Strohwig am 8. Juli 1930 -- unter Berufung auf § 59 der zürcherischen Zivilprozessordnung (ZPO) -- auf, innert 10 Tagen "die sie im Falle des Unterliegens treffenden Kosten und Entschädigungsansprüche [...] durch eine Kaution von 1500 Fr. sicherzustellen". Ein gegen diesen Beschluss eingereichter Rekurs wurde vom Obergericht des Kantons Zürich am 11. Oktober 1930 und die gegen den letztern Entscheid gerichtete Nichtigkeitsbeschwerde am 9. April. 1931 vom Kassationsgericht des Kantons Zürich abgewiesen.
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Am 22. August 1931 stellte darauf der Vertreter der Frau Strohwig beim Bezirksgericht Zürich das Gesuch um Bewilligung der unentgeltlichen Prozessführung. Das Bezirksgericht wies das Gesuch ab. Auf hiegegen erhobenen Rekurs ermässigte das Obergericht des Kantons Zürich durch Entscheid vom 21. Mai 1932 die vom Bezirksgericht bestimmte Prozesskaution auf 700 Fr., bestätigte dagegen im übrigen den Beschluss der Vorinstanz, im wesentlichen mit folgender Begründung: Die Voraussetzungen, unter denen einer Partei die unentgeltliche Rechtspflege bewilligt werden könne, seien in § 81 ZPO aufgezählt. Sie träfen bei der Rekurrentin nicht zu. Denn es stehe in keiner Weise fest, dass sie nicht über die nötigen Mittel verfüge, um neben dem Lebensunterhalt für sich und die Ihrigen die Prozesskosten aufbringen zu können; ein amtliches Zeugnis darüber liege nicht vor und die Rekurrentin könne auch nicht einvernommen werden, da sie unbekannt abwesend sei. Die bei den Akten liegenden Beweismittel genügten nicht, um jenen Nachweis in einer für das Gericht schlüssigen Form zu erbringen, da die Rekurrentin in der Zwischenzeit zu Geld gekommen sein könne. An ihr wäre es gewesen, nicht jeden Verkehr mit ihren Angehörigen abzubrechen; dann wäre sie auch in der Lage, den Nachweis ihrer Bedürftigkeit zu leisten. Auf blosse Indizien hin könne die unentgeltliche Rechtspflege nicht gewährt werden, da § 81 ZPO formelles Recht enthalte und die Gerichte sich über diese Vorschrift nicht hinwegsetzen dürften. |
B. |
Gegen diesen Entscheid des Obergerichts vom 21. Mai 1932 hat der Vertreter der Frau Strohwig beim Bundesgericht staatsrechtliche Beschwerde erhoben mit dem Antrag auf Aufhebung des Entscheides. Als Beschwerdegründe werden Verletzung von Art. 4 BV (Rechtsverweigerung) und Missachtung der derogatorischen Kraft des Bundesrechts geltend gemacht. Die nähere Beschwerdebegründung ist, soweit nötig, aus den nachstehenden Erwägungen ersichtlich.
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C. |
Das Obergericht des Kantons Zürich hat auf Gegenbemerkungen verzichtet.
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Erwägungen: |
Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
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Erwägung 1 |
Erwägung 2 |
Erwägung 3 |
3. Nach feststehender Rechtsprechung des Bundesgerichtes ergibt sich indessen schon aus dem jedem Bürger durch Art. 4 BV gewährleisteten staatlichen Rechtsschutz, dass der Richter sein Tätigwerden nicht von der vorhergehenden Erlegung der Prozesskosten abhängig machen darf, wenn diese Kosten von der Partei, die einen begründeten oder doch zum mindesten nicht aussichtslosen privatrechtlichen Anspruch geltend macht, nicht aufgebracht werden können. Eine solche Ordnung behandelt die Bürger, auch wenn die Kostenvorschusspflicht unter den betreffenden Voraussetzungen vom Gesetz allgemein vorgesehen ist, doch nur äusserlich, dem Scheine nach gleich; in Wirklichkeit wird demjenigen, der die Leistung nicht erfüllen kann, der Rechtsschutz für die Verfolgung seines Anspruchs versagt (BGE 57 I S. 343 ff. und dort angeführte frühere Urteile). Die Rekurrentin hat daher schon kraft Bundesrechts, unabhängig von der kantonalen Prozessordnung, ein Recht auf die Gewährung der unentgeltlichen Prozessführung, wenn der für sie angehobene Erbschaftsprozess nicht aussichtslos ist und sie die Prozesskosten unmöglich aufbringen kann. |
Erwägung 4 |
4. Bei Beurteilung der letzteren Frage können in einem Falle wo, wie hier, der von der Vormundschaftsbehörde ernannte Beistand für eine unbekannt abwesende Person einen Prozess führt, nicht die Vermögens- und Einkommensverhältnisse des unbekannt abwesenden Verbeiständeten in Betracht fallen, sondern nur dessen bekanntes Vermögen. Dürfte dem Beistand einer solchen Person, die keine bekannten Zahlungsmittel besitzt, die unentgeltliche Prozessführung verweigert werden, so würde der Person tatsächlich der staatliche Rechtsschutz versagt, auf den sie nach den Vorschriften des ZGB über die Beistandschaft Anspruch hat. In Deutschland, wo das Gesetz (§ 114 der deutschen ZPO) die Voraussetzungen der unentgeltlichen Prozessführung ähnlich umschreibt wie die zürcherische ZPO, hat denn auch das Reichsgericht schon im Jahre 1902 im gleichen Sinne entschieden in einem Falle, wo der für unbekannt abwesende Erben bestellte Nachlasspfleger die Bewilligung der unentgeltlichen Prozessführung nachsuchte. Dem Gesuche wurde entsprochen mit der Begründung: der vom Gesetz geforderte Nachweis, dass die unbekannten Erben die Prozesskosten ohne Beeinträchtigung ihres Unterhaltes und desjenigen ihrer Familie nicht zu bestreiten vermöchten, sei in einem solchen Falle allerdings nicht buchstäblich und völlig so, wie im Gesetze bestimmt, zu erbringen. Dies könne aber auch nicht verlangt werden. Es müsse genügen, dass das Vermögen, das allein zur Bestreitung der Prozesskosten zur Verfügung stehe, arm sei, d.h. keinen Aktivenüberschuss aufweise, wenn man vom streitigen Anspruch absehe. "Wollte man den Erben hier das Armenrecht verweigern, so wäre dem sie vertretenden Nachlasspfleger die Rechtsverfolgung schlechthin unmöglich gemacht, was nicht in der Absicht des Gesetzes liegen kann" (RG in Zivilsachen 50 S. 394 ff.; vgl. ferner ebenda 65 S. 288 und SEUFFERT Archiv 3. Folge, Bd. 3, S. 37/38; SCHOTT, Armenrecht, S. 91). Der Beistand der Rekurrentin verfügt aber über keine Mittel derselben, aus denen er die Prozesskosten und insbesondere die auferlegte Prozesskaution von 700 Fr. aufbringen könnte. Denn die Rekurrentin besitzt, wie unbestritten ist, ausser dem streitigen Erbanspruch kein bekanntes Vermögen. |
Erwägung 5 |
Aus den anderen Gründen, wie sie teils vom Rekursbeklagten im kantonalen Verfahren, teils vom Kassationsgericht in seinem Entscheide vom 9. April 1931 teils vom Obergericht im heute angefochtenen Entscheide noch geltend gemacht worden sind, dürfte die Verweigerung nicht erfolgen. So insbesondere nicht deshalb, weil die Vormundschaftsbehörde der Stadt Zürich zur Anordnung der Beistandschaft örtlich nicht zuständig gewesen sei. Den Gerichten steht nicht das Recht zu, in einem vom Beistand angehobenen Zivilprozess nachzuprüfen, ob die Beistandsbestellung durch die örtlich zuständige Vormundschaftsbehörde erfolgte. Der Bestellungsakt ist für den Richter verbindlich, solange er nicht von den vormundschaftlichen Organen selbst wieder aufgehoben wird (BGE 55 II S. 325). Übrigens war die zürcherische Vormundschaftsbehörde wenigstens zur Anordnung einer Verwaltungsbeistandschaft gemäss Art. 393 Ziff. 1 ZGB zuständig; denn diese Massnahme ist von der Behörde jenes Ortes zu treffen, "wo das Vermögen in seinem Hauptbestandteil verwaltet worden oder der zu vertretenden Person zugefallen ist" (ZGB Art. 396 Abs. 2). Die der Rekurrentin zugefallene Nachlassquote ist aber bis jetzt am Wohnort des Erblassers in Zürich verwaltet worden und hier der Rekurrentin zugefallen. |
Dasselbe gilt gegenüber der Einwendung des Kassationsgerichtes, dass die Ansprüche der Rekurrentin auch bei Unterlassung der Klage einstweilen nicht Gefahr liefen zu verjähren. Es war wiederum ausschliesslich Sache der Vormundschaftsbehörde, darüber zu befinden, ob sich die sofortige Anhebung der Erbschaftsklage rechtfertige, was sie durch Erteilung der Prozessvollmacht an den Beistand bejaht hat. Die Vormundschaftsbehörde konnte auch, vorausgesetzt dass der Prozess nicht aussichtslos ist, kaum anders handeln. Wenn die Klage in den nächsten Jahren noch nicht verjährt, so wird doch die Beweisführung für verschiedene erhebliche Tatsachen (z.B. die Grösse des väterlichen Nachlasses) im Laufe der Zeit immer schwieriger: zudem muss mit der Möglichkeit gerechnet werden, dass der Erbe, der den ganzen Nachlass in Händen hat, nach Jahren nicht mehr imstande ist, seine Miterben für ihre Erbansprüche zu befriedigen.
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Auch das Argument des angefochtenen Entscheides, dass die Rekurrentin es selbst verschuldet habe, wenn man zu ihr nicht in Beziehungen treten könne, vermag in diesem Zusammenhang keine Rolle zu spielen. Einmal ist nicht bewiesen, dass die Rekurrentin die Beziehungen zu ihren Angehörigen "schuldhaft" abgebrochen habe. Wenn sie in den letzten Jahren keine Nachrichten mehr gab, so kann sich dies ebensogut aus anderen Gründen, z.B. daraus erklären, dass sie inzwischen gestorben ist. Auch im letzteren Falle muss aber, solange ihr Tod nicht nachgewiesen oder die Verschollenheitserklärung noch nicht erfolgt ist, der Erbschaftsprozess in ihrem Namen durchgeführt werden. Dazu kommt, dass die Bewilligung der unentgeltlichen Prozessführung überhaupt nicht davon abhängig gemacht werden kann, ob die Unfähigkeit des Gesuchstellers zur Bestreitung der Prozesskosten auf ein Verschulden seinerseits zurückzuführen ist oder nicht. Auch demjenigen, der seine Armut verschuldet hat, muss das Armenrecht gewährt werden, wenn sein Anspruch nicht von vornherein aussichtslos ist. |
Dispositiv |
Demnach erkennt das Bundesgericht:
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