BGE 73 I 42 (42): 4. Urteil
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vom 13. März 1947 i.S. Weber gegen Regierungsrat des Kantons Zürich.
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Regeste
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Kantonale Gesetze, die zur Wahrung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit, insbesondere zur Verhütung von Verbrechen, die administrative Einweisung in Anstalten vorsehen, sind nicht bundesrechtswidrig. Verhältnis dieser Gesetze zum schweizerischen Strafgesetzbuch und zum Vormundschaftsrecht.
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Sachverhalt
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Am. 5. September 1946 beschloss der Regierungsrat des Kantons Zürich, den am 15. April 1926 geborenen Kurt Werner Weber wegen Arbeitsscheu gestützt auf die § 5 ff. des kantonalen Versorgungsgesetzes auf die Dauer von 3 Jahren in eine Arbeitserziehungsanstalt einzuweisen. Der Betroffene zog diesen Entscheid mit einer staatsrechtlichen Beschwerde an das Bundesgericht weiter. Zur Begründung führte er u.a. an, der angefochtene Beschluss verstosse gegen den Grundsatz, dass Bundesrecht kantonales Recht breche. Nach dem schweizerischen Zivilgesetzbuch seien Arbeitsscheue zu bevormunden. Für eine administrative Versorgung ohne Entmündigungsverfahren sei kein Raum mehr.
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BGE 73 I 42 (43): Aus den Erwägungen:
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Es lässt sich nicht bestreiten, dass die Kantone kraft ihrer Polizeihoheit das Recht haben, die zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit erforderlichen, Massnahmen zu treffen, insbesondere Verbrechen zu verhindern. Zu diesem Zwecke können sie vorsehen, dass Personen, welche die öffentliche Ordnung und Sicherheit erheblich gefährden, namentlich besonders zur Verübung von Verbrechen neigen, auf dem Verwaltungswege in Anstalten eingewiesen werden können (vergl. z.B. Stooss: Grundzüge des Schweiz. Strafrechts I S. 328 ff.). In diesen Rahmen fällt das dem angefochtenen Entscheid zugrunde liegende zürcherische Gesetz über die Versorgung von Jugendlichen, Verwahrlosten und Gewohnheitstrinkern vom 24. Mai 1925, das in § 5, 8 und 11 die Versorgung von Personen vorsieht, die "einen Hang zu einem Vergehen bekunden", "liederlich oder arbeitsscheu" sind oder "durch Trunksucht sich oder andere gefährden oder ihre Familienpflichten dauernd vernachlässigen oder öffentliches Ärgernis erregen". Die genannten Trunksüchtigen, Liederlichen und Arbeitsscheuen sind im allgemeinen nicht in der Lage, rechtmässig für ihren Unterhalt aufzukommen und daher, wie die Personen mit einem Hang zu Verbrechen, leicht bereit, strafbare oder doch polizeiwidrige Handlungen zu begehen.
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Ähnliche Massnahmen wie das zürcherische Versorgungsgesetz kennt auch das Bundesrecht. Das schweizerische Strafgesetzbuch ermächtigt den Richter, voll und vermindert unzurechnungsfähige Täter zu versorgen (Art. 14 und 15 StGB) und als sichernde Massnahmen neben oder anstelle einer Strafe die Verwahrung sowie die Einweisung in eine Arbeitserziehungs- oder Trinkerheilanstalt anzuordnen (Art. 42, 43, 44 StGB). Das schweizerische Zivilgesetzbuch gibt den Vormundschaftsbehörden das Recht, Personen, die durch Trunksucht und lasterhaften BGE 73 I 42 (44):
Lebenswandel sich oder ihre Familie der Gefahr des Notstandes oder der Verarmung aussetzen, zu ihrem Schutz dauernd des Beistandes und der Fürsorge bedürfen oder die Sicherheit anderer gefährden, zu bevormunden und in Anstalten unterzubringen (Art. 370 und 406 ZGB). Ein lasterhafter Lebenswandel im Sinne von Art. 370 ZGB liegt auch bei Liederlichkeit und Arbeitsscheu vor (Komm. Kaufmann N. 20 ff. zu Art. 370 ZGB und N. 3 zu Art. 406 ZGB; Komm. Egger N. 47 zu Art. 370 ZGB).
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Es ist offensichtlich, dass die für Rechtsbrecher bestimmten Vorschriften des schweizerischen Strafgesetzbuches die Kantone nicht hindern, kraft ihrer Polizeihoheit Personen zu versorgen, die keine strafbaren Handlungen begangen oder ihre Strafen bereits verbüsst haben (ebenso Komm. Logoz N. 1 zu Art. 43 StGB; Hafter; Lehrbuch des schweiz. Strafrechts, Allg. Teil S. 397 N. 5). In den Fällen der Art. 14, 15, 42, 43 und 44 StGB trifft allerdings auch der Richter kraft Bundesrecht sichernde polizeiliche Massnahmen zur Verhinderung von weitern strafbaren Handlungen oder andern Verstössen gegen die öffentliche Ordnung. Da die ihm übertragene Aufgabe aber stets mit einer Straftat des eidgenössischen Rechts zusammenhängt, besteht kein Anlass anzunehmen, der Bundesgesetzgeber habe die Polizeihoheit der Kantone auch unter andern Voraussetzungen beschränken wollen. In diesem Sinne hat das Bundesgericht beispielsweise entschieden, dass die Kantone zuständig seien, für Übertretungen, deren Regelung ihnen vorbehalten ist, neben der Strafe oder ohne eine solche die Einweisung in eine Zwangsarbeitsanstalt anzuordnen (BGE 69 IV 183 ff.). Sie können auch sichernde Massnahmen beschliessen, wo keine strafbare Übertretung vorliegt, ja kraft Bundesrecht jede Strafsanktion verboten ist (vergl. BGE 68 IV 43; nicht veröffentlichtes Urteil des Kassationshofes vom 24. März 1944 i.S. Fischer; Urteil des Bundesgerichts vom 12. März 1945 i.S. Ramelet, abgedruckt im Journal BGE 73 I 42 (45):
des Tribunaux, Droit fédéral, 1945, S. 305 f; ebenso Botschaft des Bundesrates zum StGB S. 43).
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Ebensowenig wie das schweizerische Strafgesetzbuch schliesst das Vormundschaftsrecht, das je nach den Umständen die Versorgung Liederlicher, Arbeitsscheuer und Trunksüchtiger erlaubt, entsprechende polizeiliche Massnahmen der Kantone aus. Der Bundesrat hat dies in seiner Botschaft zum schweizerischen Zivilgesetzbuch vom 28. Mai 1904 ausdrücklich hervorgehoben. Es heisst dort S. 47: "Und überdies wird auch fernerhin die Bevormundung natürlich nur eine der Massregeln sein, die gegen die von Art. 379 (Art. 370 ZGB) betroffenen Personen ergriffen werden können, indem es nach wie vor dem kantonalen Recht vorbehalten bleibt, mit einer administrativen Versorgung einzuschreiten..." Die bereits erwähnte Botschaft des Bundesrates zum StGB geht ebenfalls davon aus, dass die kantonalen Versorgungsgesetze nicht bundesrechtswidrig sind. Das eidgenössische Vormundschaftsrecht wahrt im Unterschied zu diesen kantonalen Erlassen private Interessen. Art. 370 ZGB sieht zwar, wie übrigens auch Art. 369 ZGB, die Bevormundung nicht nur im Interesse des Bevormundeten und seiner Familie vor, sondern auch zur Sicherheit anderer. Aber diese Massnahmen zu Gunsten Dritter dürfen nicht Vorkehren im öffentlichen Interesse gleichgestellt werden. Prof. Egger schreibt in seinem Kommentar mit Recht, das ZGB gehe keineswegs so weit, das Vormundschaftsrecht in den Dienst öffentlicher Interessen zu stellen; es wolle nur die Interessen Dritter wahren und ihnen einen präventiven Schutz angedeihen lassen (N. 15 zu Art. 369 ZGB); die Wahrung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung könne dem öffentlichen Recht überlassen bleiben (N. 56 zu Art. 369 ZGB; vergl. auch N. 51 zu Art. 370 ZGB). Übrigens werden die Interessen Dritter durch das Vormundschaftsrecht nur geschützt, wenn sie sich mit den eigenen Interessen des Bevormundeten decken (Komm. Egger N. 56 zu Art. 369 ZGB). Diese BGE 73 I 42 (46):
stehen im Vordergrund. Hauptzweck der Bevormundung ist, dem Bevormundeten den Schutz und den Beistand eines Vormundes zu sichern (Art. 406 ZGB). In der Expertenkommission hat sich der Referent (Eugen Huber) wie folgt ausgedrückt: "Wenn man es (die Gefährdung der Sicherheit anderer) annehme, so erfolge dies aus zwei Gesichtspunkten, einerseits weil der Betroffene sich durch seine krankhafte Handlungsweise schwerer Verantwortlichkeit aussetze, sowie andererseits, weil er auch zur Sicherheit seiner eigenen Person der Aufsicht bedürfe. In diesen Fällen dürfe man sich nicht mit polizeilichen Massnahmen begnügen, sondern es müsse die Vorsorge eines Vormundes hinzutreten" (Protokoll der Expertenkommission für das ZGB 1901/1902, S. 421). Da das Vormundschaftsrecht somit zur Wahrung privater Interessen erlassen wurde und in diesem Sinne privates Recht darstellt, schränkt es die Kantone nicht ein, im öffentlichen Interesse die zur Wahrung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit, insbesondere zur Verhütung von Verbrechen, erforderlichen Anordnungen zu treffen. Die verschiedenen Massnahmen des privaten und des öffentlichen Rechtes können in Konkurrenz zueinander treten. Es ist auch möglich, dass die Polizeibehörden im Einzelfall einzugreifen verzichten, wenn die Verfügung der Vormundschaftsbehörden das allgemeine Interesse genügend wahrt. Ob sie von eigenen Vorkehren absehen wollen oder nicht, bestimmen die Polizeiorgane. Der Bundesgesetzgeber hat weder diese Aufgabe den Vormundschaftsbehörden übertragen, noch die Polizeihoheit auf dem Gebiet des öffentlichen Interesses beschränken wollen. Kantonale Gesetze, wie das zürcherische Versorgungsgesetz, die zur Wahrung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit und zur Verhütung von Verbrechen die administrative Einweisung in Anstalten vorsehen, verstossen daher nicht gegen das schweizerische Zivilgesetzbuch. Das Bundesgericht hat sich bereits mehrfach in diesem Sinne ausgesprochen (vergl. die nicht veröffentlichten Urteile des Bundesgerichtes vom 22. No BGE 73 I 42 (47):
vember 1943 i.S. Duret und vom 20. Dezember 1935 i. S. Ott). Die Bemerkungen in Kommentar Egger über das Verhältnis zwischen dem Vormundschafts- und dem kantonalen Versorgungsrecht (Einleitung zum Vormundschaftsrecht N. 28, und N. 53 und 54 zur Art. 370 ZGB) führen keine Gründe an, die ein Abgehen von dieser Rechtsprechung zu rechtfertigen vermöchten.
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Das zürcherische Gesetz über die Versorgung von Jugendlichen, Verwahrlosten und Gewohnheitstrinkern vom 24. Mai 1925 ist nach dem Gesagten nicht bundesrechtswidrig, und es verletzt der darauf beruhende Entscheid des Regierungsrates vom 5. September 1946 Art. 2 der Üb. Best. zur BV daher nicht.
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(Das Bundesgericht hiess die Beschwerde dennoch gut, weil der Regierungsrat willkürlich angenommen habe, der Beschwerdeführer sei arbeitsscheu.)
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