BGE 85 I 204 |
33. Urteil vom 7. Oktober 1959 i.S. Kriemler gegen Kanton Graubünden und Steuerrekurskommission des Kantons Graubünden. |
Regeste |
Art. 4 BV. |
Grenzen der freien Rechtsfindung der Verwaltung und der Gerichte. Formelle Rechtsverweigerung durch überspitzten Formalismus, der die Durchführung des materiellen Rechts in unhaltbarer Weise erschwert (Erw. 3). |
Das bündnerische Steuerverfahren schliesst die kumulative Einsprache nicht aus (Erw. 2-5). |
Sachverhalt |
A.- Die Kreissteuerkommission Oberengadin schätzte Kriemler gestützt auf Art. 72 des bündnerischen Steuergesetzes (StG) vom 16. Dezember 1945/30. März 1952 in Veranlagungsverfügungen vom 19. und 22. September 1958 für die Steuerjahre 1957/1958 und 1955/1956 ein. Kriemler erhob am 17. Oktober in ein und derselben Eingabe gegen beide Veranlagungen Einsprache im Sinne des Art. 80 StG. Er beantragte, die Einschätzung des steuerbaren Erwerbs für die Steuerjahre 1955/1956 auf Fr. ...., jene für 1957/1958 auf Fr. .... herabzusetzen und für die letztgenannten Steuerjahre das Vermögen mit Fr. .... zu veranlagen. Die Kreissteuerkommission trat in zwei getrennten, sich je auf eine der Veranlagungen beziehenden Entscheiden vom 10. November 1958 auf die Einsprache nicht ein mit der Begründung, nach der ständigen Rechtsprechung der kantonalen Steuerrekurskommission sei eine Verbindung von Einsprachen nicht zulässig; jede Veranlagungsverfügung sei vielmehr für sich allein anzufechten. Da die Einsprache des Pflichtigen dieser Anforderung nicht gerecht werde, könne sie nicht an Hand genommen werden. |
Kriemler erhob in zwei Eingaben Steuerrekurs im Sinne des Art. 81 StG mit dem Begehren, es seien die Nichteintretensentscheide aufzuheben und die Steuern gemäss den in der Einsprache gestellten Anträgen zu veranlagen. Die Steuerrekurskommission des Kantons Graubünden hat die Rekurse in zwei Entscheiden vom 7. April/16. Juni 1959 abgewiesen. Sie hat dazu ausgeführt, wie sie wiederholt erkannt habe, folge schon aus dem Wortlaut des Art. 80 StG, dass der Steuerpflichtige nicht mehrere Veranlagungen in einer einzigen Einsprache anfechten könne. Das entspreche auch dem Sinn der "einschlägigen Vorschriften", verstiesse doch die Möglichkeit einer gesamthaften Anfechtung gegen den das bündnerische Steuerrecht beherrschenden Grundsatz der individuellen Einschätzung eines jeden Steuerpflichtigen für jede Veranlagungsperiode. Zudem sprächen "praktisch-technische" Gründe gegen die Zulassung der kumulativen Einsprache. Gemäss Art. 80 Abs. 3 StG habe der Einsprecher genau zu umschreiben, inwiefern die Veranlagungsverfügung abzuändern sei. Es sei nicht Sache der Einsprachebehörde, die Ausführungen einer kumulativen Rechtsschrift daraufhin zu untersuchen, was sich auf die eine und was sich auf die andere Steuerperiode beziehe. In der Eingabe des Rekurrenten vom 17. Oktober 1958 seien zwei Einsprachen dergestalt in unzulässiger Weise miteinander verbunden worden. Dem Steuerpflichtigen könne in Fällen wie dem vorliegenden keine Notfrist zur Ausarbeitung getrennter Eingaben eingeräumt werden. Ob der für das Rekursverfahren geltende Art. 82 Abs. 3 StG analog auf das Einspracheverfahren anzuwenden sei, könne offen bleiben, erlaube diese Bestimmung doch nur, die Rechtsbegehren oder die Begründung zu ergänzen, nicht aber, eine fehlende Rechtsschrift beizubringen. Die Kreissteuerkommission habe die Einsprache somit zu Recht nicht an Hand genommen. Nachdem die erste Instanz nicht auf die Sache eingetreten sei, könne die Steuerrekurskommission den Fall ihrerseits nicht materiell beurteilen, da dies einer Umgehung des Einspracheverfahrens gleichkäme. |
C.- Die Steuerverwaltung des Kantons Graubünden schliesst auf Abweisung der Beschwerden. Die Steuerrekurskommission hat auf Vernehmlassung verzichtet.
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Das Bundesgericht zieht in Erwägung: |
2. Gemäss Art. 80 des bündnerischen StG können der Steuerpflichtige und die Steuerverwaltung gegen alle im Gesetz vorgesehenen Veranlagungsverfügungen Einsprache erheben (Abs. 1). Die Einsprache ist innert dreissig Tagen seit der Mitteilung der Veranlagungsverfügung schriftlich bei der Veranlagungsbehörde einzureichen (Abs. 2). Dass "in der Einsprache die verlangten Abänderungen der Veranlagungsverfügung genau zu umschreiben und zu begründen" sind (Abs. 3), heisst, auf den vorliegenden Fall übertragen, nicht mehr, als dass der Einsprecher mit Bezug auf jede der angefochtenen Verfügungen einen besonderen Antrag zu stellen hat, der mit einer eigenen Begründung zu versehen ist. Art. 80 Abs. 3 StG spricht sich darüber hinaus weder ausdrücklich noch mittelbar dahin aus, dass die entsprechend abgefassten Anträge und Begründungen nicht in einer Eingabe vereinigt werden dürfen, sondern je in einer besonderen Eingabe vorzubringen seien. Entgegen der Ansicht der Steuerrekurskommission lässt sich der Ausschluss der kumulativen Einsprache somit weder auf den Wortlaut noch auf den Sinn der angeführten Gesetzesbestimmung stützen. |
Aus welchen andern "einschlägigen Vorschriften" sich dieses Verbot ergeben sollte, ist den angefochtenen Entscheiden und den darin angerufenen früheren Urteilen (Steuerrekurs-Praxis 1945-1957, Nr. 236, 237) nicht zu entnehmen. Die kantonale Steuerverwaltung verweist in diesem Zusammenhang auf Art. 68 StG, wonach die Vermögens- und Erwerbssteuern alle zwei Jahre veranlagt werden für eine Periode, die das Veranlagungs- und das folgende Jahr umfasst. Aus dieser Ordnung folgt indes lediglich, dass für jede Steuerperiode eine eigene Veranlagungsverfügung ergeht, die gegebenenfalls nach dem Gesagten zum Gegenstand einer besonderen Einsprache zu machen ist. Auch diese Bestimmung schliesst es mithin nicht aus, mehrere Einsprachen in einer einzigen Eingabe zusammenzufassen, sofern erkennbar bleibt, auf welche der verschiedenen angefochtenen Veranlagungsverfügungen sich die einzelnen Abänderungsanträge und deren Begründung beziehen.
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3. Das Verbot der kumulativen Einsprache beruht demnach nicht auf gesetzlicher Vorschrift; es ist vielmehr das Ergebnis freier Rechtsfindung der Verwaltungsrechtspflege. Die freie Rechtsfindung der Verwaltung und der Gerichte hat sich im Rechtsstaat darauf zu beschränken, im Sinn und Geist des Gesetzes da einzutreten, wo dieses eine Lücke aufweist. Das Gesetz spricht sich, wie dargelegt, nicht über die Statthaftigkeit oder Unzulässigkeit einer Verbindung von Einsprachen aus. Es enthält insofern eine Lücke. Die Art und Weise des vom Beschwerdeführer gerügten richterlichen Eingreifens wird jedoch dem Sinn und Geist des Gesetzes und dem durch Art. 4 BV gewährleisteten Rechtsschutzanspruch des Bürgers nicht gerecht. Die Steuerrekurskommission führt aus, "praktisch-technische" Gründe forderten das Verbot der kumulativen Einsprache, da es nicht Sache der Veranlagungsbehörde sein könne, "aus einer kumulativen Rechtsschrift die auf die verschiedenen Steuerperioden zutreffenden Argumentationen herauszusuchen". Vor eine unzumutbare Aufgabe sähe sich die Behörde indes nur dann gestellt, wenn sie eine Eingabe an Hand zu nehmen hätte, welche die Anträge und die Begründungen nicht deutlich genug nach den einzelnen angefochtenen Veranlagungsverfügungen auseinanderhält. Sind die Anträge und die Begründungen dagegen klar ausgeschieden, dann ergeben sich die behaupteten Schwierigkeiten nicht und es besteht kein Anlass, auf die kumulative Einsprache nicht einzutreten (vgl. BGE 85 I 196); namentlich kann deren Anhandnahme nicht schon deshalb verweigert werden, weil sich in anders gelagerten Fällen Schwierigkeiten ergeben könnten. Die gegenteilige Stellungnahme der kantonalen Instanz läuft auf einen überspitzten, mit keinen sachlichen Gründen zu rechtfertigenden Formalismus hinaus, der die Durchführung des materiellen Rechts in unhaltbarer Weise erschwert und daher einer formellen Rechtsverweigerung gleichkommt (vgl. BGE 46 I 304). |
4. Die streitige kumulative Einsprache bezieht sich auf die Veranlagungsverfügungen für die Steuerperioden 1955/1956 (Bemessungsjahre 1953/1954) und 1957/1958 (Bemessungsjahre 1955/1956). Sie enthält für jede Verfügung einen besonderen Antrag. Zur Begründung der Begehren auf Herabsetzung der Einschätzung des steuerbaren Erwerbs verweist sie auf eine Reihe von Tatsachen (Umsatz, Rohgewinn, Bildung und Auflösung stiller Reserven), die sie für die Bemessungsjahre 1953/1954 und 1955/1956 getrennt anführt. Hinsichtlich der Vermögenssteuer richtet sich die Einsprache ohnehin nur gegen die Veranlagung für die Steuerperiode 1957/1958. Die Veranlagungsbehörde sollte deshalb die in derselben Eingabe vereinigten Einsprachen ohne Mühe auseinanderhalten können. Ist dem aber so, dann ist deren Nichtanhandnahme nach dem in Erw. 3 Gesagten als formelle Rechtsverweigerung zu betrachten. Eine solche wird in der Beschwerde wenn auch nicht ausdrücklich, so doch dem Sinne nach unter Anrufung des Art. 4 BV geltend gemacht. |
5. Hätten sich Zweifel darüber erheben können, worauf sich die Anträge und die Begründungen beziehen, so wäre die Veranlagungsbehörde übrigens gleichfalls nicht befugt gewesen, die Eingabe ohne weiteres von der Hand zu weisen. Gemäss Art. 82 Abs. 3 StG sind Rekurse, die keinen Antrag oder keine Begründung enthalten, unter Ansetzung einer Notfrist von zehn Tagen zur Ergänzung an den Rekurrenten zurückzuweisen; erst wenn der Rekurs innert dieser Frist nicht ergänzt wird, ist nicht darauf einzutreten. Diese Regelung betrifft zwar nur den Rekurs. Da die Formvorschriften des Einspracheverfahrens nicht strenger gehandhabt werden dürfen als die des Rekursverfahrens (GILLI, Steuerjustiz nach bündnerischem Recht, S. 98), ist jedoch nicht einzusehen, warum das in Art. 82 Abs. 3 StG vorgesehene Verfahren nicht auch auf formell mangelhafte Einsprachen angewendet werden sollte. Wenn nach dieser Bestimmung der fehlende Antrag oder die fehlende Begründung eines Rekurses innert der Notfrist nachgebracht werden können, dann muss es einem Steuerpflichtigen erst recht gestattet sein, die in einem kumulativen Rekurs (oder einer kumulativen Einsprache) enthaltenen, inhaltlich vollständigen Anträge und Begründungen auf die verlangte Zahl von Rechtsschriften zu verteilen, falls die Klarheit und Verständlichkeit oder der Prozessgang dies erfordern (vgl. auch PERRET/MASSHARDT, Kommentar zur eidg. Wehrsteuer 1959-1964, S. 209 N. 3 hinsichtlich der entsprechenden Praxis der Wehrsteuerbehörden mit Bezug auf die kollektiven Einsprachen). Sollte die Kreissteuerkommission der Auffassung gewesen sein, die Anträge und deren Begründung seien nicht säuberlich genug nach den einzelnen angefochtenen Veranlagungsverfügungen ausgeschieden, so hätte sie demgemäss die Eingabe nicht sogleich von der Hand weisen dürfen; sie hätte dem Beschwerdeführer vielmehr Gelegenheit geben müssen, den beanstandeten formellen Mangel zu beheben. Unterliess sie das, so schnitt sie ihm in unzulässiger Weise den Rechtsweg ab; sie verweigerte ihm damit das rechtliche Gehör. Die Stellungnahme der Steuerkommission hält deshalb auch unter dieser Voraussetzung nicht vor Art. 4 BV stand. |
Demnach erkennt das Bundesgericht:
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