BGE 97 I 481 |
66. Auszug aus dem Urteil vom 15. September 1971 i.S. AG für Rechtsschutz in Fusionssachen gegen Ursina-Franck AG und Appellationshof des Kantons Bern. |
Regeste |
Anfechtung von Generalversammlungsbeschlüssen der Aktiengesellschaft (Art. 706 OR); vorsorgliche Verfügung gemäss Art. 32 Abs. 2 HRegV; kantonales Zivilprozessrecht; derogatorische Kraft des Bundesrechts; Willkür (Art. 4 BV). |
2. Der letztinstanzliche kantonale Entscheid über ein Gesuch um Erlass einer einstweiligen Verfügung gemäss Art. 326 Ziff. 3 bern. ZPO in Verbindung mit Art. 32 Abs. 2 HRegV ist ein Endentscheid im Sinne von Art. 87 OG (Erw. 1 b). |
3. Die Voraussetzungen einer vorsorglichen Massnahme gemäss Art. 32 Abs. 2 HRegV werden durch das kantonale Prozessrecht umschrieben; der kantonale Richter handelt nicht willkürlich, wenn er gestützt auf Art. 326 Ziff. 3 bern. ZPO annimmt, eine derartige Massnahme rechtfertige sich nur in denjenigen Fällen, in denen der anzuhebende Hauptprozess nach den glaubhaften Vorbringen des Gesuchstellers als aussichtsreich erscheine (Erw. 3). |
Sachverhalt |
A.- Die Verwaltungen der Ursina-Franck AG und der Nestlé-Alimentana AG beschlossen, ihren Aktionären die Fusion der beiden Gesellschaften vorzuschlagen. Dabei sollten die Aktionäre der Ursina-Franck AG eine neue Inhaberaktie der Nestlé-Alimentana AG (mit einer damit verbundenen neuen Stammaktie der Unilac Inc., Panama) für zwei Aktien der Ursina-Franck AG erhalten. Beabsichtigt war somit eine Fusion durch Übernahme sämtlicher Aktiven und Passiven der Ursina-Franck AG durch die Nestlé-Alimentana AG (Art. 748 OR). Der Fusionsvertrag zwischen den beiden Gesellschaften wurde am 25. bzw. 29. März 1971 unterzeichnet. Die Generalversammlung der Ursina-Franck AG fand am 5. Mai 1971 in Bern statt; sie stimmte dem Fusionsvertrag mit 336'298 von 347'486 gültigen Aktienstimmen zu. |
Am 12. Mai 1971 ersuchten die Nestlé-Alimentana AG und die Ursina-Franck AG den Gerichtspräsidenten III von Bern, den Handelsregisterführer des Amtsbezirks Bern anzuweisen, die von der ordentlichen Generalversammlung der Ursina-Franck AG am 5. Mai 1971 gefassten Beschlüsse über die Fusion mit der Nestlé-Alimentana AG im Handelsregister von Bern einzutragen. |
Am 17. Mai 1971 stellte jedoch die AG für Rechtsschutz in Fusionssachen (FUSAG), die sich dem Zusammenschluss an der Generalversammlung widersetzt hatte, beim Gerichtspräsidenten III von Bern das Gesuch um Erlass einer superprovisorischen Verfügung gemäss Art. 328 ZPO und einer einstweiligen Verfügung gemäss Art. 326 Ziff. 3 ZPO und Art. 32 Abs. 2 HRegV mit dem Begehren, es sei dem Handelsregisterführer von Bern die Eintragung der Generalversammlungsbeschlüsse der Ursina-Franck AG vom 5. Mai 1971 bis zur Beurteilung der von der Gesuchstellerin einzureichenden Klage und unter dem Vorbehalt, dass diese innert der gesetzlichen Frist eingereicht werde, zu untersagen.
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Der Gerichtspräsident III von Bern erliess hierauf am 18. Mai 1971 folgende vorsorgliche Verfügung:
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"Dem Gesuch der Gesuchstellerin um Erlass einer vorläufigen Massnahme im Sinne von Art. 328 ZPO wird entsprochen und dementsprechend dem Handelsregisterführer des Amtsbezirks von Bern die Eintragung der eintragungspflichtigen Generalversammlungsbeschlüsse der Gesuchsgegnerin vom 5. Mai 1971 bis zum Entscheid über das vorliegende Gesuch der Gesuchstellerin vom 17. Mai 1971 um Erlass einer einstweiligen Verfügung untersagt."
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Nachdem die Ursina-Franck AG in ihrer Vernehmlassung die Abweisung der Begehren der FUSAG beantragt hatte, wies der Gerichtspräsident das Gesuch um Erlass einer einstweiligen Verfügung am 12. Juli 1971 ab.
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B.- Gegen diesen Entscheid erklärte die FUSAG am 13. Juli 1971 die Appellation, wobei sie das vor dem Gerichtspräsidenten gestellte Begehren erneuerte. Am 15. Juli 1971 erhob sie gegen den erwähnten Entscheid des Gerichtspräsidenten III von Bern zudem staatsrechtliche Beschwerde, auf welche das Bundesgericht indessen mit Urteil vom 22. Juli 1971 nicht eintrat.
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Der Präsident der I. Zivilkammer des Appellationshofs des Kantons Bern legte der Appellation am 19. Juli 1971 die aufschiebende Wirkung bei.
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Mit Urteil vom 29. Juli 1971 wies der Appellationshof (I. Zivilkammer) das Gesuch der FUSAG um Erlass einer einstweiligen Verfügung ebenfalls ab. Ferner stellte er fest, die vom Gerichtspräsidenten III von Bern verfügte vorläufige Massnahme vom 18. Mai 1971 falle dahin. Die Begründung dieses Entscheids ergibt sich, soweit wesentlich, aus den nachfolgenden Erwägungen. |
C.- Gegen den Entscheid des Appellationshofs des Kantons Bern vom 29. Juli 1971 führt die FUSAG staatsrechtliche Beschwerde wegen Verletzung von Art. 4 BV. Mit ergänzender Eingabe vom 16. August 1971 macht sie ausserdem geltend, der angefochtene Entscheid verletze den Grundsatz der derogatorischen Kraft des Bundesrechts und verstosse deshalb gegen Art. 2 der Übergangsbestimmungen der BV. Die Begründung dieser Rügen ergibt sich, soweit erforderlich, aus den folgenden Erwägungen.
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Die Ursina-Franck AG beantragt die Abweisung der Beschwerde. Die I. Zivilkammer des Appellationshofes hat auf Gegenbemerkungen verzichtet, auf die Motive des angefochtenen Entscheides verwiesen und die Ausführungen der Beschwerdeführerin bestritten, soweit sie mit diesen Erwägungen in Widerspruch stehen.
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D.- Am 16. August 1971 legte die FUSAG gegen den angefochtenen Entscheid des Appellationshofs des Kantons Bern beim Bundesgericht ausserdem Berufung ein mit dem Antrag, "es sei dem Handelsregisterführer von Bern die Eintragung der eintragungspflichtigen Generalversammlungsbeschlüsse der Ursina-Franck AG vom 5. Mai 1971 bis zur Beurteilung der von der Berufungsklägerin einzureichenden Anfechtungsklage - unter dem Vorbehalt, dass diese innert der gesetzlichen Frist eingereicht wird - zu untersagen". Zur Begründung machte sie unter anderem geltend, der Appellationshof habe den Grundsatz der derogatorischen Kraft des Bundesrechts und damit Art. 2 der Übergangsbestimmungen der BV verletzt.
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Mit Urteil vom 3. September 1971 (BGE 97 II 185) trat die I. Zivilabteilung des Bundesgerichts auf die Berufung nicht ein, behandelte aber das Rechtsmittel als zivilrechtliche Nichtigkeitsbeschwerde im Sinne von Art. 68 OG und wies diese ab. Die Entscheidungsgründe ergeben sich, soweit im vorliegenden Verfahren wesentlich, aus den nachfolgenden Erwägungen.
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Aus den Erwägungen: |
1. a) Die am 4. August 1971 eingereichte staatsrechtliche Beschwerde stützt sich einzig auf Art. 4 BV. In ihrer ergänzenden Eingabe vom 16. August 1971 rügt die Beschwerdeführerin jedoch ausserdem eine Verletzung von Art. 2 der Übergangsbestimmungen der BV. Sie macht in diesem Zusammenhang geltend, der Appellationshof gehe zu Unrecht davon aus, dass die Voraussetzungen des Erlasses oder der Verweigerung der umstrittenen Handelsregistersperre allein durch das kantonale Recht umschrieben würden; diese Auffassung verstosse gegen Bundesrecht, denn die aufgrund des kantonalen Rechts erfolgte Verweigerung der begehrten vorsorglichen Massnahme mache das bundesrechtliche Institut der Anfechtungsklage gemäss Art. 706 OR illusorisch. |
Die staatsrechtliche Beschwerde wegen Verletzung verfassungsmässiger Rechte der Bürger ist nach Art. 84 Abs. 2 OG nur zulässig, wenn die behauptete Rechtsverletzung nicht sonstwie durch Klage oder Rechtsmittel beim Bundesgericht oder einer anderen Bundesbehörde gerügt werden kann. Sie ist somit unter anderem dann ausgeschlossen, wenn die behauptete Rechtsverletzung mit der eidgenössischen Nichtigkeitsbeschwerde in Zivilsachen (Art. 68 ff. OG) gerügt werden kann (BGE 63 II 399, BGE 82 I 66 Erw. 2, BGE 85 II 105 Erw. 1, 374; nicht veröffentlichte Urteile vom 18. März 1948 i.S. Grünenfelder und vom 6. Mai 1953 i.S. Arnold). In Zivilsachen, die nicht nach Art. 44-46 OG der Berufung unterliegen, ist gegen letztinstanzliche Entscheide kantonaler Behörden die Nichtigkeitsbeschwerde unter anderem zulässig, wenn statt des massgebenden eidgenössischen Rechts kantonales oder ausländisches Recht angewendet worden ist (Art. 68 Abs. 1 lit. a OG). Da der angefochtene Entscheid nicht berufungsfähig ist, konnte die Beschwerdeführerin die angebliche Missachtung der derogatorischen Kraft mit zivilrechtlicher Nichtigkeitsbeschwerde rügen. Das hat sie (unter unrichtiger Bezeichnung des Rechtsmittels) getan, und die I. Zivilabteilung des Bundesgerichts hat die Frage, ob der Appellationshof zu Unrecht kantonales Recht angewendet hat, geprüft und verneint. Dies hat zur Folge, dass auf die staatsrechtliche Beschwerde nicht eingetreten werden kann, soweit damit eine Verletzung von Art. 2 der Übergangsbestimmungen der BV gerügt wird (BGE 82 I 66 Erw. 2, BGE 85 II 105 Erw. 1, 374; BIRCHMEIER, Handbuch der Bundesrechtspflege, S. 252/3 und 335).
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b) Nach Art. 87 OG ist die staatsrechtliche Beschwerde wegen Verletzung von Art. 4 BV erst gegen letztinstanzliche Endentscheide zulässig, gegen letztinstanzliche Zwischenentscheide nur, wenn sie für den Betroffenen einen nicht wiedergutzumachenden Nachteil zur Folge haben. Nach der Rechtsprechung sind Entscheide von der Art des angefochtenen Urteils als Endentscheide anzusehen (BGE 96 I 300 Erw. 1; BIRCHMEIER, a.a.O., S. 354; vgl. auch BGE 94 I 368 /9). Die vorliegende Beschwerde wegen Verletzung von Art. 4 BV ist daher unter diesem Gesichtspunkt zulässig. |
c) ...
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a) Nach dem in Erw. 1 lit. a Gesagten ist davon auszugehen, dass die Voraussetzungen der fraglichen einstweiligen Verfügung durch das kantonale Recht umschrieben werden. Nach Art. 326 Ziff. 3 der bernischen ZPO kann der Richter auf Gesuch eines Beteiligten hin als vorsorgliche Massnahme eine einstweilige Verfügung treffen, sofern ihm glaubhaft gemacht wird, dass sich der Erlass einer solchen zum Schutz von andern als auf Geld- oder Sicherheitsleistungen gerichteten, fälligen Rechtsansprüchen rechtfertigt, "wenn bei nicht sofortiger Erfüllung
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a) ihre Vereitelung oder eine wesentliche Erschwerung ihrer Befriedigung zu befürchten ist,
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b) dem Berechtigten ein erheblicher oder nicht leicht zu ersetzender Schaden oder Nachteil droht."
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Vorsorgliche Massnahmen dienen in der Regel zur Sicherung eines behaupteten Rechts. Sie sollen verhindern, dass durch das Abwarten des im ordentlichen Prozess zu fällenden Entscheids einer Partei durch widerrechtliches Verhalten Schaden zugefügt wird (GULDENER, a.a.O., S. 382; ZIEGLER, Die vorsorgliche Massnahme in der Zivilprozessgesetzgebung der schweizerischen Kantone, Diss. Zürich 1944, S. 74/5). Mit dem Zweck der einstweiligen Verfügung ist ohne weiteres vereinbar, dass der Richter in vorläufiger und summarischer Weise prüft, ob der geltend gemachte materielle Anspruch besteht, die Klage mithin Aussicht auf Erfolg hat. Da die einstweilige Verfügung ihrem Wesen nach rasch zu erlassen ist, kann und braucht ihm nicht der Beweis dafür geleistet zu werden, dass die Klage tatsächlich begründet ist. Vielmehr genügt es, wenn der Gesuchsteller glaubhaft macht, dass die Klage Erfolgsaussichten hat. Misslingt dies, so ist -- wie ohne Willkür angenommen werden kann - auch nicht glaubhaft gemacht, dass die Massnahme zum Schutz eines fälligen Rechtsanspruchs dient, wie es Art. 326 Ziff. 3 ZPO voraussetzt. In der Rechtslehre wird denn auch die Ansicht vertreten, nach bernischem Recht habe der Gesuchsteller den Bestand des zu schützenden Anspruchs glaubhaft zu machen (LEUCH, N. 3 zu Art. 326 ZPO; vgl. auch ZIEGLER, a.a.O., S. 75, Anmerkung 66). |
b) Die Beschwerdeführerin macht geltend, im Zusammenhang mit der Anfechtung von Generalversammlungsbeschlüssen der hier in Frage stehenden Art gelte insoweit etwas Besonderes, als der Richter im Sinne einer einstweiligen Verfügung eine Handelsregistersperre erlassen müsse, da die Eintragung eines solchen Beschlusses "irreversible" Folgen zeitigen würde. Die Verweigerung einer derartigen Handelsregistersperre sei in einem solchen Fall nur haltbar, wenn die Anfechtungsklage als offenbar rechtsmissbräuchlich erscheine.
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Die Beschwerdeführerin behauptet nicht, dass sie nach der Eintragung des Fusionsbeschlusses im Handelsregister die Anfechtungsklage nicht mehr anheben könnte (vgl. Art. 748 Ziff. 7 OR) oder dass nach der Rechtsordnung dem Sachrichter nach dieser Eintragung die Möglichkeit verschlossen wäre, die angefochtenen Beschlüsse aufzuheben (vgl. BÜRGI, N. 71 zu Art. 706 OR). Richtig ist freilich, dass es mit erheblichen praktischen Schwierigkeiten verbunden wäre, wenn die Fusionsbeschlüsse in das Handelsregister eingetragen und im Anfechtungsprozess durch den Sachrichter die angefochtenen Beschlüsse der Ursina-Franck AG wieder aufgehoben würden (vgl. PATRY. L'action en annulation des décisions de l'assemblée générale, Journée juridique de Genève 1963, S. 28 ff; OKUR, L'action en annulation des décisions de l'assemblée générale des actionnaires dans la société anonyme, thèse Genève 1965, S. 125 ff.). Die Regel des Art. 326 ZPO, die allgemein gilt und keine Ausnahmen vorsieht, kann indessen auch im vorliegenden Fall ohne Willkür in dem Sinn angewendet werden, dass eine einstweilige Verfügung nur dann zu erlassen wäre, wenn die Beschwerdeführerin glaubhaft machen würde, dass ihre Klage Erfolgsaussichten hat. Auch der Ursina-Franck AG könnten bedeutende Nachteile erwachsen, wenn die Handelsregistereintragung verweigert und die Anfechtungsklage später abgewiesen würde (vgl. PATRY, a.a.O., S. 32). Da Gesetzgeber und Richter gleichmässig die Interessen beider Parteien zu berücksichtigen haben, erscheint es zumindest nicht unhaltbar, den Entscheid über die umstrittene Verfügung davon abhängig zu machen, ob die Klage bei vorläufiger Prüfung Erfolgsaussichten hat. Auch wenn sich die Auffassung vertreten liesse, die Verweigerung einer Handelsregistersperre rechtfertige sich nur im Falle des Rechtsmissbrauchs seitens des Anfechtungsklägers, so hielte der angefochtene Entscheid somit vor Art. 4 BV stand. |
Demnach erkennt das Bundesgericht:
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