BGE 122 I 236 - Althaus
 
32. Auszug aus dem Urteil der II. öffentlichrechtlichen Abteilung
vom 15. Juli 1996
i.S. Jorane Althaus gegen Einwohnergemeinde Mörigen und Erziehungsdirektion des Kantons Bern
(staatsrechtliche Beschwerde)
 
Regeste
Sprachenfreiheit, Art. 116 BV, Art. 4, 6, 15 KV/BE; Besuch einer französischsprachigen Schule durch Kinder, die in einer deutschsprachigen Gemeinde des Kantons Bern wohnen.
Verhältnis zwischen Sprachenfreiheit und Territorialitätsprinzip aufgrund von Art. 116 BV in der Fassung vom 10. März 1996. Die Sprachenfreiheit verpflichtet die Gemeinwesen nicht, für neu zugewanderte sprachliche Minderheiten einen Schulunterricht in deren Sprache anzubieten (E. 2).
Auch nach bernischem Verfassungs- und Gesetzesrecht hat ein in einer deutschsprachigen Gemeinde wohnhaftes Kind französischer Muttersprache keinen Anspruch auf (unentgeltlichen) Unterricht in französischer Sprache (E. 3).
Sofern aber eine andere Gemeinde freiwillig bereit ist, das Kind in einer französischsprachigen Schule aufzunehmen und die Eltern die daraus entstehenden finanziellen Konsequenzen tragen, ist es eine unverhältnismässige Einschränkung der Sprachenfreiheit, den Besuch einer deutschsprachigen Schule zu verlangen (E. 4).
 


BGE 122 I 236 (237):

Sachverhalt
A.
Jorane Althaus, geboren 1988, wohnt mit ihren Eltern in der deutschsprachigen Berner Gemeinde Mörigen. Ihr Vater ist deutscher, die Mutter französischer Muttersprache. Im Elternhaus wird französisch gesprochen. Jorane Althaus besuchte den (deutschsprachigen) Kindergarten in Mörigen. Im August 1995 wurde sie in der ersten Klasse der französischsprachigen Primarschule Mühlefeld in Biel eingeschult. Ihr Vater ersuchte nachträglich um Bewilligung, seine Tochter in dieser Schule belassen zu dürfen, und verpflichtete sich gleichzeitig, alle finanziellen Konsequenzen zu tragen. Der Gemeinderat Mörigen lehnte das Gesuch am 1. Dezember 1995 ab und verfügte, dass Jorane Althaus ab 8. Januar 1996 die Primarschule in Mörigen zu besuchen habe.
Jorane Althaus reichte dagegen am 28. Dezember 1995 Beschwerde bei der Erziehungsdirektion des Kantons Bern ein. Diese wies mit Entscheid vom 2. April 1996 die Beschwerde ab und verpflichtete Jorane Althaus, ab Schuljahr 1996/97 die Primarschule in Mörigen zu besuchen.
Jorane Althaus erhebt staatsrechtliche Beschwerde und beantragt, den Entscheid der Erziehungsdirektion aufzuheben.

BGE 122 I 236 (238):

Das Bundesgericht heisst die Beschwerde gut aus folgenden
 
Auszug aus den Erwägungen:
Erwägungen:
 
Erwägung 2
a) Nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung gehört die Sprachenfreiheit zu den ungeschriebenen Freiheitsrechten der Bundesverfassung (BGE 91 I 480 E. II.1 S. 485 f.; 100 Ia 462 E. 2a S. 465; 106 Ia 299 E. 2a S. 302; 121 I 196 E. 2a S. 198; ZBl 83/1982 S. 356 E. 1b S. 358). Sie ist zudem durch Art. 15 KV/BE ausdrücklich gewährleistet.
b) Die Sprachenfreiheit schützt den Gebrauch der Muttersprache (BGE 121 I 196 E. 2a S. 198) bzw. einer nahestehenden anderen Sprache (ZBl 83/1982 S. 356 E. 3b S. 361) oder allenfalls jeder Sprache, deren sich jemand bedienen will (GIORGIO MALINVERNI in Kommentar BV, Rz. 5 f. zur Sprachenfreiheit; JÖRG PAUL MÜLLER, Die Grundrechte der schweizerischen Bundesverfassung, Bern 1991, S. 82; RUDOLF VILETTA, Abhandlungen zum Sprachenrecht mit besonderer Berücksichtigung des Rechts der Gemeinden des Kantons Graubünden, Band I: Grundlagen des Sprachenrechts, Diss. Zürich 1978, S. 287; RUDOLF VILETTA, Die Regelung der Beziehungen zwischen den schweizerischen Sprachgemeinschaften, ZBl 82/1981 S. 193-217, 206). Soweit diese Sprache zugleich eine Landessprache der Schweiz ist, steht deren Gebrauch sodann unter dem Schutz von Art. 116 Abs. 1 BV (in der Fassung vom 10. März 1996, AS 1996 1492). Diese Bestimmung verbietet es den Kantonen insbesondere, Gruppen, die eine Landessprache sprechen, aber im Kanton eine Minderheit darstellen, zu unterdrücken oder in ihrem Fortbestand zu gefährden (BGE 106 Ia 299 E. 2a S. 302; 121 I 196 E. 2a S. 198).
c) Art. 116 BV gewährleistet nach der Rechtsprechung allerdings auch die überkommene sprachliche Zusammensetzung des Landes (Territorialitätsprinzip)(BGE 91 I 480 E. II.2 S. 486 f.; 106 Ia 299 E. 2a S. 303; 116 Ia 345 E. 5b/aa S. 349; ZBl 94/1993 S. 133 E. 4a; ARTHUR HAEFLIGER, Die Sprachenfreiheit in der bundesgerichtlichen Rechtsprechung, in: Mélanges Zwahlen, Lausanne 1977, S. 77-86, 78; DANIEL THÜRER, Zur Bedeutung des sprachenrechtlichen Territorialprinzips für die Sprachenlage

BGE 122 I 236 (239):

im Kanton Graubünden, ZBl 85/1984 S. 241-271, 248). Er steht damit in einem Spannungsfeld zur Sprachenfreiheit. Zwar ist das Territorialitätsprinzip kein verfassungsmässiges Individualrecht (nicht veröffentlichtes Urteil des Bundesgerichts i.S. R. vom 4. März 1993, E. 2b). Es stellt aber eine Einschränkung der Sprachenfreiheit dar und erlaubt den Kantonen, Massnahmen zu ergreifen, um die überlieferten Grenzen der Sprachgebiete und deren Homogenität zu erhalten, selbst wenn dadurch die Freiheit des einzelnen, seine Muttersprache zu gebrauchen, eingeschränkt wird. Solche Massnahmen müssen aber verhältnismässig sein (BGE 91 I 480 E. II.2 S. 486 f.; 106 Ia 299 E. 2a S. 303; 116 Ia 345 E. 6a S. 351 ff.; 121 I 196 E. 2a S. 198). Im Verkehr mit den Behörden ist die Freiheit des Sprachgebrauchs zudem eingeschränkt durch das Prinzip der Amtssprache (MALINVERNI, a.a.O., Rz. 16; CHARLES-ALBERT MORAND, Liberté de la langue et principe de territorialité. Variations sur un thème encore méconnu, ZSR 112/1993 I S. 11-36, 20, 28; MÜLLER, a.a.O., S. 82); vorbehältlich besonderer, namentlich staatsvertraglicher, Bestimmungen (z.B. Art. 5 Ziff. 2 und Art. 6 Ziff. 3 lit. a EMRK) besteht grundsätzlich kein Anspruch darauf, mit Behörden in einer anderen Sprache als der Amtssprache zu verkehren. Die Amtssprache steht ihrerseits in Beziehung zum Territorialitätsprinzip, indem sie normalerweise derjenigen Sprache entspricht, die im betreffenden Gebiet gesprochen wird.
d) Das Territorialitätsprinzip ist kein Selbstzweck. Es dient mehreren Zielen: Soweit staatliche Leistungen, insbesondere der unentgeltliche öffentliche Schulunterricht, zur Diskussion stehen, dient es zunächst dem Anliegen der Praktikabilität und der kostengünstigen Wahrnehmung öffentlicher Aufgaben. Infolge der zunehmenden Mobilität der Bevölkerung und der Zuwanderung zahlreicher Personen aus sehr unterschiedlichen Sprachgebieten wäre das Gemeinwesen finanziell rasch überfordert, wenn es öffentliche Leistungen, insbesondere den von Verfassungs wegen (Art. 27 BV) unentgeltlichen Schulunterricht, für sämtliche Sprachgruppen in deren eigener Sprache anbieten müsste. Das Territorialitätsprinzip gilt deshalb grundsätzlich auch für die Unterrichtssprache. In der öffentlichen Schule wird der Unterricht in der Regel in der Amtssprache des Einzugsgebiets erteilt. Nach der Rechtsprechung geben weder Art. 27 BV noch die Sprachenfreiheit einen Anspruch darauf, dass sprachliche Minderheiten in ihrer Muttersprache unterrichtet werden (BGE 91 I 480 E. II.2 S. 487; 100 Ia 462 E. 2 S. 465 f., und E. 4 S. 470 f.; VEB 40/1976 Nr. 37 S. 46 f.; MARCO BORGHI in Kommentar zur Bundesverfassung, Rz. 35 zu Art. 27;

BGE 122 I 236 (240):

CHRISTINE MARTI-ROLLI, La liberté de la langue en droit suisse, Thèse Lausanne 1978, S. 20). Diese Praxis wird in der Lehre teilweise kritisiert (MALINVERNI, a.a.O., Rz. 36, 38, 42, mit Hinweisen). Die Kritik ist insofern berechtigt, als das Territorialitätsprinzip in traditionell zwei- oder mehrsprachigen Gebieten das Verhältnis zwischen den Sprachen gerade nicht regeln kann. In solchen Gebieten kann sich deshalb aus der Sprachenfreiheit allenfalls ein Anspruch darauf ergeben, in einer der mehreren traditionellen Sprachen unterrichtet zu werden, sofern dies nicht zu einer unverhältnismässigen Belastung des Gemeinwesens führt (HAEFLIGER, a.a.O., S. 83; MORAND, a.a.O., S. 30; offen gelassen in BGE 100 Ia 462 E. 2b S. 466). Anders verhält es sich hinsichtlich von Sprachen, die nicht traditionell in einem Gebiet gesprochen werden (MORAND, a.a.O., S. 30). Es kann nicht im Belieben Privater stehen, in ein fremdsprachiges Gebiet zu ziehen und von den dortigen Behörden einen Unterricht in ihrer Sprache zu verlangen. Dadurch würden das Territorialitätsprinzip und die bestehende sprachliche Gliederung geradezu aus den Angeln gehoben. Wer in ein fremdes Sprachgebiet zieht, hat grundsätzlich die Konsequenzen zu tragen, die sich daraus ergeben. Infolgedessen ist daran festzuhalten, dass das Gemeinwesen nicht verpflichtet ist, für neu zugewanderte sprachliche Minderheiten einen Unterricht in deren Sprache anzubieten.
e) Nebst dem Anliegen einer kostengünstigen Wahrnehmung öffentlicher Aufgaben wird dem Territorialitätsprinzip aber auch die Funktion zugeschrieben, zur Erhaltung bedrohter Sprachen sowie zur Wahrung des Sprachfriedens und damit zum gesellschaftlichen Zusammenhalt beizutragen (BGE 121 I 196 E. 2b S. 199; EMILIO CATENAZZI, Libertà di lingua e lingua ufficiale, RDAT 1977, S. 269-274, 271; MARTI-ROLLI, a.a.O., S. 39 f.; MÜLLER, a.a.O., S. 80 f.; MICHEL ROSSINELLI, La question linguistique en Suisse: Bilan critique et nouvelles perspectives juridiques, ZSR 108/1989 I S. 163-193, 169; MICHEL ROSSINELLI, Protection des minorités linguistiques helvétiques et révision de l'article 116 de la Constitution fédérale, Gesetzgebung heute 1991/1, S. 45-68, 54). Dieses Ziel wird in der Schweiz herkömmlicherweise dadurch angestrebt, dass - abgesehen von traditionell zwei- oder mehrsprachigen Gebieten - Personen, die in ein anderssprachiges Gebiet ziehen, die dort gesprochene Sprache übernehmen. Insofern rechtfertigen sich zur Wahrung der sprachlichen Homogenität gewisse Einschränkungen der Sprachenfreiheit, auch soweit nicht staatliche Leistungen zur Diskussion stehen. So hat das Bundesgericht es als zulässig betrachtet, dass für Privatschulen der Gebrauch der Amtssprache

BGE 122 I 236 (241):

vorgeschrieben wird (BGE 91 I 480 E. II.3 S. 489 ff.). Gleicher Ansicht ist ein Teil der Lehre, welcher aus dem Territorialitätsprinzip folgert, dass Personen, die in ein fremdsprachiges Gebiet zuwandern, sich im öffentlichen Sprachgebrauch zu assimilieren haben (MARTI-ROLLI, a.a.O., S. 41; VILETTA, a.a.O. (1978), S. 342, (1981), S. 211 f.). Andere Lehrmeinungen betonen demgegenüber eher die individualrechtliche Sprachenfreiheit und sind der Ansicht, das Territorialitätsprinzip sei in Art. 116 BV nicht zwingend enthalten; gerade eine bewusste Politik der Mehrsprachigkeit könne der Förderung des sprachlichen Friedens dienen (MALINVERNI, a.a.O., Rz. 40; MÜLLER, a.a.O., S. 84 f.; ROSSINELLI, a.a.O. (1991), S. 54). In der Lehre lässt sich keine einhellige Auffassung über Bedeutung und Tragweite des Territorialitätsprinzips und seine Beziehung zur Sprachenfreiheit erkennen.
f) Die vom Eidg. Departement des Innern eingesetzte Arbeitsgruppe unter dem Vorsitz von Professor Saladin, welche den Auftrag hatte, eine Neufassung von Art. 116 BV zu formulieren, kritisierte in ihrem Bericht von 1989, dass sich das Territorialitätsprinzip in der bisherigen Praxis vorwiegend zu Lasten sprachlicher Minderheiten ausgewirkt habe (ARBEITSGRUPPE DES EDI, Zustand und Zukunft der viersprachigen Schweiz, Abklärungen, Vorschläge und Empfehlungen einer Arbeitsgruppe des Eidg. Departements des Innern, August 1989, S. 200, 348), und betonte eher die Bedeutung der Sprachenfreiheit (a.a.O., S. 206 ff., 366 f.). Aus dem Territorialitätsprinzip fliessende Einschränkungen der Sprachenfreiheit empfahl sie hauptsächlich zum Schutze der bedrohten Sprachen Italienisch und Rätoromanisch (a.a.O., S. 351 f., 365 ff.). Im Vernehmlassungsverfahren zum neuen Sprachenartikel in der Bundesverfassung beharrten indessen insbesondere die französischsprachigen Kantone auf einer strikten Anwendung des Territorialitätsprinzips (BBl 1991 II 332). Der Bundesrat schlug deshalb eine Formulierung vor, die sowohl die Sprachenfreiheit als auch das Territorialitätsprinzip erwähnte (BBl 1991 II 346). Der Ständerat als Erstrat strich die ausdrückliche Erwähnung der Sprachenfreiheit (AB StR 1992 S. 1044 ff.). Das wurde im Nationalrat als asymmetrisch betrachtet. Eine Minderheit schlug deshalb vor, wieder zum Antrag des Bundesrates zurückzukehren. Nach ausführlichen Debatten beschloss der Nationalrat jedoch angesichts der Schwierigkeiten, eine befriedigende Regelung zu finden, eine Formulierung, welche weder die Sprachenfreiheit noch das Territorialitätsprinzip ausdrücklich festlegte

BGE 122 I 236 (242):

(AB NR 1993 S. 1541 ff.). Diese Fassung wurde schliesslich in der Volksabstimmung vom 10. März 1996 angenommen.
g) Die ausführlichen Verhandlungen in der Bundesversammlung zeigen auf, dass das Spannungsverhältnis zwischen Sprachenfreiheit und Territorialitätsprinzip nicht leicht aufgelöst werden kann und auch heute geeignet ist, Emotionen zu wecken. Es kann davon ausgegangen werden, dass mit der neuen Fassung von Art. 116 BV weiterhin die beiden divergierenden Anliegen in einer differenzierten, den Anliegen des Sprachfriedens Rechnung tragenden Weise anzuwenden sind. Je bedrohter eine Sprache ist, desto eher sind Massnahmen zu ihrer Erhaltung und Eingriffe in die individuelle Sprachenfreiheit gerechtfertigt (AB NR 1993 S. 1544, Kommissionssprecher Bundi). Im übrigen ist es weitgehend eine Frage politischen Gestaltungsermessens, ob dem Ziel der Bewahrung bedrohter Sprachen und des Sprachfriedens eher mit der Erhaltung homogener Sprachgebiete oder eher mit einer bewussten Förderung der Mehrsprachigkeit gedient sei (MORAND, a.a.O., S. 31; ROSSINELLI, a.a.O. (1989), S. 191). Es gibt in der Schweiz traditionell zweisprachige Städte oder Gebiete, welche belegen, dass ein friedliches Zusammenleben von Angehörigen verschiedener Sprachen möglich ist. Umgekehrt gibt es zahlreiche Beispiele im In- und Ausland, wonach Verschiebungen von Sprachgrenzen oder Zuwanderungen von nicht assimilationswilligen Anderssprachigen durchaus zu Spannungen führen können.
h) Aufgrund von Art. 3 BV sind für die Regelung des Sprachgebrauchs primär die Kantone zuständig (BGE 100 Ia 462 E. 2a S. 465; 121 I 196 E. 2c S. 199 f.; ARBEITSGRUPPE EDI, a.a.O., S. 172 ff.; ANDREAS AUER, D'une liberté non écrite qui n'aurait pas dû l'être: la liberté de la langue, AJP 1992 S. 955-964, 961, 964; FRANÇOIS DESSEMONTET, Le droit des langues en Suisse, Québec 1984, S. 112 f.; MARTI-ROLLI, a.a.O., S. 18 f.; THÜRER, a.a.O., S. 254). Bundesverfassungsrechtliche Schranken ergeben sich einerseits daraus, dass es mit dem Territorialitätsprinzip nicht vereinbar wäre, die Sprachgrenzen bewusst und gewollt zu verschieben (BGE 100 Ia 462 E. 2b S. 466; ARBEITSGRUPPE EDI, a.a.O., S. 202; HAEFLIGER, a.a.O., S. 78; MALINVERNI, a.a.O., Rz. 28); insoweit schützt die Bundesverfassung die überlieferte sprachliche Gebietsaufteilung und damit auch die Homogenität traditionell einsprachiger Gebiete, insbesondere (aber nicht nur) wenn es sich dabei um gesamtschweizerische Minderheitssprachen handelt. Andererseits darf in traditionell zwei- oder mehrsprachigen Gebieten nicht

BGE 122 I 236 (243):

die eine Sprache unterdrückt werden; insoweit schützt die Sprachenfreiheit insbesondere die Sprache von regionalen Minderheiten (BGE 106 Ia 299 E. 2b/cc S. 305; ZBl 83/1982 S. 356 E. 3c/bb S. 362). Schliesslich darf auch der Gebrauch anderer Sprachen als der in einem bestimmten Gebiet traditionellerweise gesprochenen nicht unverhältnismässig beeinträchtigt werden; dabei sind umso einschneidendere Massnahmen zulässig, je bedrohter eine herkömmliche Sprache ist (vgl. BGE 116 Ia 345 E. 5b/cc S. 350; ARBEITSGRUPPE EDI, a.a.O., S. 237; HAEFLIGER, a.a.O., S. 80). Innerhalb dieser bundesverfassungsrechtlichen Schranken steht den Kantonen ein weiter Gestaltungsspielraum offen. Ob diese - wie in Lehre und Praxis teilweise angenommen (BGE 91 I 480 E. II.2 S. 486 f.; 116 Ia 345 E. 5b/aa S. 349; ZBl 94/1993 S. 133 E. 4a; CATENAZZI, a.a.O., S. 271; THÜRER, a.a.O., S. 256 ff.) - geradezu verpflichtet sind, für die Erhaltung des Territorialitätsprinzips zu sorgen, kann offenbleiben; jedenfalls sind sie dazu innerhalb der genannten Schranken berechtigt (BGE 116 Ia 345 E. 5b/cc S. 350). Es ist somit die rechtliche Lage im Kanton Bern zu untersuchen und anschliessend zu prüfen, ob diese allenfalls verfassungsmässige Rechte der Beschwerdeführerin verletzt.
 
Erwägung 3
3.- a) Art. 15 KV/BE gewährleistet ausdrücklich die Sprachenfreiheit. Gemäss Art. 6 Abs. 1 KV/BE sind das Deutsche und das Französische die bernischen Landes- und Amtssprachen. Art. 6 Abs. 2 KV/BE legt fest, dass im Berner Jura das Französische, im Amtsbezirk Biel das Deutsche und das Französische und in den übrigen Amtsbezirken das Deutsche die Amtssprachen sind. Damit ist implizit für amtliche Zwecke auf Bezirks- und Gemeindeebene das Territorialitätsprinzip verfassungsmässig festgelegt. In der Gemeinde Mörigen ist demzufolge das Deutsche von Verfassungs wegen Amtssprache. Gemäss Art. 6 Abs. 3 KV/BE können Kanton und Gemeinden besonderen Verhältnissen, die sich aus der Zweisprachigkeit des Kantons ergeben, Rechnung tragen. Diese Bestimmung erlaubt dem Kanton und den Gemeinden, in bestimmtem Umfang von dem in Abs. 2 festgelegten Territorialitätsprinzip abzuweichen; sie gibt jedoch keinen individualrechtlichen Anspruch auf eine solche abweichende Regelung, ebensowenig wie Art. 4 KV/BE, wonach unter anderem den sprachlichen Minderheiten besondere Befugnisse zuerkannt werden können.
b) Gemäss Art. 7 Abs. 1 VSG besucht jedes Kind die öffentliche Schule an seinem Aufenthaltsort; die Gemeinden können unter sich abweichende Vereinbarungen treffen. Zwischen der Gemeinde Mörigen und der Gemeinde Biel, in welcher die Beschwerdeführerin die Primarschule besuchen möchte,

BGE 122 I 236 (244):

besteht nach übereinstimmender Darstellung der Beteiligten für diese Schulstufe keine derartige Vereinbarung. Unbegründet ist der Vorwurf der Beschwerdeführerin, die Gemeinde Mörigen habe willkürlich gehandelt, indem sie den entsprechenden Vereinbarungsvorschlag der Gemeinde Biel abgelehnt habe. Nach dem klaren Wortlaut von Art. 7 Abs. 1 VSG liegt es in der Autonomie der Gemeinden, derartige Vereinbarungen abzuschliessen. Dass angeblich alle oder die meisten anderen deutschsprachigen Gemeinden in der Region Biel eine entsprechende Vereinbarung abgeschlossen haben, ändert nichts. Der Sinn der Autonomie liegt gerade darin, dass auch Lösungen zulässig sind, die von denjenigen abweichen, welche die anderen Gemeinden gewählt haben.
 
Erwägung 4
4.- a) Vorliegend hat sich nun freilich einerseits die Gemeinde Biel bereit erklärt, die Beschwerdeführerin in eine französischsprachige Schule aufzunehmen, sofern ihr das Schulgeld vergütet wird; andererseits haben sich die Eltern der Beschwerdeführerin bereit erklärt, für alle finanziellen Konsequenzen aufzukommen. Unter diesen Umständen bedeutet die angefochtene Verfügung, wonach die Beschwerdeführerin in Mörigen die Schule zu besuchen hat, eine Einschränkung der Sprachenfreiheit, die nicht durch das öffentliche Interesse an einer kostengünstigen Gestaltung des Schulwesens gerechtfertigt werden kann. Sie unterliegt den üblichen Voraussetzungen für Grundrechtseingriffe. Dabei prüft das Bundesgericht frei, ob Einschränkungen von Grundrechten verhältnismässig sind und einem überwiegenden öffentlichen Interesse entsprechen (WALTER KÄLIN, Das Verfahren der staatsrechtlichen Beschwerde, 2. A. Bern 1994, S. 185, mit Hinweisen). Nur auf Willkür hin prüft es die Auslegung und Anwendung von kantonalem Gesetzesrecht, sofern, wie vorliegend, kein besonders schwerer Eingriff zur Diskussion steht (KÄLIN, a.a.O., S. 175, 177, mit Hinweisen).
b) Nach Ansicht der Erziehungsdirektion erlaubt das Volksschulgesetz nicht, dass die Eltern mittels Übernahme des Schulgeldes den Schulort des Kindes bestimmen können. Es kann offenbleiben, ob diese Gesetzesauslegung - wie

BGE 122 I 236 (245):

die Beschwerdeführerin vorbringt - geradezu willkürlich ist. Auch wenn sie haltbar ist, fragt sich, ob es mit der Sprachenfreiheit vereinbar ist, den Besuch einer französischsprachigen Schule auch dann zu verbieten, wenn die Eltern die Kosten übernehmen. Dass Art. 27 BV einen unentgeltlichen Schulunterricht vorschreibt, ändert daran nichts, da dadurch der freiwillige Besuch einer entgeltlichen Schule nicht ausgeschlossen wird.
aa) Die Gemeinde hat ein legitimes Interesse daran, die Klassengrössen planen zu können. Allerdings ist eine Schulplanung nie genau möglich, da durch Wohnortswechsel immer Schwankungen in der Zahl der schulpflichtigen Kinder auftreten können. Doch wird die Planung zusätzlich erschwert, wenn die Wahl des Schulortes auch für die Einwohner der Gemeinde freigestellt wäre.
bb) Zudem ist denkbar, dass insbesondere in kleineren Gemeinden der Fortbestand einer Schule in Frage gestellt wird, wenn den Einwohnern freigestellt würde, ihre Kinder in einer anderen Gemeinde zur Schule zu schicken. Angesichts der erheblichen kulturellen und gesellschaftlichen Bedeutung, welche einer eigenen Schule für eine Gemeinde zukommt, stellt es durchaus ein haltbares öffentliches Interesse dar, wenn das Gesetz dafür sorgt, dass die in einer Gemeinde wohnhaften Kinder die dortige Schule besuchen.
cc) Ein allgemeines Recht der Kinder bzw. Eltern auf freie Wahl der ihnen zusagenden Schule kann daher nicht in Frage kommen. Hingegen ist fraglich, ob die genannten Interessen für eine Einschränkung der Sprachenfreiheit ausreichen. Dafür kommt hauptsächlich das allgemeine staatspolitische Interesse an der Erhaltung sprachlich homogener Gebiete in Betracht. Dieses Interesse ist - wie vorne ausgeführt - grundsätzlich haltbar und berechtigt. Auch soweit der Erhaltung sprachlicher Homogenität keine grosse Bedeutung beigemessen wird, erscheint es doch zumindest erwünscht, dass Binnenwandererfamilien eine zweisprachige Identität entwickeln, um zur sprachlichen Verständigung beizutragen (ARBEITSGRUPPE EDI, a.a.O., S. 96 f.). Das würde gefördert, wenn die Kinder von fremdsprachigen Zuwanderern,

BGE 122 I 236 (246):

die in der Familie ihre Muttersprache sprechen, durch den Schulbesuch an ihrem Wohnort auch die Ortssprache erlernen. Gerade eine solche Zweisprachigkeit wird von der Beschwerdeführerin bzw. ihren Eltern abgelehnt, indem sie nicht nur zu Hause, sondern auch in der Schule ihre französische Muttersprache sprechen will.
aa) Die Beschwerdeführerin macht keine persönlichen Gründe geltend, die für sie spezifisch eine Ausnahmebewilligung nahelegen würden. Sie bringt einzig vor, dass sie - bzw. ihre Eltern - einen Schulunterricht in französischer Sprache bevorzugen. Ihre Situation unterscheidet sich in nichts von derjenigen aller anderen Kinder französischsprachiger Eltern, die im deutschen Sprachgebiet wohnen - oder umgekehrt. Wird ihr der Besuch in einer französischsprachigen Schule in Biel bewilligt, so muss dasselbe allen anderen Kindern ebenfalls bewilligt werden, deren Eltern bereit sind, die entsprechenden Kosten auf sich zu nehmen.
bb) Im Lichte des Verhältnismässigkeitsprinzips muss ein Mittel, welches Grundrechte einschränkt, geeignet sein, den angestrebten legitimen Zweck zu erreichen. Es fragt sich, ob die Verpflichtung, die Schule am Aufenthaltsort zu besuchen, ein geeignetes Mittel ist, um einen legitimen Zweck zu erreichen.
cc) Das Territorialitätsprinzip verbietet absichtliche Veränderungen der Sprachgrenze (vorne E. 2h). Hingegen bezweckt es nicht eine Zementierung einmal bestehender Zustände. Es kann nicht natürliche Verschiebungen in der sprachlichen Zusammensetzung verhindern (MALINVERNI, a.a.O., Rz. 28; THÜRER, a.a.O., S. 249 f., 255). Auch soweit eine Assimilation und gesellschaftliche Integration fremdsprachiger Zuwanderer wünschbar erscheint, ist doch fraglich, inwieweit dies mit staatlichen Zwangsmassnahmen sinnvollerweise erreicht werden kann. Insofern ist anzuerkennen, dass dem Recht nur eine beschränkte Steuerungskraft gegenüber gesellschaftlichen Entwicklungen zukommen kann (AUER, a.a.O., S. 963; DESSEMONTET, a.a.O., S. 65 f.; MARTI-ROLLI, a.a.O., S. 67 f.). Beachtet die Rechtsordnung diese Beschränkung nicht, so kann längerfristig ein Widerspruch zwischen Recht und Lebenswirklichkeit entstehen, der seinerseits für den Sprachfrieden eine Gefahr darstellen könnte.
dd) Hinzu kommt, dass so oder so ein Besuch der Gemeindeschule in Mörigen letztlich nicht erzwungen werden kann. Der Besuch der staatlichen

BGE 122 I 236 (247):

Volksschule ist nämlich ohnehin nicht zwingend. Es stünde der Beschwerdeführerin frei, eine Privatschule zu besuchen (Art. 64 ff. VSG). Zwar hat das Bundesgericht entschieden, dass ein Kanton den Privatschulen vorschreiben kann, in der jeweiligen Amtssprache zu unterrichten (BGE 91 I 480 E. II.3b S. 491 ff.; dieser Entscheid wurde in der Lehre kritisiert, vgl. HAEFLIGER, a.a.O., S. 82; MALINVERNI, a.a.O., Rz. 33; MARTI-ROLLI, a.a.O., S. 58 ff.; MORAND, a.a.O., S. 24; LUZIUS WILDHABER, Der belgische Sprachenstreit vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte, in: Schweizerisches Jahrbuch für internationales Recht 26 (1969/70), S. 9-38, 37 f.). Der Kanton Bern kennt denn auch grundsätzlich eine entsprechende Regelung (Art. 66 Abs. 1 VSG). Er könnte jedoch aufgrund der gesetzlichen Lage nicht verhindern, dass die Beschwerdeführerin eine französischsprachige Privatschule im französischsprachigen Kantonsteil oder in Biel besucht. Schliesslich könnten die Eltern ihre Tochter privat auf französisch unterrichten (Art. 71 Abs. 1 VSG), anstatt sie in eine Schule zu schicken. Insofern der angefochtene Entscheid die Beschwerdeführerin hoheitlich verpflichtet, in Mörigen die Schule zu besuchen, ist er somit so oder so nicht haltbar. Es kann aufgrund der rechtlichen Situation nicht erzwungen werden, dass die Beschwerdeführerin effektiv auf deutsch unterrichtet wird.
ee) Könnte demnach eine private französische Schulung der Beschwerdeführerin ohnehin nicht verhindert werden, sofern die Eltern für das Schulgeld aufkommen bzw. das Kind selber unterrichten, kann Anknüpfungspunkt des Entscheides der Erziehungsdirektion einzig sein, dass es sich bei der Schule, welche die Beschwerdeführerin in Biel besuchen möchte, um eine öffentliche Schule handelt. Freilich dürfte es nach bernischem Recht nicht zulässig sein, dass eine Gemeinde generell ihre öffentliche Schule gleichsam wie eine Privatschule allen Interessierten gegen Bezahlung zur Verfügung stellt. Doch hat die Gemeinde Mörigen nach dem Gesagten keinen Anspruch darauf, dass die auf ihrem Gebiet wohnhaften Kinder ihre Schule besuchen. Sie hat deshalb kein rechtlich geschütztes Interesse, sich gegen einen Schulbesuch der Beschwerdeführerin in Biel zu wehren, solange ihr daraus keine Kosten oder sonstigen Nachteile erwachsen. Das angestrebte Ziel der sprachlichen Homogenität oder zumindest der Zweisprachigkeit kann durch den angefochtenen Entscheid kaum erreicht werden, während das finanzielle Interesse der öffentlichen Hand solange nicht berührt wird, als die Beschwerdeführerin bereit ist, die finanziellen

BGE 122 I 236 (248):

Konsequenzen des Schulbesuchs in Biel selber zu tragen. Die Gemeinde Mörigen tut auch nicht dar, dass der Bestand ihrer Primarschule durch den Schulbesuch von französischsprachigen Schülern in Biel gefährdet würde. Unter diesen Umständen erweist sich die Verpflichtung, in Mörigen die Schule zu besuchen, als ein durch kein überwiegendes öffentliches Interesse gerechtfertigter und daher unverhältnismässiger Eingriff in die Sprachenfreiheit.
 
Erwägung 5