BGE 137 I 8 - Fernsehinterview Pöschwies
 
2. Auszug aus dem Urteil der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung i.S. X. und Schweizerische Radio- und Fernsehgesellschaft SRG SSR idée suisse gegen Amt für Justizvollzug sowie Direktion der Justiz und des Innern des Kantons Zürich (Beschwerde in Strafsachen)
 
1B_292/2010 vom 23. Dezember 2010
 
Regeste
Medienfreiheit (Art. 17 BV); Filmaufnahmen in einer Strafanstalt mit einem Insassen.
Die Durchführung eines Fernsehinterviews in einer Strafanstalt fällt unabhängig vom konkreten Inhalt des Beitrags in den Schutzbereich der Medienfreiheit (E. 2.5).
Im Rahmen der gemäss Art. 36 BV vorzunehmenden Interessenabwägung sind die Interessen an einem sicheren und geordneten Strafvollzug wie auch allfällige Beeinträchtigungen von Rechten Dritter gegen das entgegenstehende Interesse der Beschwerdeführer als Medienschaffende am Porträtieren eines Anstaltsinsassen abzuwägen (E. 2.6).
 
Sachverhalt


BGE 137 I 8 (9):

A. X., Redaktor beim SF Schweizer Fernsehen, fragte das Amt für Justizvollzug des Kantons Zürich per E-Mail an, ob er mit Y., der gegenwärtig eine Freiheitsstrafe in der Strafanstalt Pöschwies verbüsst, ein Fernsehinterview durchführen dürfe. Am 12. Oktober 2009 beschied ihm das Amt für Justizvollzug ebenfalls mittels E-Mail, dass seinem Ansinnen nicht entsprochen werden könne. Am 23. Oktober 2009 ersuchte X. um eine rekursfähige Verfügung, worauf ihn das Amt für Justizvollzug am 28. Oktober 2009 aufforderte, ein unterschriebenes Gesuch mit Drehkonzept, Ausführungen zum Inhalt und der geplanten Umsetzung einzureichen. Dieser Aufforderung kam X. am 30. Oktober 2009 nach. Aus seinem Schreiben geht hervor, dass er für die Sendung "Reporter" ein Porträt über Y. erstellen und diesen in verschiedenen Lebenssituationen zeigen möchte. Mit Verfügung vom 30. November 2009 verweigerte das Amt für Justizvollzug X. die anbegehrte Bewilligung zum Besuch von Y. zwecks Durchführung eines Fernsehinterviews.
Gegen diese Verfügung rekurrierten X. und das SF Schweizer Fernsehen am 6. Januar 2010 bei der Direktion der Justiz und des Innern des Kantons Zürich (nachfolgend: Justizdirektion), welche den Rekurs am 25. März 2010 abwies.
Die von X. und dem SF Schweizer Fernsehen am 29. April 2010 gegen diese Verfügung erhobene Beschwerde wies das Verwaltungsgericht des Kantons Zürich mit Entscheid vom 15. Juli 2010 ab.
B. X. und die Schweizerische Radio- und Fernsehgesellschaft SRG SSR idée suisse, Zweigniederlassung SF Schweizer Fernsehen, führen mit Eingabe vom 3. September 2010 Beschwerde in Strafsachen und subsidiäre Verfassungsbeschwerde ans Bundesgericht. Sie beantragen, die Verfügung der Justizdirektion vom 25. März 2010 und der Entscheid des Verwaltungsgerichts vom 15. Juli 2010 seien aufzuheben.


BGE 137 I 8 (10):

Die Justizdirektion stellt Antrag auf Beschwerdeabweisung. Das Verwaltungsgericht beantragt, die Beschwerde sei abzuweisen, soweit darauf eingetreten werden könne.
Das Bundesgericht heisst die Beschwerde gut und weist die Sache zur neuen Beurteilung im Sinne der Erwägungen an die Vorinstanz zurück.
Aus den Erwägungen:
 
2.
Sie führen aus, in Anbetracht der Wächterfunktion der Medien müssten Strafanstalten für die Medien als grundsätzlich allgemein zugängliche Informationsquelle im Sinne von Art. 16 Abs. 3 BV gelten. Vom Schutzbereich der Informationsfreiheit erfasst würden mithin auch Interviews mit einem Anstaltsinsassen, weshalb deren Durchführung nur unter den Voraussetzungen von Art. 36 BV untersagt werden dürfe. Gleiches gelte in Bezug auf die Medienfreiheit gemäss Art. 17 BV, da mit der Verweigerung des Interviews der freie Nachrichtenfluss verhindert werde.
Die Vorinstanz habe es unterlassen zu prüfen, ob die Grundrechtseinschränkungen durch ein öffentliches Interesse gerechtfertigt und verhältnismässig seien. Zweck des ersuchten Interviews mit Y. sei, diesen in verschiedenen Lebenssituationen zu porträtieren. Ein überwiegendes Interesse der Strafanstalt, dieses Ansinnen zu verhindern, bestehe nicht. Insbesondere sei nicht plausibel dargelegt, dass die Durchführung eines Interviews den Zweck des Strafvollzugs gefährden würde. Die Abweisung des Gesuchs sei auch unverhältnismässig, könne doch allfälligen Sicherheitsbedenken dadurch Rechnung getragen werden, dass die Befragung unter Aufsicht im Besucherzimmer durchgeführt werde und die erstellten Aufnahmen von der Anstaltsleitung vor der Ausstrahlung vorvisioniert würden.
 
Erwägung 2.3
Die Informationsfreiheit garantiert das Recht, Nachrichten und Meinungen ohne Eingriffe der Behörden zu empfangen (Empfangsfreiheit). Des Weiteren umfasst die Informationsfreiheit den Anspruch, Informationen aus allgemein zugänglichen Quellen zu beschaffen (Freiheit der Informationsbeschaffung). Ob eine Informationsquelle im Sinne der Verfassungsbestimmung als allgemein zugänglich zu betrachten ist, bestimmt sich weitgehend nach der entsprechenden Umschreibung und Wertung durch den Verfassungs- und Gesetzgeber (BGE 127 I 145 E. 4c/aa S. 153 f.; KLEY/TOPHINKE, in: Die schweizerische Bundesverfassung, Kommentar, Bd. I, 2. Aufl. 2008, N. 31 zu Art. 16 BV; GIORGIO MALINVERNI, Meinungs-, Medien- und Informationsfreiheit, in: Handbuch der Grundrechte, Merten/Papier [Hrsg.], 2007, S. 389 f.; STÉPHANE WERLY, La protection du secret rédactionnel, 2005, S. 78 ff.; DENIS BARRELET, Les libertés de la communication, in: Verfassungsrecht der Schweiz, Thürer/Aubert/Müller [Hrsg.], 2001, S. 725 f.).
Die grundrechtlich geschützte Kommunikation umfasst grundsätzlich auch die freie Wahl der zur Berichterstattung eingesetzten technischen Mittel der Kommunikation und der journalistischen Darstellungsform (vgl. HERBERT BURKERT, in: Die schweizerische Bundesverfassung, a.a.O., N. 11 ff. zu Art. 17 BV; DENIS BARRELET, a.a.O., S. 727 ff.). Es liegt im Ermessen der Medienschaffenden, wie sie ein bestimmtes Thema journalistisch umsetzen (Reportage, Hintergrundbericht, Interview usw.). Die Behörden dürfen nicht an

BGE 137 I 8 (12):

Stelle der Journalisten darüber befinden, welche journalistische Darstellungsform einem bestimmten Thema angemessen ist (FRANZ ZELLER, Öffentliches Medienrecht, 2004, S. 108).
2.5 Die Freiheit der Medien gehört zu den zentralen Ausprägungen des allgemeinen Grundrechts freier Meinungsäusserung. Normativer Kern der Medienfreiheit ist die Sicherung des ungehinderten Nachrichtenflusses und des freien Meinungsaustauschs. Geschützt ist die Recherchetätigkeit der Journalisten zur Herstellung von Medienerzeugnissen und zu deren Verbreitung in der Öffentlichkeit. Die damit vermittelte Freiheit des Medienschaffens ist nicht Selbstzweck. Vielmehr hat der ungehinderte Fluss von Informationen und Meinungen in einem demokratischen Rechtsstaat eine wichtige gesellschaftliche und politische Bedeutung. Den Medien kommt als Informationsträger die Funktion eines Bindeglieds zwischen Staat und Öffentlichkeit zu. Zugleich leisten die Medien einen wesentlichen Beitrag zur Kontrolle behördlicher Tätigkeiten. Um ihre Kontrollfunktion wirksam ausüben zu können, sind die Medien auf möglichst ungehinderten Zugang zu Informationen angewiesen. Der Informationszugang sorgt für Transparenz, was eine demokratische Kontrolle durch das Volk erst ermöglicht. Wird Medien der Einblick in gewisse Bereiche staatlichen Handelns verwehrt, öffnet dies Raum für Spekulationen und fördert das Misstrauen in staatliche Macht. Staatliche Beschränkungen der journalistischen Freiheit in der Phase der Informationsbeschaffung sind daher rechtfertigungsbedürftig und müssen die Eingriffsvoraussetzungen von Art. 36 BV wahren (vgl. zum Ganzen MÜLLER/SCHEFER, Grundrechte in der Schweiz, 4. Aufl. 2008, S. 438 ff.).
Vom Schutz der Medienfreiheit erfasst wird dabei grundsätzlich jegliche Form der journalistischen Informationsbeschaffung, unabhängig davon, ob die Informationen allgemein zugänglich sind oder nicht (CHRISTIAN VON COELLN, Zur Medienöffentlichkeit der Dritten

BGE 137 I 8 (13):

Gewalt, Tübingen 2005, S. 245 und S. 259) und ob der Beitrag legitime Informationsinteressen verfolgt oder nicht. Selbst Beiträge, welche lediglich der Unterhaltung, Sensationsgier oder Effekthascherei dienen, fallen in den grundrechtlichen Schutzbereich. Die Wertigkeit einer Publikation wird verfassungsrechtlich erst dann bedeutsam, wenn es gilt, entgegenstehende Eingriffsinteressen wie zum Beispiel den Schutz der öffentlichen Sicherheit gegen die Medienfreiheit abzuwägen (ZELLER, a.a.O., S. 107 f.).
Die Durchführung eines Fernsehinterviews in einer Strafanstalt fällt folglich unabhängig vom konkreten Inhalt des Beitrags in den Schutzbereich der Medienfreiheit (AXEL TSCHENTSCHER, Die staatsrechtliche Rechtsprechung des Bundesgerichts in den Jahren 2005 und 2006, ZBJV 142/2006 S. 770 f.). Die von der Vorinstanz zitierte Lehrmeinung, wonach sich aus der Medienfreiheit kein unmittelbarer staatlicher Leistungsanspruch ableiten lasse, ist aus dem Kontext gerissen, beziehen sich diese Ausführungen doch darauf, dass angesichts der Frequenzknappheit kein Anspruch von Radio und Fernsehen auf Zulassung als Veranstalter bestehe (BURKERT, a.a.O., N. 18 zu Art. 17 BV mit Hinweis auf Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte Demuth gegen Schweiz vom 5. November 2002, Recueil CourEDH 2002-IX S. 21 §§ 47 ff.).
Zusammenfassend bedeutet die Abweisung des Gesuchs der Beschwerdeführer um Durchführung eines Interviews einen Eingriff in die Medienfreiheit.
Die Vorinstanz hat den Schutzbereich der Medienfreiheit zu Unrecht nicht als tangiert erachtet und daher fälschlicherweise von einer Prüfung der Voraussetzungen von Art. 36 BV abgesehen. Diese Überprüfung hat die Vorinstanz nachzuholen, mithin insbesondere zu klären und zu begründen, ob - und falls ja weshalb - der Eingriff in die Medienfreiheit durch ein überwiegendes öffentliches Interesse bzw. den Schutz von Grundrechten Dritter gerechtfertigt ist und den

BGE 137 I 8 (14):

Verhältnismässigkeitsgrundsatz wahrt. Im Rahmen der Interessenabwägung sind namentlich die Interessen an einem sicheren und geordneten Strafvollzug bzw. an der Gewährleistung des Haftzwecks wie auch allfällige Beeinträchtigungen von Rechten Dritter - wie Anstaltsinsassen, des Personals aber auch von Opfern und deren Angehörigen - gegen das entgegenstehende Interessen der Beschwerdeführer als Medienschaffende am Porträtieren eines Anstaltsinsassen abzuwägen, wobei die Vorinstanz insoweit das konkrete Filmprojekt näher zu würdigen hat. Bei der Verhältnismässigkeitsprüfung ist insbesondere zu klären, ob allfälligen Sicherheitsbedenken dadurch hinreichend Rechnung getragen werden kann, dass - wie von den Beschwerdeführern vorgeschlagen - das Interview unter Aufsicht im Besucherzimmer durchgeführt wird und die erstellten Aufnahmen von der Anstaltsleitung vor der Ausstrahlung vorvisioniert werden können.
Das Bundesgericht hatte sich in einem ähnlich gelagerten Fall (Beschwerde des Schweizer Fernsehens gegen die Abweisung des Gesuchs um Durchführung eines Fernsehinterviews mit einer Anstaltsinsassin) näher mit der Informationsfreiheit auseinandergesetzt und erwogen, Strafanstalten seien nicht allgemein zugänglich, weshalb dem Schweizer Fernsehen die Berufung auf die Informationsfreiheit nicht zu einem Zugang zur Anstalt zu verhelfen vermöge (Urteil des Bundesgerichts 1P.772/2005 vom 6. Februar 2006 E. 2, in: ZBl 107/2006 S. 583).
Dieser Entscheid ist in der Lehre auf Kritik gestossen (vgl. TSCHENTSCHER, a.a.O., welcher insbesondere kritisiert, dass sich das Bundesgericht nicht mit der Medienfreiheit befasst hat; YVO HANGARTNER, Verweigerung eines Fernsehinterviews mit der Insassin einer Strafanstalt, AJP 2006 S. 742, nach dessen Ansicht der Schutzbereich der Informationsfreiheit betroffen ist; PETER STUDER, Verbotenes TV-Interview im Gefängnis, Medialex 2006 S. 107, welcher eine Ungleichbehandlung zwischen dem Fernsehen und den Printmedien moniert). Gefordert wird die Anerkennung eines erweiterten Schutzbereichs der Informationsfreiheit. Die Beschränkung auf allgemein zugängliche Quellen erscheine unbefriedigend und heute kaum mehr gerechtfertigt, denn die für ein demokratisches Gemeinwesen

BGE 137 I 8 (15):

unerlässliche Transparenz lasse sich dort kaum sicherstellen, wo der Staat das Ausmass seiner Informationstätigkeit im Wesentlichen selber bestimme und mit seinem Entscheid über die öffentliche Zugänglichkeit zugleich den Schutzbereich des Grundrechts der Informationsfreiheit selbst abschliessend festlege (vgl. MÜLLER/SCHEFER, a.a.O., S. 523 und S. 537 f. mit Hinweisen).
Angesichts der Ausführungen zur Medienfreiheit in E. 2.5 und 2.6 hiervor und der erwähnten Kritik in der Lehre erscheint es zweifelhaft, ob an der Rechtsprechung zur Informationsfreiheit gemäss dem Urteil 1P.772/2005 vom 6. Februar 2006 (in: ZBl 107/2006 S. 583) festgehalten werden kann. Diese Frage braucht vorliegend indessen nicht entschieden zu werden, da, wie dargelegt, das Gesuch in den Schutzbereich der Medienfreiheit fällt und die im Rahmen von Art. 36 BV vorzunehmende Interessenabwägung und Verhältnismässigkeitsprüfung dieselbe bleibt, unabhängig davon, ob dies unter dem Titel der Informations- oder der Medienfreiheit geschieht. Anders würde es sich dann verhalten, wenn das Gesuch um Zugang zu einer Strafanstalt von einer Privatperson gestellt würde, da sich diese nur auf die Informations-, nicht aber auf die Medienfreiheit berufen könnte.