BGE 39 II 173 - Martha Niggli
 


BGE 39 II 173 (173):

34. Urteil
der II. Zivil-Abteilung in Sachen Niggli, Kl. u. Ber.-Kl., gegen Heß, Bekl. u. Ber.-Bekl.
 
Regeste
Elternrechte bei der Ehescheidung (Art. 156 ZGB). Auch demjenigen Elternteil, dessen Verhalten während der Ehe nicht einwandfrei war, steht ein Recht auf persönlichen Verkehr mit dem oder den Kindern zu.
 
Sachverhalt
 
A.
Am 22. Dezember 1911 ist durch Urteil des Bezirksgerichts Zürich V. Abteilung die bis dahin zwischen den Litiganten bestandene Ehe gänzlich geschieden und dabei folgende Parteivereinbarung geschützt worden:


    BGE 39 II 173 (174):

    "... Das aus der Ehe hervorgegangene Kind Marta wird dem Vater Artur Niggli zur Pflege und Erziehung überlassen. Die Mutter hat aber das Recht, dasselbe mindestens an zwei Nachmittagen in der Woche und jeden zweiten Sonntag bei sich zu haben. Ferner soll es die Hälfte der jeweiligen Ferien bei seiner Mutter verbringen."
Dieses Urteil ist in Rechtskraft erwachsen.
 
B.
Im November 1912 hat sich die Beklagte mit einem Richard Heß, dessen Ehe am 27. September 1912 ebenfalls geschieden worden war, wiederverheiratet. Im Hinblick auf diese Heirat ist am 30. Oktober 1912 die vorliegende Klage eingereicht worden, mit dem Antrag auf Abänderung des Scheidungsurteils in dem Sinne, daß die Beklagte nur mehr berechtigt sein solle, das Kind "pro Monat je den ersten Sonntag und in den Frühjahrs- oder Sommerferien zusammenhängend 14 Tage" bei sich zu haben.
 
C.
Durch Beschluß vom 19. April 1913 hat das Obergericht des Kantons Zürich (I. Appellationskammer) das "Gesuch" abgewiesen.
 
D.
Gegen dieses Urteil hat der Kläger die Berufung an das Bundesgericht ergriffen mit dem Antrag:
    "Es sei das Besuchsrecht der Berufungsbeklagten mit Bezug auf die Tochter der Streitparteien, Martha Niggli, einzuschränken auf monatlich einen Besuch, je am ersten Sonntag jedes Monats, und das Besuchsrecht während der Ferien gänzlich aufzuheben, event. auf 14 Tage im Jahr einzuschränken."
 
E.
In der heutigen Verhandlung hat der Kläger außerdem den Eventualantrag gestellt, es möchten die Besuche des Kindes bei der Beklagten auf einen Nachmittag per Woche und jeden dritten Sonntag beschränkt werden. Endlich hat er, ebenfalls eventuell, Rückweisung der Sache an die Vorinstanz beantragt, behufs Beibringung von Briefen des Heß, aus denen hervorgehen soll, daß die Beklagte und ihre Mutter den Heß, wie Frau Heß sich ausdrückt, "eingezogen" haben.
 
Erwägungen
Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
 
Erwägung 1
1. Da mit dem angefochtenen "Beschluß" über einen materiellrechtlichen Anspruch entschieden, und zwar, von der Möglichkeit

BGE 39 II 173 (175):

der Berufung an das Bundesgericht abgesehen, endgültig entschieden worden ist, dieser "Beschluß" somit in Wirklichkeit ein Urteil und zwar ein Haupturteil im Sinne des Art. 58 OG darstellt, so erscheint die vorliegende Berufung, mit welcher eine Verletzung eidgenössischen Rechts geltend gemacht wird, als zulässig.
 
Erwägung 2
2. Es könnte sich fragen, ob nach der Darstellung des Klägers überhaupt eine "Veränderung der Verhältnisse" im Sinne des Art. 157 ZGB vorliege. Denn die, allerdings seit dem Scheidungsurteil eingetretene Wiederverheiratung der Beklagten scheint für den Kläger weniger ein selbständiger Grund zur Abänderung des Scheidungsurteils vom Jahre 1911, als vielmehr ein Mittel zum Zwecke des Nachweises früherer Vorgänge zu sein, welche darauf hindeuten sollen, daß der Scheidungsrichter, wie übrigens auch der Kläger selbst, sich in Bezug auf den Charakter der Beklagten geirrt habe; zur Geltendmachung von Revisionsgründen ist aber die in Art. 157 ZGB vorgesehene Klage nicht bestimmt.
Indessen erscheint die Berufung auch dann als unbegründet, wenn die auf die Zeit vor der Scheidung bezüglichen, vom Kläger gegen die Beklagte erhobenen Vorwürfe berücksichtigt werden. Nachdem nämlich die Vorinstanz in nicht aktenwidriger Weise festgestellt hat, daß für die Zeit vor der Scheidung bloß "freundschaftliche" Beziehungen zwischen der Beklagten und ihrem jetzigen Ehemann nachgewiesen seien, kommt von jenen Vorwürfen eigentlich nur noch derjenige der "mangelnden Wahrhaftigkeit" in Betracht, der vom Kläger damit begründet wird, daß die Beklagte ihm ihre freundschaftlichen Beziehungen zu Heß sowohl während des Scheidungsprozesses, als auch schon vorher "verheimlicht" habe. Hierin kann nun aber ein genügender Grund zur Aufhebung oder Einschränkung des der Beklagten von Gesetzes wegen zustehenden Rechtes auf angemessenen persönlichen Verkehr mit ihrem Kinde nicht erblickt werden -- ganz abgesehen davon, daß für die Beklagte während des Scheidungsprozesses doch wohl kaum eine Verpflichtung bestand, dem Kläger, also ihrem Prozeßgegner, von sich aus Mitteilungen über ihre Beziehungen zu einem Dritten zu machen.
Im übrigen mag es richtig sein, daß das Verhalten der Be


BGE 39 II 173 (176):

klagten, so wie es sich aus den Akten ergibt, zu Kritik Anlaß bietet. Allein abgesehen davon, daß der Kläger ebenfalls gewisse Fehler begangen hat, ist in grundsätzlicher Beziehung davon auszugehen, daß auch demjenigen Elternteil, dessen Verhalten während der Ehe nicht einwandfrei war, ein Recht auf persönlichen Verkehr mit dem oder den Kindern zusteht, da ja sonst die Bestimmung des Art. 156 Abs. 3 ZGB in den meisten Scheidungsfällen überhaupt unanwendbar wäre. Das Bundesgericht hat denn auch bereits entschieden (Praxis I Nr. 267 [Fn. *: AS 38 II S. 439 f. [= BGE 38 II 439].]), daß sogar im Falle der Scheidung der Ehe wegen Ehebruchs dem schuldigen Teil unter Umständen, d.h. wenn das Interesse der Kinder nicht entgegensteht, geradezu das Erziehungsrecht zugesprochen werden kann. Um so weniger darf daher in einem Falle wie dem vorliegenden, wo kein Ehebruch nachgewiesen ist und auch sonst nach der eigenen Darstellung des Klägers nichts besonders gravierendes vorgekommen ist, der eine Ehegatte nahezu vollständig seines Rechtes auf persönlichen Verkehr mit seinem Kinde beraubt werden. Was aber die weitere Frage betrifft, ob es sich unter den gegebenen Verhältnissen rechtfertige, daß das Kind Martha jeden zweiten, oder jeden dritten, oder vielleicht nur jeden vierten Sonntag bei seiner Mutter zubringe, und ob der entsprechende Ferienaufenthalt auf jährlich zwei Wochen, oder aber auf die Hälfte der Dauer der Schulferien anzusetzen sei u.s.w., so hat das Bundesgericht keinen Anlaß zu einer Abänderung der von der Vorinstanz getroffenen Regelung.
 
Demnach hat das Bundesgericht
erkannt:
Die Berufung wird abgewiesen und das Urteil der I. Appellationskammer des Obergerichts des Kantons Zürich vom 19. April 1913 bestätigt.