BGE 61 II 31 - Alpenrose
 


BGE 61 II 31 (31):

8. Urteil der I. Zivilabteilung
vom 5. Februar 1935 i.S. S. gegen W.
 
Regeste
Aktenwidrigkeitsrügen sind in der Berufungserklärung anzubringen; der blosse Vorbehalt, solche an der mündlichen Verhandlung geltend zu machen, genügt nicht. Art. 67 Abs. 2 OG.
Übervorteilung durch Ausbeutung des Leichtsinnes; Abgrenzung von Tat und Rechtsfrage. Art. 21 OR.
 
Sachverhalt
 
A.
Der Kläger, der 65 jährige Witwer W., trat im April 1933 mit der Beklagten, Frau S., die damals Witwe war und 43 Jahre zählte, auf Grund eines von ihr erlassenen Heiratsinserats in Verbindung. Er fand an ihr Gefallen und verliebte sich bald in sie. Die Beklagte verlangte, dass der Kläger ihr der Heirat vorgängig ihre Wirtschaft "Alpenrose" in Niederurnen zum Preise von 65,000 Fr. abkaufe. Da der Assekuranzwert der Liegenschaft lediglich 32,800 Fr. betrug, fand der Kläger den Preis anfänglich etwas hoch; es gelang der Beklagten jedoch, seine Bedenken zu zerstreuen. Der Kaufvertrag wurde am 31. Mai 1933 von Dr. M. in Glarus zu einem Kaufpreis von 62,000 Fr. öffentlich beurkundet. In Wirklichkeit betrug der Kaufpreis 65,000 Fr.; die Differenz von 3000 Fr. hatte der Käufer bar bezahlt: Nachdem die Beklagte am Tag zuvor mit ihm beträchtlich getrunken hatte, hatte sie ihn um Mitternacht veranlassen können, ihr 4 Obligationen von zusammen 20,000 Fr. und 3000 Fr. in Banknoten zu übergeben, die sie in ihrem Schranke einschloss; am Morgen gab sie ihm auf sein Drängen zwar die Obligationen, nicht aber auch die Noten, zurück. Der verurkundete Kaufpreis von 62,000 Fr. wurde getilgt durch Übernahme der Grundpfandschulden von 26,000 Fr., Er

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richtung eines Inhaberschuldbriefes von 16,000 Fr. und Übergabe der Erwähnten 4 Obligationen von 20,000 Fr.
Zur gleichen Zeit, als die Kaufsunterhandlungen über die Liegenschaft gepflogen wurden, verlangte die Beklagte vom Kläger vor der Heirat den Abschluss eines für sie günstigen Ehe- und Erbvertrages. Der Kläger ging auch hierauf ein, und am 11. September 1933 wurde wiederum vor Dr. M. als Urkundsperson ein öffentlich beurkundeter Ehe- und Erbvertrag abgeschlossen, in dem gemäss einem am 19. Mai 1933 von der Beklagten an den Kläger gesandten Vertragsentwurf zwischen den zukünftigen Ehegatten die Gütertrennung vereinbart und das Vermögen des Klägers nach Möglichkeit der Beklagten, eventuell deren Kindern aus erster Ehe, zugewendet wurde, während der Kläger auf jede erbrechtlichen Ansprüche am Vermögen der Beklagten verzichtete.
Der Eheabschluss erfolgte am 30. September 1933. Schon am 28. Februar 1934 reichte der Ehemann Scheidungsklage ein. Mit Urteil vom 13./14. Juli 1934, das in Rechtskraft erwachsen ist, sprach das Zivilgericht des Kantons Glarus die Scheidung auf Grund von Art. 142 ZGB aus. In der Begründung wird gesagt, die Beklagte habe weniger einen Ehemann, als Geld gesucht, und habe es verstanden, den in einer seelischen Bedrängnis befindlichen alten Witwer zu blenden und nach jeder Richtung auszunützen. Die Beklagte wurde auch zur Rückgabe der 3000 Fr. verpflichtet, die sie an sich genommen hatte, da das Gericht auf den verurkundeten Kaufpreis von 62,000 Franken abstellte und der Angabe der Beklagten, die 3000 Fr. seien als Barzahlung auf den Kaufpreis von 65,000 Fr. bezahlt worden, keinen Glauben schenkte.
 
B.
Mit Klage vom 21. März 1934 hat W. sodann die Begehren gestellt, der Kaufvertrag vom 31. Mai 1933 sei nichtig, eventuell unverbindlich zu erklären und die Beklagte sei zur Rückerstattung der bezahlten 20,000 Fr. nebst sämtlichen Kosten zu verpflichten. Die Beklagte hat die Abweisung der Klage beantragt.
 


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C.
Die beiden kantonalen Instanzen haben die Klage gutgeheissen; das Obergericht ist in seinem Urteil vom 22./29. Oktober 1934 zum Schutz der Klage gelangt unter dem Gesichtspunkt der Übervorteilung (Art. 21 OR), dagegen hat es das Vorliegen eines Verstosses gegen die guten Sitten (Art. 20 OR), eines wesentlichen Irrtums (Art. 23 f. OR) sowie einer absichtlichen Täuschung (Art. 28 OR), die der Kläger ebenfalls behauptet hatte, verneint.
 
D.
Gegen das Urteil des Obergerichts des Kantons Glarus hat die Beklagte rechtzeitig und in richtiger Form die Berufung an das Bundesgericht ergriffen mit dem Antrag auf Abweisung der Klage, eventuell auf Rückweisung an die Vorinstanz zur Aktenvervollständigung. Die Geltendmachung aktenwidriger Feststellungen im vorinstanzlichen Urteil wird für die mündliche Berufungsverhandlung vorbehalten.
 
E.
An der heutigen Verhandlung hat die Beklagte ihre Berufungsanträge wiederholt. Der Kläger hat darauf verzichtet, persönlich zu erscheinen oder sich vertreten zu lassen.
 
Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
1. Nach Art. 67 Abs. 2 OG soll das Vorliegen aktenwidriger Feststellungen in der Berufungserklärung geltend gemacht werden, unter Angabe der damit in Widerspruch stehenden Akten. Diese Regelung hat zum Zwecke, sowohl den Berufungsrichter, wie die Gegenpartei davon in Kenntnis zu setzen, dass nach der Auffassung des Berufungsklägers entgegen dem für das Berufungsverfahren geltenden Grundsatz nicht auf die tatsächlichen Feststellungen der Vorinstanz abzustellen sei, sondern dass diese einer Berichtigung bedürfen, und gleichzeitig soll schon durch die Berufungserklärung die Möglichkeit einer genauen und abschliessenden Prüfung dieser Behauptungen geschaffen werden. Mit Rücksicht auf diese Zweckbestimmung hat das Bundesgericht in ständiger Rechtsprechung Akten

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widrigkeitsrügen, die erst an der mündlichen Berufungsverhandlung geltend gemacht wurden, als verspätet zurückgewiesen, und dieselbe Überlegung muss zum Entscheide führen, dass ein blosser Vorbehalt in der Berufungserklärung, anlässlich der mündlichen Berufungsverhandlung Aktenwidrigkeitsrügen vorzubringen, nicht genügt und daher unwirksam ist. Mit ihren heute vorgetragenen Aktenwidrigkeitsrügen kann die Beklagte daher nicht mehr gehört werden, und das Urteil ist auf Grund des von der Vorinstanz festgestellten Tatbestandes zu fällen.
 
Erwägung 2
Im vorliegenden Falle betrug nach den Angaben der Vorinstanz der Kaufpreis 65,000 Fr., wovon 3000 Fr., weil vorbezahlt, im Kaufvertrag nicht verurkundet wurden. Anderseits führt die Vorinstanz aus, dass mit Rücksicht auf die schlechte Rendite der Wirtschaft bei einem Verkauf an einen Interessenten vom Fach der Assekuranzwert von 32,800 Fr. kaum erreicht werden dürfte. Darin liegt die

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tatsächliche, von der Beklagten nicht als aktenwidrig angefochtene und daher für das Bundesgericht verbindliche Feststellung, dass der objektive Wert der Liegenschaft sich höchstens auf den Assekuranzwert von 32,800 Fr. belaufe. Die heutigen Ausführungen der Beklagten, auf den Assekuranzwert könne nicht abgestellt werden, weil bei diesem weder der Wert des zum Hause gehörenden Bodens, noch der Wert des Geschäftes, der Goodwill, berücksichtigt seien, können daher nicht gehört werden. Hält man nun diesen objektiven Wert dem Kaufpreis von 65,000 Fr. zur Seite, so drängt sich unzweifelhaft der Schluss auf, dass dieser den Verkehrswert um volle 100% übersteigende Betrag weit übersetzt ist. Das objektive Moment des Missverhältnisses zwischen Leistung und Gegenleistung ist daher schon aus diesem Grunde zu bejahen, ohne dass auf die von der Vorinstanz hiefür weiter angeführten Gründe eingetreten werden muss.
Von einer Notlage, in der sich der Kläger befunden hätte, kann allerdings, wie die Vorinstanz richtig ausgeführt hat, nicht die Rede sein. Zwar braucht die Notlage keine wirtschaftliche (so Becker, Anm. 4 zu Art. 21 OR) zu sein, sondern in Übereinstimmung mit v. Thur (I. Band S. 281) und Oser-Schönenberger (Anm. 10 zu Art. 21 OR) ist anzunehmen, dass sie auch in dringenden persönlichen

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Bedürfnissen beruhen kann. Ein derartiges Bedürfnis des Klägers im Hinblick auf seinen heissen Wunsch, die Beklagte als Frau heimzuführen, ist indes nicht anzunehmen, wenn er auch in dieser Hinsicht den Bestrickungskünsten der Beklagten unterlegen sein mag, wie dies die Vorinstanz ausführt.
Mit Recht hat die Vorinstanz sodann im Gegensatz zu der ersten Instanz auch das Vorliegen einer Unerfahrenheit des Klägers verneint. Unerfahrenheit ist vorhanden, wenn entweder ganz allgemein Nichtvertrautsein mit den Verhältnissen vorliegt, wie bei Jugendlichen, oder wenn im Einzelfall dem einen Vertragskontrahenten die Sachkenntnis fehlt, die zur Beurteilung von Verhältnissen der in Frage stehenden Art im allgemeinen erforderlich ist (Oser-Schönenberger, Anm. 11 zu Art. 21 OR; BGE 41 II S. 579). Die letztere Voraussetzung, die hier allein in Frage kommen könnte, ist von der Vorinstanz mit Recht verneint worden unter Hinweis darauf, dass der Kläger, mochte er auch im Handel mit Wirtschaften keine besonderen Kenntnisse haben, sich doch des bestehenden Missverhältnisses zum mindesten grundsätzlich bewusst war, und dass er sogar von der Urkundsperson Dr. M. vor der Unterzeichnung des Vertrages auf die grosse Differenz zwischen Kaufpreis und Assekuranzwert aufmerksam gemacht worden war.
Dagegen hat die Vorinstanz eine Ausbeutung des Leichtsinnes des Klägers durch die Beklagte angenommen; der Kläger habe sich in blinder Leidenschaft nun einmal in den Kopf gesetzt, die Beklagte zu heiraten, wobei letztere es nicht unterlassen habe, diese Leidenschaft nach allen Regeln weiblicher Bestrickungskunst bis zur Tollheit zu schüren, um dann in bewusster Ausbeutung dieses unberechenbaren Zustandes den Kläger zur Eingehung des Kaufvertrages zu veranlassen.
Mit der Annahme, es sei der Leichtsinn des einen Vertragsteiles ausgebeutet worden, darf es nun gewiss nicht leicht genommen werden. Allein auch bei Anlegung eines

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strenges Masstabes ist im vorliegenden Falle diese Annahme berechtigt. Dass der Kläger bei der Eingehung des Vertrages überaus leichtsinnig vorgegangen ist, kann wohl nicht zweifelhaft sein: Wie bereits bemerkt, hatte er über die Angemessenheit des geforderten Kaufpreises erhebliche Zweifel; er hat sich aber offensichtlich um der Heirat mit der Beklagten willen über seine Bedenken hinweggesetzt, während ihn doch, insbesondere nachdem er durch die Urkundsperson auf diesen Punkt noch ausdrücklich aufmerksam gemacht worden war, die primitivste vernunftsgemässe Überlegung zum mindesten dazu hätte veranlassen müssen, sich vorerst bei einem Fachmann über den effektiven Verkehrswert der Liegenschaft zu informieren. Dass sodann die Beklagte diesen Leichtsinn des Klägers ausgebeutet hat, indem sie die Schwäche des Klägers wahrnahm und sie zur Erlangung übermässiger Vorteile missbrauchte, muss ebenso unzweifelhaft bejaht werden angesichts der tatsächlichen Feststellung der Vorinstanz, dass sie durch ihr ganzes Verhalten während der Kaufsunterhandlungen, wie auch in der Korrespondenz die Leidenschaft des Klägers in wohlberechneter Weise geschürt und bis zur Tollheit gesteigert habe.
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:
Die Berufung wird abgewiesen und das Urteil des Obergerichtes des Kantons Glarus vom 22./29. Oktober 1934 wird bestätigt.