BGE 143 II 699 |
51. Auszug aus dem Urteil der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung i.S. A. gegen Strassenverkehrsamt des Kantons Thurgau (Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten) |
1C_136/2017 vom 13. Dezember 2017 |
Regeste |
Art. 15a, 16 Abs. 2, Art. 16a-16c SVG; Entzug eines zweiten Ausweises auf Probe, nachdem bereits einmal ein erster Ausweis auf Probe annulliert worden ist. |
Sachverhalt |
A. A., geb. 1993, lenkte am 1. März 2012 mit einem Führerausweis auf Probe einen Personenwagen unter Drogeneinfluss, was zu einem dreimonatigen Führerausweisentzug führte. Am 26. April 2013 überschritt er innerorts die zulässige Geschwindigkeit um 23 km/h. Deswegen wurde ihm der Ausweis auf Probe definitiv entzogen. Nach Ablauf einer Karenzfrist sowie gestützt auf ein entsprechendes verkehrspsychologisches Gutachten erhielt er einen neuen Lernfahrausweis und in der Folge am 9. Februar 2015 erneut einen Führerausweis auf Probe (aller Kategorien und Unterkategorien sowie der Spezialkategorie F). Zusätzlich erwarb er einen Lernfahrausweis der Kategorie BE. Während der neuen Probezeit verursachte er am 24. Januar 2016 unter dem Einfluss einer Blutalkoholkonzentration von mindestens 1.14 Gewichtspromille einen Selbstunfall. Am 7. März 2016 entzog das Strassenverkehrsamt des Kantons Thurgau A. den Führerausweis auf Probe sowie den Lernfahrausweis der Kategorie BE für zwölf Monate. Zur Begründung verwies es auf das frühere Fahrzeuglenken unter Drogeneinfluss sowie auf das neu begangene Fahren im angetrunkenen Zustand. Aufgrund der erneuten schweren Widerhandlung gegen die Strassenverkehrsvorschriften betrage die Entzugsdauer mindestens zwölf Monate; diese Dauer sei in seinem Fall auch angemessen. Mit Entscheid vom 23. Juni 2016 wies die Rekurskommission für Strassenverkehrssachen des Kantons Thurgau einen dagegen erhobenen Rekurs ab. |
B. A. führte dagegen Beschwerde beim Verwaltungsgericht des Kantons Thurgau, das diese am 18. Januar 2017 abwies.
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C. Mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten an das Bundesgericht beantragt A., den Entscheid des Verwaltungsgerichts aufzuheben und ihm den Führerausweis auf Probe aller Kategorien und Unterkategorien sowie der Spezialkategorie F und den Lernfahrausweis der Kategorie BE lediglich für drei Monate, unter Anrechnung des bereits erfolgten Entzugs vom 24. Januar 2016 bis zum 23. April 2016, zu entziehen. Zur Begründung wird im Wesentlichen geltend gemacht, das Strassenverkehrsgesetz enthalte für den Warnungsentzug beim Führerausweis auf Probe eine spezialgesetzliche Regelung, weshalb die für die übrigen Fahrausweise geltende Kaskadenordnung bei der Mindestentzugsdauer entgegen der Auffassung der kantonalen Instanzen keine Anwendung finde. Das Urteil des Verwaltungsgerichts verstosse daher gegen Bundesrecht.
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Das Strassenverkehrsamt reichte innert Frist keine Vernehmlassung ein. Die Rekurskommission verzichtete in einer ersten Eingabe an das Bundesgericht auf eine Stellungnahme und einen Antrag zur Sache. Das Verwaltungsgericht schliesst ohne weitere Ausführungen auf Abweisung der Beschwerde. Das Bundesamt für Strassen ASTRA stellt in seiner Vernehmlassung den Antrag, den Entscheid des Verwaltungsgerichts aufzuheben und die Sache zur Festlegung der Entzugsdauer an das Strassenverkehrsamt zurückzuweisen. Die Rekurskommission äusserte sich dazu in einer zweiten Eingabe.
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A. nahm am 14. September 2017 nochmals zur Sache Stellung.
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(...)
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Das Bundesgericht weist die Beschwerde ab.
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(Auszug)
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2. |
Art. 16a SVG definiert die leichten Widerhandlungen gegen das Strassenverkehrsrecht und deren Rechtsfolgen. Art. 16b SVG enthält dieselbe Regelung für mittelschwere und Art. 16c SVG für schwere Widerhandlungen. Nach Art. 16c Abs. 1 SVG begeht insbesondere eine schwere Widerhandlung, wer in angetrunkenem Zustand mit einer qualifizierten Alkohol- oder Blutalkoholkonzentration ein Motorfahrzeug lenkt (lit. b) oder wegen Betäubungs- oder Arzneimitteleinfluss oder aus anderen Gründen fahrunfähig ist und in diesem Zustand ein Motorfahrzeug lenkt (lit. c). |
Art. 16c Abs. 2 SVG sieht eine Kaskadenfolge bei der gesetzlichen Mindestdauer des Entzugs eines Ausweises bei einer schweren Widerhandlung vor. Als mildeste Massnahme wird er, wenn kein qualifizierter Tatbestand vorliegt, für mindestens drei Monate entzogen (lit. a); die Dauer beträgt mindestens sechs Monate, wenn in den vorangegangenen fünf Jahren der Ausweis einmal wegen einer mitelschweren Widerhandlung entzogen war (lit. b), und zwölf Monate, wenn in den vorangegangenen fünf Jahren der Ausweis einmal wegen einer schweren Widerhandlung oder zweimal wegen mittelschweren Widerhandlungen entzogen war (lit. c); bei noch schwereren Vortaten ist der Ausweis für unbestimmte Zeit, mindestens aber für zwei Jahre, bzw. für immer zu entziehen (lit. d und e).
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Erwägung 3 |
3.1 Die Vorinstanzen stützten den angefochtenen Ausweisentzug in erster Linie auf Art. 16c Abs. 2 lit. c SVG, wonach die Entzugsdauer mindestens zwölf Monate beträgt, wenn in den vorangegangenen fünf Jahren der Ausweis einmal wegen einer schweren Widerhandlung oder zweimal wegen mittelschweren Widerhandlungen entzogen war. Diese Voraussetzungen erachteten die Vorinstanzen als erfüllt, da der Beschwerdeführer am 1. März 2012 einen Personenwagen unter dem Einfluss von Drogen gelenkt hatte und ihm der Ausweis auf Probe deswegen bereits einmal entzogen worden war. Auf die am 26. April 2013 begangene Geschwindigkeitsüberschreitung, die auf eine mittelschwere Widerhandlung gegen das Strassenverkehrsgesetz hinauslief, berufen sich die Vorinstanzen insofern nicht. Der Beschwerdeführer macht im Wesentlichen geltend, Art. 15a SVG enthalte für den Entzug des Ausweises auf Probe eine Spezialbestimmung, die der Kaskadenregelung von Art. 16c Abs. 2 SVG vorgehe, weshalb für ihn die Mindestentzugsdauer von drei Monaten gemäss Art. 16c Abs. 2 lit. a SVG und nicht diejenige von zwölf Monaten nach Art. 16c Abs. 2 lit. c SVG zur Anwendung gelange. Eine analoge Auffassung vertritt das Bundesamt für Strassen ASTRA, das der Regelung von Art. 15a SVG ebenfalls den Vorrang einräumt. Danach sind Verwarnungen oder Führerausweisentzüge wegen Widerhandlungen, die ein Inhaber eines ersten Führerausweises auf Probe begangen hat, bei der Festlegung der Dauer eines erneuten Ausweisentzugs wegen Widerhandlungen nicht mehr zu berücksichtigen, welche die gleiche Person mit einem zweiten Führerausweis auf Probe begeht. |
3.3 Ausgangspunkt jeder Auslegung bildet der Wortlaut der massgeblichen Bestimmungen. Ist der Text nicht ganz klar und sind verschiedene Interpretationen möglich, so muss nach seiner wahren Tragweite gesucht werden unter Berücksichtigung aller Auslegungselemente (sog. Methodenpluralismus), wobei die einzelnen Auslegungselemente keiner hierarchischen Prioritätsordnung unterstehen. Dabei kommt es namentlich auf den Zweck der Regelung, die dem Text zugrunde liegenden Wertungen sowie auf den Sinnzusammenhang an, in dem die Norm steht. Die Entstehungsgeschichte ist zwar nicht unmittelbar entscheidend, dient aber als Hilfsmittel, um den Sinn der Norm zu erkennen (BGE 141 II 220 E. 3.3.1 S. 225; BGE 138 IV 232 E. 3 S. 234 f.; je mit Hinweisen).
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3.4 Die Auffassung des Beschwerdeführers und des Bundesamts für Strassen beruht auf der Argumentation, dass der Führerausweis auf Probe ein selbständiges gesetzgeberisches Konstrukt darstelle. Nach der Annullierung eines solchen Ausweises werde der Inhaber so behandelt, als hätte er diesen nie besessen. Nachteilige Folge davon sei, dass sämtliche Ausbildungen und Prüfungen unter Einschluss der vorgeschriebenen Weiterbildungstage zu wiederholen seien. Als Ausgleich dazu seien Widerhandlungen aus der ersten Phase gerade nicht mehr zu berücksichtigen; es gälten die gleichen Pflichten und Rechte wie beim erstmaligen Erwerb eines Führerausweises auf Probe. Die Widerhandlungen, die zur Annullierung des Ausweises geführt hätten, würden registertechnisch auch gar nicht erfasst. Im Übrigen ergebe sich zwar in bestimmten Konstellationen eine Privilegierung der Inhaber eines Ausweises auf Probe im Vergleich zu einem solchen eines definitiven Führerausweises; in anderen sei es aber gerade umgekehrt. Die Vorinstanzen stehen demgegenüber auf dem Standpunkt, die allgemeinen Regeln zum Führerausweisentzug gälten auch für den Entzug eines Ausweises auf Probe. Im Übrigen sei der Gesetzgeber daran, Korrekturen vorzunehmen, welche verschiedene Argumente des Beschwerdeführers und des Bundesamtes entkräften würden. |
3.5.2 Unbestrittener Zweck des Führerausweises auf Probe ist, dass sich dessen Inhaber während der Probezeit bewähren soll. In der wissenschaftlichen Literatur wird festgehalten, der Führerausweis auf Probe verfalle zwingend mit der zweiten Widerhandlung, die zum Entzug des Ausweises führt, und es verhalte sich hernach so, wie wenn gar nie ein Führerausweis erteilt worden wäre (PHILIPPE WEISSENBERGER, Kommentar zum Strassenverkehrsgesetz und Ordnungsbussengesetz, 2. Aufl. 2015, N. 19 zu Art. 15a SVG). Daraus wird geschlossen, es handle sich um eine vorwiegend oder sogar rein sichernde Massnahme (CÉDRIC MIZEL, Droit et pratique illustrée du retrait du permis de conduire, 2015, S. 640 f.; WEISSENBERGER, a.a.O., N. 21 zu Art. 15a SVG). Das Schrifttum, unter Einschluss der vom Beschwerdeführer und vom Bundesamt insoweit angerufenen Literaturstellen, äussert sich allerdings, soweit ersichtlich, nicht ausdrücklich dazu, ob die Kaskadenfolge von Art. 16c Abs. 2 SVG für die Führerausweise auf Probe anwendbar ist oder nicht. |
3.5.5 Die Kaskadenfolge von Art. 16c Abs. 2 SVG greift nur bei schweren und mittelschweren Widerhandlungen. Leichte Widerhandlungen werden darin nicht genannt. So muss ein definitiver Führerausweis nach einer mittelschweren und einer leichten Widerhandlung nur mindestens für einen Monat entzogen werden (Art. 16b Abs. 2 lit. a SVG), während ein Führerausweis auf Probe im gleichen Fall bereits zu annullieren ist (vgl. Art. 15a Abs. 4 i.V.m. Art. 16b Abs. 2 lit. a und Art. 16a Abs. 2 SVG; BGE 136 I 345; MIZEL, a.a.O., S. 639). Diese uneinheitliche Rechtslage sollte immerhin in absehbarer Zeit durch den Gesetzgeber etwas ausgeglichen werden, nachdem eine entsprechende Motion an den Bundesrat überwiesen worden ist (vgl. Curia Vista 15.3574). Umgekehrt wird der Inhaber eines Ausweises auf Probe gegenüber einem solchen eines definitiven Ausweises milder sanktioniert, wenn die früheren Widerhandlungen während einer ersten Probezeit im Fall eines zweiten Ausweises auf Probe nicht mehr berücksichtigt werden, wofür es keine einleuchtende Rechtfertigung gibt. Insbesondere dieser letzte Umstand hat die Vorinstanzen dazu bewogen, die Kaskadenfolge von Art. 16c Abs. 2 SVG auch auf den Ausweis auf Probe anzuwenden. Hingegen erscheint es wenig überzeugend, derjenigen Widerhandlung, die zum Verfall des ersten Ausweises auf Probe geführt hat, also der zweiten massgeblichen Widerhandlung während der ersten Probezeit, überhaupt keine Bedeutung mehr für die Entzugsdauer zuzuschreiben, wohl aber der früheren ersten Widerhandlung, die in der ersten Probezeit begangen wurde (vgl. lit. A hiervor). Diese Lösung des Strassenverkehrsamts versucht zwar, einen Ausgleich zwischen den verschiedenen gesetzlichen Regelungen zu schaffen, lässt aber unter Rückgriff auf älteres Fehlverhalten jüngeres ausser Acht und führt im Ergebnis zu einer unvollständigen Würdigung der tatsächlichen Verhältnisse. |
3.5.6 Eine ganzheitliche Betrachtungsweise legt durchaus nahe, Art. 15a SVG eine gewisse selbständige Bedeutung zuzumessen. Es ist nicht von der Hand zu weisen, dass der Gesetzgeber damit eine weitgehend eigene, spezifische Ordnung des Entzugs des Führerausweises auf Probe geschaffen hat. Unter den Verfahrensbeteiligten ist nicht strittig, dass dem Beschwerdeführer der Ausweis auf Probe gestützt auf Art. 15a Abs. 3 SVG lediglich befristet entzogen und nicht mit Blick auf die Vortaten wegen der erneuten einmaligen Widerhandlung gemäss Art. 15a Abs. 4 SVG bereits wieder annulliert werden soll. Abgestellt werden soll mithin für die Frage des Entzuges als solchen lediglich auf die in der zweiten Probezeit begangene Widerhandlung und nicht auch auf die Vorfälle der ersten Probezeit. Daran ist das Bundesgericht nicht nur wegen des Verschlechterungsverbots gebunden, sondern diese Auslegung erscheint aufgrund der Gesetzesordnung auch sinnvoll. Insofern erhält der Inhaber des Ausweises auf Probe eine zweite Chance, und die Voraussetzungen einer erneuten Annullierung nach Art. 15a Abs. 4 SVG müssen in der zweiten Probezeit eingetreten sein. Etwas anderes müsste sich deutlich aus dem Gesetz ergeben, was nicht zutrifft. |
3.5.8 Der Beschwerdeführer wendet gegen eine Gesamtsicht mit Blick auf eine mögliche künftige Annullierung des zweiten Ausweises auf Probe zwar ein, es sei kaum mehr möglich, eine positive verkehrspsychologische Begutachtung zu erreichen, wenn alle früheren Vorfälle weiterhin massgeblich blieben. Gerade der sichernde Charakter der Annullierung eines Ausweises auf Probe legt eine ganzheitliche Würdigung aber nahe. Der auch warnenden Funktion kann bei der Begutachtung in dem Sinne Rechnung getragen werden, dass ein massgeblicher Gesichtspunkt dabei sein muss, ob die betroffene Person die Lehren aus den bisherigen Ereignissen gezogen hat und dies auch überzeugend darzutun vermag. Nur wenn sie weiterhin keine Gewähr für ein korrektes Verhalten bietet, erscheint diesfalls die Wiedererteilung eines Lernfahrausweises ausgeschlossen. In diesem Stadium befindet sich der Beschwerdeführer allerdings (noch) nicht. Vielmehr geht es um den lediglich vorübergehenden Entzug des zweiten Ausweises auf Probe gemäss Art. 15a Abs. 3 SVG. |
Erwägung 4 |
4.2 In der ersten Probezeit lenkte der Beschwerdeführer am 1. März 2012 einen Personenwagen unter Drogeneinfluss, was zu einem dreimonatigen Führerausweisentzug führte. Am 26. April 2013 beging er eine erhebliche Geschwindigkeitsübertretung von 23 km/h innerorts. Aufgrund dieser beiden vom Strassenverkehrsamt als schwer bzw. mittelschwer beurteilten Widerhandlungen gegen das Strassenverkehrsgesetz wurde ihm der damalige Ausweis auf Probe gemäss Art. 15a Abs. 4 SVG mit Verfallwirkung entzogen. Nach Ablauf der gesetzlichen Karenzfrist sowie gestützt auf ein entsprechendes verkehrspsychologisches Gutachten erhielt er einen neuen Lernfahrausweis und erwarb in der Folge am 9. Februar 2015 erneut einen Führerausweis auf Probe. Während der entsprechenden zweiten Probezeit verursachte er am 24. Januar 2016 unter dem Einfluss einer Blutalkoholkonzentration von mindestens 1.14 Gewichtspromille einen Selbstunfall. Dies führte zum hier strittigen Ausweisentzug für zwölf Monate. |