BGE 143 III 237 |
39. Auszug aus dem Urteil der II. zivilrechtlichen Abteilung i.S. A. gegen Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde (KESB) Thun (Beschwerde in Zivilsachen) |
5A_151/2017 vom 23. März 2017 |
Regeste |
Art. 5 Abs. 2 HEsÜ; Aufrechterhaltung der schweizerischen Zuständigkeit bei Wegzug in einen Nichtvertragsstaat. |
Sachverhalt |
A. Aufgrund einer Gefährdungsmeldung eröffnete die Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde (KESB) Thun am 26. Februar 2015 ein Erwachsenenschutzverfahren betreffend A. (geb. 1920). Im gerontopsychiatrischen Gutachten wurde eine mittelschwere Demenz (ICD-10, F00.2) und eine eingeschränkte Urteilsfähigkeit diagnostiziert. |
Am 9. August 2016 meldete sich A. bei der Gemeinde U. nach Spanien ab.
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B. Am 1. September 2016 stellten die Kinder von A. im Rahmen des hängigen Verfahrens ein Massnahmegesuch, mit welchem sie den vorsorglichen Entzug der Handlungsfähigkeit und die Aufnahme eines Vermögensinventars forderten. Mit Gesuch vom 15. September 2016 verlangten sie überdies die unverzügliche stationäre fürsorgerische Unterbringung ihres Vaters.
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Mit Entscheid vom 17. Oktober 2016 erklärte sich die KESB bezüglich des hängigen Erwachsenenschutzverfahrens für örtlich zuständig und wies die beiden Massnahmengesuche ab.
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Dagegen erhob A. eine Beschwerde beim Obergericht, im Wesentlichen mit dem Begehren um Feststellung, dass die KESB für die Weiterführung des Verfahrens örtlich unzuständig sei. Mit Entscheid vom 19. Januar 2017 wies das Obergericht die Beschwerde ab.
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C. Gegen diesen Entscheid hat A. am 20. Februar 2017 eine Beschwerde in Zivilsachen erhoben mit den Begehren um dessen Aufhebung und Rückweisung der Sache zur Beurteilung, ob er seinen gewöhnlichen Aufenthalt noch in der Schweiz habe.
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Das Bundesgericht weist die Beschwerde ab.
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(Zusammenfassung)
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Aus den Erwägungen: |
2.1 Unbestrittenermassen war die KESB bei Einleitung des Erwachsenenschutzverfahrens örtlich zuständig (Art. 444 Abs. 1 ZGB i.V.m. Art. 3 Abs. 2 des Gesetzes des Kantons Bern vom 1. Februar 2012 über den Kindes- und Erwachsenenschutz [KESG/BE; BSG 213.316]) und es lag seinerzeit auch kein internationales Verhältnis vor. International wurde der Sachverhalt erst mit dem Wegzug des Beschwerdeführers nach Spanien. |
Bei Art. 5 HEsÜ handelt es sich um die Parallelnorm zu Art. 5 HKsÜ (Haager Kindesschutzübereinkommen vom 19. Oktober 1996; SR 0.211.231.011), welcher für den Bereich des Kindesschutzes eine analoge Regelung enthält (vgl. zur weitgehend parallelen Ausgestaltung des HEsÜ in Bezug auf die Zuständigkeiten: LAGARDE, Bericht zum HEsÜ, a.a.O., Rz. 47 ff.; BUCHER, in: Commentaire romand, Loi sur le droit international privé, 2011, N. 328 zu Art. 85 IPRG). Ziel beider Übereinkommen ist, bei transnationalem Aufenthaltswechsel durch lückenlose Regelung umfassenden Schutz zu gewähren, wozu ein geschlossenes System für die direkte (Art. 5 ff. HKsÜ bzw. Art. 5 ff. HEsÜ) und indirekte Zuständigkeit (Art. 23 ff. HKsÜ bzw. Art. 22 ff. HEsÜ) aufgestellt und im Übrigen auch das anwendbare Recht (Art. 15 ff. HKsÜ bzw. Art. 13 ff. HEsÜ) festgelegt wird.
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Für das HEsÜ ist als Besonderheit zu beachten, dass von der strengen Anknüpfung an den gewöhnlichen Aufenthaltsort, wie sie in Art. 5 HEsÜ als Grundsatz vorgesehen ist, Ausnahmen insbesondere zugunsten des Vertragsstaates, dem der Erwachsene angehört (Art. 7 HEsÜ), und zugunsten des Ergreifens von Schutzmassnahmen hinsichtlich belegenen Vermögens (Art. 9 HEsÜ) bestehen.
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Für den Bereich des Kindesschutzes gehen Lehre und Rechtsprechung deshalb im Anschluss an den erläuternden Bericht (LAGARDE, Erläuternder Bericht zu dem Übereinkommen vom 19. Oktober 1996 über den Schutz von Kindern, 1998, Rz. 42) davon aus, dass der in Art. 5 Abs. 2 HKsÜ vorgesehene automatische Zuständigkeitswechsel nicht stattfindet, wenn der gewöhnliche Aufenthalt des Kindes in einen Nichtvertragsstaat erfolgt (vgl. dazu BGE 142 III 1 E. 2.1 S. 4 f.; Urteile 5A_809/2012 vom 8. Januar 2013 E. 2.3.1; 5A_293/2016 vom 8. August 2016 E. 3.1; 5A_274/2016 vom 26. August 2016 E. 2.2; SCHWANDER, in: Basler Kommentar, Internationales Privatrecht, 3. Aufl. 2013, N. 46 zu Art. 85 IPRG; BUCHER, a.a.O., N. 25 zu Art. 85 IPRG; für Deutschland vgl. OLG Karlsruhe, Beschluss 5 UF 140/11 vom 12. November 2013 Rz. 25 ff.; für Österreich vgl. Oberster Gerichtshof, Beschlüsse 5 Ob 104/12y vom 20. November 2012 E. 3.1 und 5 Ob 80/16z vom 25. August 2016 Rz. 3). Nur innerhalb des Rechtsraumes der am betreffenden Übereinkommen beteiligten Vertragsstaaten ist gesichert, dass in Anwendung des verbindlich aufgestellten Zuständigkeitsregimes im Zuzugsstaat nahtlos wiederum eine Zuständigkeit besteht. Demgegenüber ist bei einem Drittstaat keineswegs klar, ob und in welcher Weise dieser Kindesschutzmassnahmen treffen bzw. hängige Verfahren weiterführen würde, insbesondere wenn nach dessen internationalem Privatrecht die Zuständigkeit nicht an den Wohnsitz, sondern an die Staatsangehörigkeit des Kindes knüpft. Diesfalls würde dem Kind ohne die perpetuatio fori drohen, dass es zuständigkeitsmässig "zwischen Stuhl und Bank" fällt (LEVANTE, Wohnsitz und gewöhnlicher Aufenthalt im internationalen Privat- und Zivilprozessrecht der Schweiz, 1998, S. 203). |
Diese Grundsätze gelten a fortiori für den Bereich des Haager Erwachsenenschutzübereinkommens, weil bei diesem mit dem Wegzug keineswegs sofort neuer Aufenthalt begründet wird (vgl. SCHWANDER, a.a.O., N. 139, 142 zu Art. 85 IPRG) und weil das HEsÜ bei tatsächlich erfolgter Begründung neuen gewöhnlichen Aufenthaltes selbst bei Vertragsstaaten gewisse Konzessionen an den Staat der Angehörigkeit kennt (dazu E. 2.2). Der Erläuternde Bericht zum Haager Erwachsenenschutzübereinkommen sieht in Rz. 52 (LAGARDE, Bericht zum HEsÜ, a.a.O.) denn auch ausdrücklich vor, dass in Bezug auf Nichtvertragsstaaten die perpetuatio fori zum Tragen kommt, soweit sie nach dem innerstaatlichen Verfahrensrecht gilt. Dass dies vorliegend der Fall ist, stellt der Beschwerdeführer zu Recht nicht in Frage (vgl. allgemein für den schweizerischen Zivilprozess: Art. 64 Abs. 2 lit. b ZPO; vgl. spezifisch für das vorliegende Erwachsenenschutzverfahren: Art. 450f ZGB i.V.m. Art. 45 Abs. 3 KESG/BE). |
Es ist unbestritten, dass Spanien nicht Vertragsstaat des Haager Erwachsenenschutzübereinkommens ist. Sodann hat das Obergericht in tatsächlicher Hinsicht festgestellt, dass klare Anzeichen für eine Schutzbedürftigkeit des fast 100-jährigen Beschwerdeführers bestehen und in Spanien kein Verfahren eingeleitet worden ist, was in individuell-konkreter Hinsicht gerade die Notwendigkeit der vorstehend in generell-abstrakter Hinsicht festgehaltenen Grundsätze aufzeigt.
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Es ging dort um einen Wegzug eines Kindes von Deutschland in die Türkei. Das OLG Stuttgart erwog, dass keine perpetuatio fori gelte; zwar sei die Türkei nicht Vertragsstaat des Haager Kindesschutzübereinkommens, wohl aber des Minderjährigenschutzübereinkommens (Übereinkommen vom 5. Oktober 1961 über die Zuständigkeit der Behörden und das anzuwendende Recht auf dem Gebiet des Schutzes von Minderjährigen [MSA; SR 0.211.231.01]). Das OLG Stuttgart ist mit anderen Worten von einem Zuständigkeitswechsel zugunsten der türkischen Behörden ausgegangen, nicht weil die Türkei nicht HKsÜ-Vertragsstaat ist, sondern weil die Türkei MSA-Vertragsstaat ist. In der Tat galten bereits für das MSA als Vorgänger-Übereinkommen des HKsÜ die gleichen Grundsätze, nämlich die Kompetenzübertragung an die dortigen Behörden bei Begründung gewöhnlichen Aufenthalts im anderen Vertragsstaat, hingegen die perpetuatio fori bei Wegzug in einen Nichtvertragsstaat des MSA (BUCHER, a.a.O., N. 121 zu Art. 85 IPRG). Dies entspricht nicht nur der konstanten Rechtsprechung des Bundesgerichts zum MSA (BGE 123 III 411 E. 2a/bb S. 413; BGE 132 III 586 E. 2.2.3 S. 591; BGE 142 III 1 E. 2.1 S. 4), sondern auch derjenigen des deutschen Bundesgerichtshofes (vgl. Beschluss XII ZB 186/03 vom 22. Juni 2005 S. 13), welche das OLG Stuttgart beachtet hat. Indes gibt es für das HEsÜ im Unterschied zum HKsÜ kein Vorgängerübereinkommen, welches bereits analoge Grundsätze gekannt hätte und dessen Vertragsstaat Spanien sein könnte. |
2.5 Nach dem Gesagten ist vorliegend massgeblich, dass der Beschwerdeführer bei Einleitung des Erwachsenenschutzverfahrens im örtlichen Zuständigkeitsbereich der befassten KESB Wohnsitz bzw. gewöhnlichen Aufenthalt hatte und die hierdurch begründete Zuständigkeit aufgrund der perpetuatio fori fortbesteht. Mithin ist das Anliegen des Beschwerdeführers, die Sache an die kantonalen Instanzen zurückzuweisen zur Prüfung, ob er in der Schweiz zum heutigen Zeitpunkt überhaupt noch gewöhnlichen Aufenthalt habe, gegenstandslos. (...)
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