BGE 146 III 25
 
4. Auszug aus dem Urteil der I. zivilrechtlichen Abteilung i.S. Erbengemeinschaft A.A, bestehend aus: B.A. und C.A. gegen Eternit (Schweiz) AG, Mitb. und Schweizerische Bundesbahnen SBB (Beschwerde in Zivilsachen)
 
4A_554/2013 vom 6. November 2019
 
Regeste
Art. 60 Abs. 1 OR; Art. 127 i.V.m. Art. 130 Abs. 1 OR; Art. 6 Ziff. 1 EMRK; Schadenersatzansprüche der Erben eines Asbestopfers; Beginn der absoluten Verjährung vertraglicher und ausservertraglicher Ansprüche; Bedeutung des EGMR-Urteils Howald Moor und andere gegen Schweiz vom 11. März 2014.
Frage der generellen Anwendbarkeit der sog. Schubert-Praxis bei einem Konflikt zwischen Landesrecht und Art. 6 Ziff. 1 EMRK offengelassen (E. 7).
Voraussetzung für die Anwendung von Art. 6 Ziff. 1 EMRK ist das Bestehen eines materiellrechtlichen Anspruchs nach innerstaatlichem Recht (E. 8.1).
Dem EGMR-Urteil Howald Moor kann nicht entnommen werden, dass damit absolute Verjährungsfristen nach innerstaatlichem materiellem Recht ausgeschlossen wären. Ein Anspruch, der erst rund 37 Jahre nach der letztmöglichen Schädigung geltend gemacht wird, ist verjährt (E. 8.2).
Frage offengelassen, inwieweit mit dem Entschädigungsfonds für Asbestopfer eine alternative Lösung für Schädigungen unter bisherigem Recht geschaffen wurde (E. 8.3).
 
Sachverhalt


BGE 146 III 25 (27):

A.a Der 1953 geborene A.A. sel. wohnte mit seinen Eltern von 1961 bis 1972 in Niederurnen in einem Mietshaus der Eternit (Schweiz) AG (Beklagte 1, Beschwerdegegnerin 1) in unmittelbarer Nähe des Eternit-Fabrikgeländes, wo faserförmige Asbest-Mineralien für die Produktion von Eternit (Asbest-Zement) verwendet wurden. Nach eigenen Angaben kam A.A. sel. zu jener Zeit häufig mit Asbest in Kontakt, indem er generell den Staubimmissionen aus dem Eternit-Werk ausgesetzt gewesen sei, namentlich auch in seinem Schlafzimmer, dessen Fenster zum Fabrikareal hin vielfach offen gestanden seien; oder indem er als Knabe oft mit Eternit-Platten gespielt und auf Eternit-Röhren herumgekraxelt sei. Ferner habe er beim Bahnhof regelmässig beim Abladen der Asbestsäcke zugesehen. Nach dem Wegzug aus Niederurnen im September 1972 sei er nie mehr mit Asbest in Berührung gekommen.
A.b Im Herbst 2004 wurde bei A.A. sel. ein malignes, mutmasslich asbestinduziertes Pleuramesotheliom (Brustfellkrebs) diagnostiziert. Am 30. Oktober 2006 erlag A.A. seinem Krebsleiden. Er hinterliess seine Ehefrau B.A. (Klägerin 1, Beschwerdeführerin 1) und seinen Sohn C.A. (Kläger 2, Beschwerdeführer 2).
B.
B.a Am 16. Juli 2009 reichten die Kläger als Erben des A.A. sel. beim Kantonsgericht Glarus Klage ein gegen die Beklagte 1, E.E. (Beklagter 2, Beschwerdegegner 2), F.E. (Beklagter 3, Beschwerdegegner 3) und die Schweizerischen Bundesbahnen SBB AG (Beklagte 4, Beschwerdegegnerin 4). In ihrem als Teilklage formulierten Rechtsbegehren beantragten sie die solidarische Verurteilung der Beklagten zur Bezahlung von Fr. 110'000.- als Genugtuung nebst Zins. Mit Urteil vom 29. März 2012 wies das Kantonsgericht die Klage zufolge Verjährung ab.
B.b Das Obergericht des Kantons Glarus wies die von den Klägern erhobene Berufung mit Urteil vom 4. Oktober 2013 ab. Es erwog im Wesentlichen, die Kläger würden sich auf die Haftung aus Grundeigentum (Art. 679 i.V.m. Art. 684 ZGB), aus Werkeigentum (Art. 58 OR), aus unerlaubter Handlung (Art. 41 OR) und aus Mietvertrag (Art. 258 OR) berufen. Die ersten drei Haftungsgrundlagen seien ausservertraglicher Natur, während die vierte ein vertraglicher Anspruch sei. Der Lauf der absoluten Verjährungsfrist beginne sowohl für die vertragliche wie auch für die ausservertragliche Verjährung mit dem schadenstiftenden Ereignis. Die letzte behauptete Asbestexposition von A.A. sel. sei im Jahre 1972 gewesen, da er bis dahin

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mit seinen Eltern in Niederurnen in Nähe des Eternit-Werkes gewohnt habe. Zehn Jahre später, Ende 1982, seien die auf die Asbestexposition gestützten Ansprüche somit absolut verjährt gewesen. Selbst unter dem Gesichtswinkel einer allenfalls länger laufenden strafrechtlichen Verjährungsfrist (Art. 60 Abs. 2 OR) wären die erst mit Klage von 2009 geltend gemachten Ansprüche verjährt gewesen.
C. Mit Beschwerde in Zivilsachen halten die Kläger an ihrem im kantonalen Verfahren gestellten Rechtsbegehren fest. Eventualiter beantragen sie die Rückweisung der Streitsache zur materiellen Beurteilung an die Vorinstanz. Sie stellten sodann den Antrag, das Verfahren sei zu sistieren, bis der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) über die Beschwerden Moor gegen Schweiz (Verf.-Nr. 41072/11) sowie Howald Moor gegen Schweiz (Verf.-Nr. 52067/10) entschieden habe.
Der EGMR entschied mit Urteil Howald Moor und andere gegen Schweiz vom 11. März 2014 (nachfolgend: Urteil Howald Moor ) über die beiden Beschwerden.
Mit Präsidialverfügung vom 8. April 2014 wurde das Verfahren sistiert bis zum Entscheid der eidgenössischen Räte über die Anträge in der Botschaft vom 29. November 2013 zur Änderung des Obligationenrechts (Verjährungsrecht), BBl 2014 235 ff. Mit Präsidialverfügung vom 6. November 2018 wurde das Verfahren wieder aufgenommen, da der Gesetzgeber zwischenzeitlich definitiv über die Neuregelung des Verjährungsrechts entschieden hat und damit der Grund für die Sistierung dahingefallen ist.
Die Beschwerdegegnerin 4 beantragt auf die Beschwerde sei nicht einzutreten, eventualiter sei sie abzuweisen. Die Beschwerdegegner 1-3 beantragen je mit eigener Eingabe, die Beschwerde sei abzuweisen, soweit überhaupt darauf einzutreten sei. Die Parteien haben im Rahmen eines angeordneten zweiten Schriftenwechsels repliziert und dupliziert. Die Beschwerdeführer haben unaufgefordert eine Triplik eingereicht. Die Vorinstanz hat auf Vernehmlassung verzichtet.
Das Bundesgericht weist die Beschwerde ab.
(Zusammenfassung)
 
Aus den Erwägungen:
3. Das eidgenössische Parlament hat am 15. Juni 2018 über eine Änderung des Obligationenrechts (Revision des Verjährungsrechts) entschieden (Beschluss der Bundesversammlung vom 15. Juni 2018,

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BBl 2018 3537 ff.). Das neue Recht wird am 1. Januar 2020 in Kraft treten. Die Parteien gehen denn auch zutreffend davon aus, dass es für die vorliegende Streitigkeit nicht unmittelbar anwendbar ist. Uneinigkeit besteht zwischen ihnen darüber, ob bzw. inwiefern es für die Auslegung des geltenden Rechts und namentlich die Beurteilung des geltenden Rechts hinsichtlich des Verhältnisses zur EMRK eine Rolle spielen kann.
3.1 Neu wird ein Anspruch auf Schadenersatz oder Genugtuung bei Tötung eines Menschen oder Körperverletzung mit Ablauf von drei Jahren von dem Tag an gerechnet, an welchem der Geschädigte Kenntnis vom Schaden und von der Person des Ersatzpflichtigen erlangt hat, jedenfalls aber mit Ablauf von "zwanzig Jahren, vom Tage an gerechnet, an welchem das schädigende Verhalten erfolgte oder aufhörte", verjähren (nArt. 60 Abs. 1bis OR). Für Ansprüche aus vertragswidriger Körperverletzung oder Tötung wurde eine parallele Bestimmung geschaffen (nArt. 128a OR). Wie bei nArt. 60 Abs. 1bis OR handelt es sich also um doppelte Fristen mit einer relativen und einer absoluten Frist (Botschaft vom 29. November 2013 zur Änderung des Obligationenrechts [Verjährungsrecht], BBl 2014 258 f.).Der Bundesrat wies darauf hin, alternativ zur Einführung einer absoluten Verjährungsfrist von (ursprünglich) dreissig Jahren, die mit dem schädigenden Verhalten beginne, wäre auch denkbar, die Verjährung erst mit dem Schadenseintritt beginnen zu lassen (BBl 2014 253). Er schlug jedoch nichts dergleichen vor und Minderheitsanträge in den Räten, wonach gemäss revidiertem Recht die Frist mit Kenntnis des Schadens hätte beginnen sollen bzw. überhaupt auf eine absolute Verjährung hätte verzichtet und stattdessen eine längere relative Verjährungsfrist ab Kenntnis des Schadens hätte festgelegt werden sollen, wurden verworfen (Votum Ständerat Cramer hinsichtlich eines Antrags in der ständerätlichen Rechtskommission, AB 2015 S 1288 f.).
Im Rahmen der parlamentarischen Beratung wurde geltend gemacht, die Rechtsprechung könne die aus langen Latenzzeiten bei gewissen Krankheiten entstehenden Probleme ohne Änderung der Gesetzgebung lösen. Wenn eine Krankheit noch nicht ausgebrochen sei, könne sie aus objektiven Gründen nicht geltend gemacht werden und es lasse sich deshalb eine Fristenhemmung bis zum Ausbruch der Krankheit annehmen (Votum Rechsteiner, AB 2015 S 1291 f.). Eine entsprechende Auffassung war auch schon im Schrifttum de lege lata vertreten worden (PORTMANN/STREULI-NIKOLIC, Zur Verjährung von

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Forderungen aus positiver Vertragsverletzung im Fall von Spätschäden, ArbR, Mitteilungen des Instituts für Schweizerisches Arbeitsrecht, 2011 S. 13 ff., 32 f.; CORINNE WIDMER LÜCHINGER, Die Verjährung bei Asbestschäden, ZBJV 150/2014 S. 460 ff., 477 f.). Wählt ein Gesetzgeber ein subjektives Verjährungsregime, gibt es zwei Möglichkeiten, ein derartiges System zu implementieren. Zum einen kann er die Erkennbarkeit des Schadens als Beginn der Verjährungsfrist bestimmen. Zum andern kann die Unkenntnis im Sinn einer fehlenden Erkennbarkeit des Schadens ein Grund der Hemmung des Laufs der Verjährungsfrist darstellen (ZIMMERMANN/KLEINSCHMIDT, Verjährung: Grundgedanken und Besonderheiten bei Ansprüchen auf Schadenersatz, in: Festschrift für Eugen Bucher zum 80. Geburtstag, 2009, S. 861 ff., 906, mit Beispielen für beide Systeme aus der Praxis). Der Gesetzgeber hat - wie dargelegt - am System der doppelten Verjährungsfristen festgehalten und das subjektive Verjährungssystem nur im Hinblick auf die relative Verjährung gewählt. Damit hat er auch ausgeschlossen, dass über den Weg der Fristenhemmung die absolute Frist unterlaufen und von der subjektiven Kenntnis abhängig gemacht werden kann.
3.2 Der Ständerat als Zweitrat hatte eine übergangsrechtliche Sonderlösung vorgeschlagen für Personenschäden, die durch Asbest verursacht worden sind (Art. 49a E-ZGB). Im Rahmen der Differenzbereinigung zum Nationalrat wurde diese Übergangslösung gestrichen. Begründet wurde dies damit, dass zwischenzeitlich die Stiftung Entschädigungsfonds für Asbestopfer (EFA) gegründet worden war und der Rat davon ausging, diese würde den Geschädigten, deren Ansprüche gemäss aktuellem Recht bereits verjährt seien, eine angemessene Entschädigung gewährleisten (Votum Ständerat Engler für die Kommission, AB 2018 S 286; vgl. auch Voten Nationalräte Pardini, Merlini, Mazzone, Vogler, AB 2018 N 240 ff.). In der Folge verzichtete der Gesetzgeber auch darauf, eine Rückwirkung vorzusehen (vgl. Art. 49 Abs. 3 SchlT-ZGB, BBl 2018 3543).
3.3 Der erwähnte Entschädigungsfonds regelt die Leistungen für Personen, die an einem Mesotheliom erkrankt sind, das nicht als Berufskrankheit nach UVG anerkannt ist (Art. 3 ff. des Entschädigungsreglements vom 9. Mai 2017 [nachfolgend: Entschädigungsreglement] und für solche, deren Krankheit als Berufskrankheit nach UVG anerkannt ist (Art. 8 ff. Entschädigungsreglement). Im zweiten Fall wird eine zusätzliche Abfindung (analog Schmerzensgeld) bezahlt in Ergänzung zur nach UVG geschuldeten Integritätsentschädigung für

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Personen, die ab 2006 erkrankt sind (Art. 8). Parallel dazu wird im ersten Fall eine Abfindung (analog Schmerzensgeld; Art. 3) und eine Abgeltung (analog des für UVG-Versicherte bestehenden Lohnersatzes; Art. 4) entrichtet. Die Abfindung ist nur geschuldet, wenn die Person ab 2006 erkrankt ist (Art. 3 Abs. 3). Schliesslich kann der Fonds in Härtefällen eine zu diesen Regeln analoge Lösung treffen (Art. 14 Abs. 1). Personen, die vor Inkrafttreten des Entschädigungsreglements Ansprüche auf dem Prozessweg geltend gemacht haben, müssen diese zurückziehen, andernfalls sie keine Leistungen vom Fonds erhalten können (Art. 2 Abs. 3 Entschädigungsreglement).
Die Schweiz hat in der Folge gegenüber dem Ministerkomitee des Europarats mitgeteilt, als "mesures d'exécution envisagées sur le plan général" sei der Entschädigungsfonds eingerichtet worden, womit die Schweiz eine der "autres solutions envisageables" im Sinn des Urteils Howald Moor (dort § 78) getroffen habe; ausserdem sei die absolute Verjährungsfrist auf 20 Jahre verlängert worden (Schreiben der Schweizerischen Eidgenossenschaft an das Ministerkomitee des Europarates vom 10. Juli 2018 [DH-DD(2018)661-rev] und vom31. Januar 2017 [DH-DD(2017)115], betreffend Plan d'action, Ziff. 2.2, www.coe.int/en/web/cm unter Recherche [besucht am 17. Oktober 2019]).
(...)
7. Die Beschwerdeführer machen geltend, gemäss dem Urteil Howald Moor sei die absolute zehnjährige Verjährungsfrist gemäss schweizerischem Recht EMRK-widrig. Aus diesem Urteil folgern sie, auch vorliegend dürfe keine Verjährung angenommen werden. Die Beschwerdegegner 3 und 4 wenden grundsätzlich ein, das Urteil Howald Moor sei nicht zu berücksichtigen. Sie machen geltend, vorliegend sei die sog. "Schubert"-Praxis (BGE 99 Ib 39 E. 3 und 4 S. 44 f. ["Schubert"]; BGE 142 II 35 E. 3.2 S. 39; BGE 138 II 524 E. 5.3.2 S. 534; vgl. auch Botschaft vom 5. Juli 2017 zur Volksinitiative "Schweizer Recht statt fremde Richter [Selbstbestimmungsinitiative]", BBl 2017 5397 Ziff. 6.2.1) anwendbar. Der Bundesgesetzgeber habe im Rahmen der Revision des Verjährungsrechts klar zum Ausdruck gebracht, dass er an der geltenden Rechtslage (gemeint: keine Übergangslösung für Fälle unter bisherigem Recht; beibehalten der absoluten Verjährungsfrist; vgl. E. 3 hiervor) festhalten wolle, weshalb die bestehenden obligationenrechtlichen Bestimmungen nach wie vor anwendbar seien. Die "Schubert"-Praxis gelte gemäss BGE 136 III 168 E. 3.3.2 und E. 3.3.4 S. 171 ff. auch bei einem Konflikt

BGE 146 III 25 (32):

zwischen Landesrecht und der EMRK. Die Beschwerdeführer andererseits erachten es namentlich im Hinblick auf BGE 142 II 35 als fraglich, ob die sog. Schubert-Praxis heute noch Gültigkeit habe. Dies spiele aber keine Rolle, da die neuen Gesetzesnormen zur Verjährung auf den vorliegenden Fall nicht anzuwenden seien. Die Frage braucht nicht vertieft zu werden, denn wie nachfolgend gezeigt wird, kann die Verjährung im vorliegenden Fall ohnehin nicht gestützt auf das Urteil Howald Moor verneint werden.
8. Zu beurteilen ist eine behauptete Schädigung, die längstens bis 1972 stattgefunden hat. Die Klage wurde am 16. Juli 2009 beim Kantonsgericht Glarus gestützt auf den Klageschein des Vermittleramtes Niederurnen vom 9. Juni 2009 eingereicht. Zwischen der schädigenden Handlung und der Klageeinreichung liegen also rund 37 Jahre. Gegenstand der Klage sind Genugtuungsansprüche, welche die Ehefrau und der Sohn des Geschädigten gemäss den Feststellungen der Vorinstanz "als finanzielle Kompensation der von A.A. sel. erlittenen seelischen Unbill durch das Asbestkrebsleiden" geltend machen. Es handelt sich somit nicht um Genugtuungsansprüche aus eigenem Recht der Beschwerdeführer, sondern um einen Genugtuungsanspruch des Verstorbenen für die begrenzte Zeit seines Leidens bis zu seinem Tod (Art. 47 OR), den die Beschwerdeführer als dessen Erben nach seinem Tod geltend machen, wobei A.A. sel. gemäss den für das Bundesgericht verbindlichen Feststellungen der Vorinstanz (vgl. nicht publ. E. 1.2) noch zu Lebzeiten manifestiert hat, allfällige Ansprüche als Folge seiner Asbesterkrankung durchsetzen zu wollen.
 
Erwägung 8.1
8.1.1 Nach schweizerischem Recht ist die Verjährung ein materiell-rechtliches, kein prozessrechtliches Institut (BGE 125 V 396 E. 3a S. 399; BGE 118 II 447 E. 1b/bb S. 450; 75 II 57 E. 3a S. 65 ff.; 74 II 30 E. 1c S. 36; Urteile 5A_363/2013 vom 14. Oktober 2013 E. 3.3; 5A_102/2011 vom 2. Mai 2011 E. 3.2; 4A_645/2010 vom 23. Februar 2011 E. 2.6; 9C_611/2010 vom 15. Dezember 2010 E. 1; 4A_103/2009 vom 27. April 2009 E. 3.3; 4C.314/2003 vom 9. März 2004 E. 2.1). Das Landesrecht gewährt zwar unter bestimmten Voraussetzungen vertragliche und ausservertragliche Ansprüche zwischen Privatpersonen; es begrenzt diese aber zeitlich durch die Verjährung. Weil es sich um ein Institut des materiellen Zivilrechts handelt, ist auch die ausserprozessuale Erhebung der Verjährungseinrede möglich (EUGEN BUCHER, Schweizerisches Obligationenrecht, Allgemeiner Teil ohne Deliktsrecht, 2. Aufl. 1988, S. 446) und darf das

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Gericht die Verjährung nicht von Amtes wegen berücksichtigen (Art. 142 OR), sondern nur auf Einrede des Schuldners hin.
8.1.2 Art. 6 Ziff. 1 EMRK gewährt jedem das Recht, seine zivilrechtlichen Ansprüche ("droits de caractère civil", "civil rights") gerichtlich geltend zu machen, aber er begründet diese Ansprüche nicht selber. Voraussetzung für die Anwendbarkeit von Art. 6 Ziff. 1 EMRK ist also das Bestehen eines materiellrechtlichen Anspruchs nach innerstaatlichem Recht, wie die Grosse Kammer auch in neueren, nach dem Urteil Howald Moor ergangenen Urteilen bestätigt hat (Conseil de l'Europe, Guide sur l'article 6 de la Convention européenne des droits de l'homme, aktualisiert am 31. August 2019, S. 29 § 109, www.echr.coe.int unter Jurisprudence/Analyse jurisprudentielle/Guides sur la jurisprudence [besucht am 17. Oktober 2019]; Urteile des EGMR Károly Nagy gegen Ungarn vom 14. September 2017, § 60 f.; Griechisch-katholische Kirchgemeinde Lupeni und andere gegen Rumänien vom 29. November 2016, § 88 und 100; so auch bereits Roche gegen Vereinigtes Königreich vom 19. Oktober 2005, Recueil CourEDH 2005-X S. 161 § 117 ff.; Z und andere gegen Vereinigtes Königreich vom 10. Mai 2001, Recueil CourEDH 2001-V S. 57 § 87 und 98; je mit weiteren Hinweisen; GRABENWARTER/ PABEL, Europäische Menschenrechtskonvention, 6. Aufl. 2016, S. 471 § 24 Rz. 5; FROWEIN/PEUKERT, Europäische Menschenrechtskonvention, 3. Aufl. 2009, N. 7 zu Art. 6 EMRK; FRANK MEYER, in: EMRK, Karpenstein/Mayer [Hrsg.], 2. Aufl. 2015, N. 51 zu Art. 6EMRK; WILLIAM A. SCHABAS, The European Convention on Human Rights, 2015, S. 273; ROBERT REBHAHN, Zivilrecht und Europäische Menschenrechtskonvention, Archiv für die civilistische Praxis 2010 S. 489 ff., 497). Es muss zumindest in vertretbarer Weise ("de manière défendable") gesagt werden können, dass ein vom Landesrecht anerkannter Anspruch besteht (zit. Urteile Károly Nagy gegen Ungarn, § 60, 62 und 64 f. und Roche gegen Vereinigtes Königreich, § 117 und 120; je mit Hinweisen; GRABENWARTER/PABEL, a.a.O., S. 471 § 24 Rz. 5 f.; SCHABAS, a.a.O., S. 273).
Das Urteil Howald Moor bedeutet nun aber, dass über die Auslegung von Art. 6 Ziff. 1 EMRK zivilrechtliche Ansprüche zugestanden werden, die das materielle Landesrecht nicht gewährt, auch nicht "de manière défendable". Insofern besteht auch ein Unterschied zum kurz zuvor ergangenen und im Urteil Howald Moor (dort § 70 und 73) zitierten Urteil Esim gegen Türkei vom 17. September 2013, wo die türkischen Gerichte (oberstes Verwaltungsgericht bzw. oberstes

BGE 146 III 25 (34):

militärisches Verwaltungsgericht) trotz identischer gesetzlicher Grundlage den Beginn der Verjährungsfrist unterschiedlich ausgelegt hatten (Urteil Esim gegen Türkei, § 24 i.V.m. 12). Im ebenfalls zitierten Urteil Stagno gegen Belgien vom 7. Juli 2009 lagen sodann ganz besondere Umstände des Einzelfalls vor (ebenso: Urteil Howald Moor, "Opinion dissidente" von Richter Lemmens, § 3).
8.2.1 Die Lehrmeinungen darüber, wie das Urteil Howald Moor zu interpretieren ist, sind geteilt. Ein Teil der Lehre nimmt an, nur noch kenntnisabhängige relative Fristen würden dem Urteil entsprechen, denn auch bei einer beispielsweise auf dreissig statt zehn Jahren angesetzten absoluten Frist bleibe der Kritikpunkt des EGMR ("[...]toute action en dommages-intérêts sera a priori vouée à l'échec, étant périmée ou prescrite avant même que les victimes de l'amiante aient pu avoir objectivement connaissance de leurs droits", Urteil Howald Moor, § 74) bestehen, dass mangels Kenntnis der Rechtsweg faktisch abgeschnitten sei (THOMAS PROBST, Die Revision des Verjährungsrechts und die Behandlung von Spätschäden, in: Strassenverkehrsrechtstagung 2014, S. 1 ff., 34; WIDMER LÜCHINGER, a.a.O., S. 474 f.; NICOLA MOSER, Die Verjährung von haftpflichtrechtlichen Forderungen bei einer Verletzung der körperlichen Integrität, 2017, S. 78 f.; ROBERT KORVES, Ewiges Recht? Zur Anspruchsverjährung bei der Haftung für Umwelteinwirkungen, Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht 4/2015 S. 200 ff., 201; LAURE MILANO, Délai de prescription en matière d'indemnisation des atteintes à l'intégrité physique [...],Revue trimestrielle des droits de l'homme 2015 S. 421 ff., 430 f.). Nach einer anderen Auffassung ist jedenfalls eine absolute Frist von dreissig Jahren, wie sie der Bundesrat ursprünglich für das revidierte Recht vorsah, konventionskonform (CHRISTOPH MÜLLER, Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte verurteilt die Schweiz wegen der absoluten Verjährung der Ansprüche von Asbestopfern, Jusletter 24. März 2014 S. 7 Rz. 41). Dies entsprach auch der Auslegung des Bundesamtes für Justiz im Hinblick auf die Revision des Verjährungsrechts (vgl. die Wiedergabe einer entsprechenden Aussage der damaligen Leiterin des Direktionsbereichs Privatrecht, Monique Jametti, in der ständerätlichen Rechtskommission durch Ständerat Levrat, AB 2015 S 1295).

BGE 146 III 25 (35):

Es wird aber festgehalten, letztlich lasse sich dem Urteil diesbezüglich keine klare Aussage entnehmen (MOSER, a.a.O., S. 77; WIDMER LÜCHINGER, a.a.O., S. 474; KORVES, a.a.O., S. 201; FRÉDÉRIC KRAUSKOPF, EMRK-widriges Verjährungsrecht! - Die Schweiz muss die Verjährung im Schadensrecht überdenken, Jusletter 24. März 2014 S. 5 f. Rz. 18; MEYER, a.a.O., N. 54 zu Art. 6 EMRK: der EGMR habe "Zweifel an der Konventionskonformität absoluter (zivilrechtlicher) Verjährungsfristen geäussert").
Das Urteil Howald Moor (§ 54 ff.) referiert die Revisionsvorlage des Bundesrats zum Verjährungsrecht (absolute Verjährungsfrist von dreissig Jahren bei Körperschäden, keine Übergangsregelung). In der Würdigung verweist der EGMR dann darauf, dass die Revisionsvorlage keine angemessene Lösung vorsehe für Asbestopfer, deren Ansprüche nach dem geltenden schweizerischen Verjährungsrecht bereits verjährt seien ("[...] ne prévoit aucune solution équitable - ne serait-ce qu'à titre transitoire, sous la forme d'un 'délai de grâce'"; Urteil Howald Moor, § 75). Es hätte keinen Sinn gemacht, auf diese Möglichkeit hinzuweisen, die ebenfalls zur Anwendung einer absoluten Verjährungsfrist geführt hätte, wenn eine absolute Verjährungsfrist zum Vornherein als unzulässig betrachtet worden wäre.
Der Entscheid Howald Moor bezieht sich in § 72 sodann unter anderem auf das Urteil Stubbings und andere gegen Vereinigtes Königreich vom 22. Oktober 1996, Recueil CourEDH 1996-IV S. 1487. Dort qualifizierte der Gerichtshof betreffend Ansprüche aufgrund des erlittenen sexuellen Missbrauchs eine sechsjährige Verjährungsfrist, die mit dem achtzehnten Altersjahr der Klägerinnen zu laufen begann, als nicht EMRK-widrig. Dies obwohl die Klägerinnen geltend gemacht hatten, ihnen sei es aufgrund der psychologischen Nachwirkungen des erlittenen sexuellen Missbrauchs nicht möglich gewesen, innert dieser Frist ihre Ansprüche gegen die Schädiger zu erkennen. Der EGMR verwies darauf, dass unter den Mitgliedländern sowohl das System absoluter wie relativer Verjährungsfristen bekannt sei und schützte das System der absoluten Frist, unabhängig von der Kenntnisnahme (Urteil Stubbings, § 54). Die Erwähnung

BGE 146 III 25 (36):

dieses früheren Entscheids wäre nicht einsichtig, wenn absolute Fristen generell hätten ausgeschlossen werden sollen.
Jene Lehrmeinungen, die aus dem Urteil Howald Moor ableiten, nur eine (kenntnisabhängige) relative Frist wäre EMRK-konform, berufen sich vor allem auf das Sondervotum von Richter Spano (Urteil Howald Moor, "Opinion concordante" von Richter Spano). Dieser habe zwar im Ergebnis der Kammermehrheit zugestimmt, wolle aber zum massgeblichen Kriterium erheben, ob die Länge einer Höchstfrist im Hinblick auf die Mehrzahl der von ihr erfassten Sachverhalte angemessen sei; konventionswidrig seien nur übertrieben kurze Fristen. Diese Meinung sei aber von der Mehrheit der Kammer nicht übernommen worden und deshalb könne es nicht auf die Länge der absoluten Frist ankommen (KORVES, a.a.O., S. 201; WIDMER LÜCHINGER, a.a.O., S. 474 f.; MOSER, a.a.O., S. 78 f.). Richter Spano erklärte eingangs seines Sondervotums, Ziel seiner Ausführungen sei darzulegen, wie er § 78 des Urteils Howald Moor verstehe. An dieser Stelle wird auch auf die schweizerische Gesetzgebung in analogen Fällen verwiesen ("Prenant en compte la législation existant en Suisse pour des situations analogues et sans vouloir préjuger d'autres solutions envisageables [...]").Der Verweis auf die schweizerische Gesetzgebung bezieht sich wohl auf das im Urteil Howald Moor angeführte (vgl. dort § 62 mit Hinweis auf § 52) Strahlenschutzgesetz vom 22. März 1991 (StSG; SR 814.50), welches für Ansprüche auf Schadenersatz und Genugtuung eine absolute Verjährungsfrist von dreissig Jahren vorsieht. Richter Spano kann nun ohne weiteres so verstanden werden, dass es ihm nicht darum geht, eine fixe absolute Frist für alle derartigen Fälle zu fordern, sondern dass diese absolute Frist in Abhängigkeit von der Latenzzeit im Fall der betroffenen Schädigung so festzulegen ist, dass die Mehrzahl der Fälle erfasst wird.
Bei diesem Ergebnis kann offenbleiben, inwieweit mit dem Entschädigungsfonds für Asbestopfer generell eine der "autres solutions envisageables" für Schädigungen unter dem bisherigen Recht geschaffen wurde, unabhängig davon, ob die Beschwerdeführer gestützt auf dessen Entschädigungsreglement im Einzelfall überhaupt

BGE 146 III 25 (37):

Ansprüche hätten, was zwischen den Parteien umstritten ist im Hinblick darauf, dass die von ihnen eingeklagten Abfindungen grundsätzlich nur bei Erkrankungen nach dem Jahr 2006 erbracht werden bzw. eine Härtefallklausel besteht (vgl. E. 3.3 hiervor). Immerhin machen die Beschwerdeführer nicht geltend, dass sie nicht gestützt auf die Härtefallklausel eine Entschädigung hätten erlangen können.