BGE 80 IV 130 |
25. Auszug aus dem Urteil des Kassationshofes vom 11. Juni 1954 i. S. Staatsanwaltschaft des Kantons Thurgau gegen Lüscher. |
Regeste |
Art 25 Abs. 1, 20 MFG. |
Sachverhalt |
A.- Alice Lüscher fuhr am 24. Juli 1953 etwa um 13 Uhr am Steuer eines 5 m langen und 1,85 m breiten Personenwagens von Frasnacht gegen Arbon. Als sie auf gerader 5,7 m breiter Strasse mit etwa 1 m Abstand vom rechten Rande der Fahrbahn an dem die Häuser Dobler und Schnelli umgebenden rechts an die Strasse stossenden und von dieser durch eine 1, 7 m hohe Hecke getrennten Garten vorbeifuhr, stiess sie mit einer Geschwindigkeit von 60 bis 70 km/Std. mit dem neunjährigen Hans Dobler zusammen, der, auf dem Pedal eines Fahrrades stehend, im Begriffe war, hinter der Hecke hervor durch das Gartentor auf die Strasse zu fahren, und diese, als er vom Automobil erfasst wurde, mit dem Vorderrad erreicht hatte. Der Knabe erlitt so schwere Verletzungen, dass seine Heilung zwei bis drei Monate dauerte. Frau Lüscher wurde erst durch den Lärm des Zusammenstosses auf ihn aufmerksam. Sie hatte auf Arbeiter geblickt, die weiter vorn bei einem Neubau am Strassenrande standen, und hatte zudem, weil ihr Wagen linksgesteuert ist, nach rechts nur schlechte Sicht gehabt. Die Unfallstelle befindet sich ausserorts, ungefähr einen halben Kilometer von der Strassengabel beim Scheidweg entfernt. |
B.- Bezirksgericht Arbon und auf Berufung der Staatsanwaltschaft auch das Obergericht des Kantons Thurgau, letzteres mit Urteil vom 14. Januar 1954, sprachen Alice Lüscher von der Anklage der fahrlässigen Körperverletzung frei.
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C.- Die Staatsanwaltschaft führt Nichtigkeitsbeschwerde mit dem Antrag, das zweitinstanzliche Urteil sei aufzuheben und die Sache zu neuer Beurteilung an das Obergericht zurückzuweisen.
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Sie macht unter anderem geltend, die Angeklagte sei zu schnell gefahren, Frau Lüscher habe entgegen Art. 25 MFG nicht darauf Rücksicht genommen, dass sie, obschon sie sich ausserorts befand, an den Häusern Dobler und Schnelli vorbeifuhr und sich einem im Bau befindlichen weiteren Haus, ferner dem Restaurant Scheidweg und schliesslich zwei in der Strassengabel links der Fahrbahn stehenden weiteren Häusern näherte. Sie habe damit rechnen müssen, dass bei solchen örtlichen Verhältnissen ein Hindernis erscheinen, insbesondere ein unerfahrenes Kind sich plötzlich auf die Strasse begeben könnte. Wäre die Angeklagte langsamer, d.h. mit 30 km/Std. gefahren, so hätte sie durch Abbremsen und Linkssteuern des Wagens den Zusammenstoss vermeiden oder abschwächen können. Auch hätte sie Signal geben sollen. |
D.- Alice Lüscher beantragt, die Nichtigkeitsbeschwerde sei abzuweisen.
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Der Kassationshof zieht in Erwägung: |
1. Gemäss Art. 25 Abs. 1 MFG muss der Führer die Geschwindigkeit des Motorfahrzeuges den gegebenen Strassen- und Verkehrsverhältnissen anpassen. Das hat die Beschwerdegegnerin getan. Die von ihr eingehaltene Geschwindigkeit von 60 bis 70 km/Std. war, da sie auf gerader und gut ausgebauter Strasse ausserorts fuhr, nicht übersetzt. Dass sie mit bloss einem Meter Zwischenraum am Tor eines durch eine hohe Hecke begrenzten Gartens vorbeiflitzte, ändert nichts. Es ist Sache dessen, der von verdeckter Stelle aus die Strasse betreten oder befahren will, sich so vorsichtig herauszubegeben, dass ihm aus dem modernen, auf Flüssigkeit und Tempo eingestellten Motorfahrzeugverkehr kein Schaden erwachse (BGE 61 I 432, BGE 64 I 353, 358). Diese Rechtsprechung gilt auch gegenüber Kindern, obwohl ihnen die Einsicht in die Gefahren der Strasse oder die Fähigkeit, diesen Gefahren durch vernünftiges Verhalten zu begegnen, weitgehend fehlt. Denn dem Motorfahrzeugführer kann nicht zugemutet werden, bloss wegen der entfernten Möglichkeit, dass ein Kind, das er nicht sieht und nicht sehen kann, unbedacht in die Fahrbahn laufen oder fahren könnte, die Geschwindigkeit so stark herabzusetzen, dass Unfälle unter allen Umständen vermieden werden. Ein vernünftiger Verkehr mit Motorfahrzeugen wäre sonst praktisch in besiedeltem oder sonstwie unübersichtlichem Gebiete überhaupt unmöglich. Das erhellt schon daraus, dass die Vorinstanz verbindlich feststellt, die Angeklagte hätte den Zusammenstoss auch bei Einhaltung einer wesentlich geringeren Geschwindigkeit nicht verhindern können. Es leuchtet denn auch ein, dass die Beschwerdegegnerin sogar bei Einhaltung einer Geschwindigkeit von 30 km/Std., wie die Staatsanwaltschaft sie in Verkennung der modernen Verkehrsbedürfnisse verlangt, vor dem auf dem Fahrrad hinter der Hecke hervorkommenden Knaben weder hätte anhalten, noch rechtzeitig nach links hätte ausweichen können (vgl. BGE 61 I 439 f.). Bloss wenn die Möglichkeit eines auf unbedachtes Benehmen von Kindern zurückzuführenden Unfalles zu einer konkreten Gefahr wird oder werden kann, hat der Führer des Motorfahrzeuges ihr Rechnung zu tragen, und dann mit allen Mitteln, selbst unter Hintanstellung seiner persönlichen Interessen (Geschäftsdrang, Bequemlichkeit usw.), z.B. wenn er Kinder auf oder in nächster Nähe der Fahrbahn sich aufhalten oder sich bewegen sieht (BGE 77 IV 37) oder die dringende Möglichkeit des Erscheinens von Kindern aus besonderen Umständen (Signale, Schulhäuser, Spielplätze usw.) hervorgeht. Ein vereinzeltes Gartentor an einer Überlandstrasse, selbst wenn es zwischen hohen Hecken liegt, rückt für sich allein die Möglichkeit des Erscheinens eines unüberlegt handelnden Kindes nicht so sehr in die Nähe, als dass ihr der Führer durch Herabsetzung seiner Geschwindigkeit Rechnung zu tragen hätte. Dass in der Nähe ein weiteres Haus gebaut wurde, ändert nichts, und dass, was aus Urteil und Akten nicht hervorgeht, nach der Behauptung der Staatsanwaltschaft beim Scheidweg weitere Häuser stehen sollen, muss schon deshalb ausser Betracht fallen, weil nach der verbindlichen Feststellung der Vorinstanz die Beschwerdegegnerin bis zu dieser Strassengabel noch etwa einen halben Kilometer zurückzulegen hatte. |
2. War die Beschwerdegegnerin nicht verpflichtet, auf das Gartentor durch Herabsetzung der Geschwindigkeit Rücksicht zu nehmen, so konnte ihr auch nicht zugemutet werden, deswegen Signal zu geben. Die Warnpflicht (Art. 20 MFG) wird nicht durch jede bloss abstrakte Möglichkeit eines Unfalles ausgelöst, ansonst der Lärm auf der Strasse unerträglich würde. Insbesondere ist der Führer nicht verpflichtet, vor jedem Haus oder jeder anderen unübersichtlichen Stelle, von der her jemand unversehens auf die Strasse treten könnte, zu warnen (BGE 61 I 432, 438, BGE 64 I 353). |
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Demnach erkennt der Kassationshof:
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