BGE 85 IV 236
 
61. Auszug aus dem Urteil des Kassationshofes vom 24. Dezember 1959 i.S. Jäggi gegen Staatsanwaltschaft des Kantons Schwyz.
 
Regeste
Art. 20, 25 Abs. 1, 26 Abs. 4 MFG; Art. 46 Abs. 3 MFV.
 
Sachverhalt


BGE 85 IV 236 (236):

A.- Jäggi führte am 27. Oktober 1958 um 16.15 Uhr einen rechtsgesteuerten Saurer-Lastwagen auf der 7 m breiten, gerade verlaufenden und übersichtlichen Kantonsstrasse in Altendorf innerorts Richtung Lachen. Auf eine Entfernung von ca. 70 m gewahrte er vor sich eine Gruppe von 6 Schulkindern, die in gleicher Richtung wie er dem rechten Strassenrand entlang zu zweit hintereinander gingen. Eines entgegenkommenden Lastwagens wegen, mit dem er zu kreuzen hatte, setzte Jäggi seine Fahrgeschwindigkeit herab, angeblich zunächst auf ca. 20-25 km/h, dann auf ca. 15 km/h. Nach dem Kreuzen bog er etwas nach links aus und überholte, ohne zuvor ein Warnzeichen gegeben zu haben, die Gruppe der Schulkinder in einem seitlichen Abstand von ca. 50 cm. Während der Vorbeifahrt machte die am 31. Juli 1951 geborene Esther Elisabeth Bommer, die am Schluss der Gruppe links aussen ging und sich mit den andern Kindern unterhielt, zwei bis drei Schritte gegen die Strassenmitte zu. Sie schlug mit dem Kopf an der Brücke des Lastwagens auf, wurde nach vorn zu Boden geworfen und von den rechten Hinterrädern des Lastwagens überfahren. Sie

BGE 85 IV 236 (237):

erlitt eine Schädelbasisfraktur mit Hirnkontusion, sehr wahrscheinlich auch eine Thoraxkontusion. Der Tod trat sofort ein.
B.- Das Kantonsgericht Schwyz erklärte Jäggi mit Urteil vom 25. Mai 1959 der fahrrlässigen Tötung (Art. 117 StGB) und der fahrrlässigen Störung des öffentlichen Verkehrs (Art. 237 Ziff. 2 StGB) schuldig und verurteilte ihn zu einer bedingt aufgeschobenen Gefängnisstrafe von 1 Monat und zu einer bedingt vorzeitig löschbaren Busse von Fr. 200.--. Es warf ihm vor, er habe pflichtwidrig das Warnen unterlassen und die Kindergruppe mit einem ungenügenden seitlichen Abstand überholt.
C.- Jäggi führt gegen dieses Urteil Nichtigkeitsbeschwerde.
 
Der Kassationshof zieht in Erwägung:
Ob ein Abstand angemessen ist, hängt neben der Geschwindigkeit, mit der überholt wird, wesentlich von der Art des zu überholenden Strassenbenützers und seinem erkennbaren oder voraussehbaren Verhalten ab. Je geringer der seitliche Abstand zu diesem bemessen wird, desto näher liegt die Gefahr eines Zusammenstosses und desto schwieriger wird es, einer Fehlreaktion desselben durch Verzögerung der Fahrt, Anhalten, Ausweichen oder Warnen wirrksam zu begegnen. Das gilt nicht nur für das Überholen von Fahrzeugen, sondern namentlich auch für dasjenige von Fussgängern, zumal dann, wenn es sich um

BGE 85 IV 236 (238):

eine Gruppe von kaum in das schulpflichtige Alter getretenen Kindern handelt, die überholt werden, ohne rechtzeitig das überholende Fahrzeug wahrgenommen zu haben oder auf dessen Herannahen durch Warnsignale aufmerksam gemacht worden zu sein. Die Anwesenheit von Kindern auf der Strasse verpflichtet den Motorfahrzeugführer ohnehin zu vermehrter Vorsicht. Ihnen fehlt die geistige Reife, um die Gefahren des motorisierten Strassenverkehrs voll zu erkennen, sich jederzeit ihrer bewusst zu sein und vernunftgemäss danach zu handeln. Dem hat der Motorfahrzeugführer Rechnung zu tragen, indem er beim Überholen den Sicherheitsabstand so weit bemisst, dass dem Kind nicht jede unbedachte oder ungeschickte Bewegung zum Verhängnis wird. Keinesfalls darf er, ohne die Gewissheit zu haben, dass sein Herannahen auch wirklich wahrgenommen worden ist, knapp rechnen und voraussetzen, das Kind werde nicht, ohne sich umzusehen, seine Richtung ändern und über die Strasse laufen (BGE 77 IV 37).
Ein Abstand von bloss 50 cm, wie ihn der Beschwerdeführer einhielt, war den Umständen nicht angemessen. Er war selbst dann offensichtlich ungenügend, wenn anzunehmen ist, Jäggi habe die Kindergruppe mit einer Geschwindigkeit von nur 15 km/h überholt. Der Beschwerdeführer, der es im übrigen auch unterliess zu warnen, hatte nach der verbindlichen Feststellung der Vorinstanz keine Gewissheit, dass sein Herannahen von den in der gleichen Richtung gehenden Kindern wahrgenommen worden sei. Umsomehr musste er sich darauf gefasst machen, dass in ihrer Ahnungs- und Sorglosigkeit eines derselben unversehens seine Gehrichtung ändern und der Strassenmitte zustreben kÖnnte. Statt einen möglichst grossen seitlichen Abstand zu gewinnen, wie es sich unter solchen Umständen aufdrängte (vgl.BGE 67 II 55), bemass Jäggi den Sicherheitsabstand derart knapp, dass schon zwei bis drei der Strassenmitte zugewandte Schritte eines siebenjährigen Mädchens genügten, um den Zusammenstoss herbeizuführen. Das war pflichtwidrig unvorsichtig. Der Beschwerdeführer handelte damit nicht nur der Vorschrift zuwider,

BGE 85 IV 236 (239):

beim Überholen einen angemessenen Abstand einzuhalten (Art. 25 Abs. 1 Satz 3 MFG), sondern missachtete auch das Gebot, besonders vorsichtig zu fahren und auf die übrigen Strassenbenützer Rücksicht zu nehmen (Art. 46 Abs. 3 MFV; Art. 26 Abs. 4 Satz 2 MFG).
Die Vorinstanz stellt fest, Jäggi hätte nach den übereinstimmenden Aussagen mehrerer Zeugen durchaus die Möglichkeit gehabt, einen erheblich grösseren seitlichen Abstand einzuhalten, da ausreichend Platz vorhanden gewesen sei, um weiter nach links auszuholen. Damit erledigt sich die Behauptung des Beschwerdeführers, er habe nicht weiter nach links ausbiegen können, weil er beim Kreuzen mit dem Lastenzug, dem er nach rechts ausgewichen sei, hinter der Kindergruppe "sozusagen angehalten" habe und daraufhin nicht, ohne zu einem Verkehrshindernis zu werden, sein Fahrzeug mit 45o habe abdrehen und ausspuren können. War dem so, musste er, wie ihm die Vorinstanz zutreffend entgegenhält, mit dem Überholen der Kinder so lange zuwarten, bis er dies in einem grösseren seitlichen Abstand hätte tun können. Ebenso versagt seine Behauptung, der Unfall hätte sich "aller Wahrscheinlichkeit nach" selbst bei einem ausreichend bemessenen Sicherheitsabstand ereignet, da der Umstand, dass das Kind nur zwei bis drei Schritte gegen die Strassenmitte zu tat, darauf zurückzuführen sei, dass ihm nicht mehr Raum zur Verfügung gestanden habe. Nicht nur wird die Hypothese, das Kind hätte noch weitere Schritte nach der Strassenmitte getan, durch die tatsächlichen Annahmen der Vorinstanz nicht gestützt. Sie kann dem Beschwerdeführer auch deshalb nicht helfen, weil sie selbst dann, wenn sie richtig wäre, nur wieder bestätigen könnte, dass beim Überholen namentlich von Kindern der seitliche Abstand nicht zu knapp bemessen werden darf.
2. Mit Recht wirft die Vorinstanz dem Beschwerdeführer vor, er habe, indem er es unterliess zu warnen, auch gegen Art. 20 MFG verstossen. Zwar räumt die Rechtsprechung dem Motorfahrzeugführer in der Beurteilung der Frage, ob eine Signalabgabe notwendig oder überflüssig

BGE 85 IV 236 (240):

erscheine, ein gewisses Ermessen ein und macht ihm aus dem Nichtgebrauch der Warnvorrichtung keinen Vorwurf, wenn beachtliche Gründe ihn zur Auffassung bringen konnten, er brauche sich nicht anzukünden (BGE 64 I 217;BGE 75 IV 186). Solche Gründe bestanden für den Beschwerdeführer indessen nicht. Er hatte keine Gewissheit, dass sein Herannahen von den Kindern wahrgenommen worden war. Ihre Blicke waren nicht ihm zugewendet, sondern vorwärts gerichtet und überdies unterhielten sich die Kinder in einem Gespräch, das sie leichthin von der Beobachtung der Strasse und namentlich des hinter ihrem Rücken sich abwickelnden Verkehrs ablenken konnte. Jäggi durfte sich nicht darauf verlassen, sie seien durch das Geräusch des Lastwagens genügend gewarnt worden. Dieses kündete weder den geringen seitlichen Abstand an, mit dem er zu überholen im Begriffe war, noch konnte es an sich anzeigen, dass eine ganz besondere Gefahr drohe. Die Kinder hatten nach ihren von der Vorinstanz als glaubwürdig erachteten Aussagen das Motorengeräusch nicht einmal gehört. Der Beschwerdeführer konnte auch nicht damit rechnen, ein Kind werde sich umsehen, bevor es seine Richtung ändern und allenfalls der Strassenmitte zustreben werde. Er musste wissen, dass Kinder im Alter des Mädchens Bommer oft unbedachte Bewegungen machen, insbesondere dann, wenn sie die ihnen drohende Gefahr nicht erkennen oder von ihr überrascht werden. Eine Signalabgabe war, wie die Vorinstanz mit Recht bemerkt, umso notwendiger, als Jäggi die Kindergruppe in einem ungenügenden seitlichen Abstand überholte. Sie wäre unter den obwaltenden Umständen aber selbst dann geboten gewesen, wenn er den Sicherheitsabstand hinreichend bemessen hätte.
3./5. - .....
Demnach erkennt der Kassationshof:
Die Nichtigkeitsbeschwerde wird abgewiesen.