BGE 85 IV 244 |
63. Auszug aus dem Entscheid der Anklagekammer vom 15. Oktober 1959 i.S. Staatsanwaltschaft St. Gallen gegen Staatsanwaltschaft Schwyz. |
Regeste |
Art. 351, 371 Abs. 2, 372 Abs. 3 StGB. |
2. Wann ist jemand wegen mehrerer an verschiedenen Orten begangener strafbarer Handlungen verfolgt? (Erw. 2). |
3. Die Gerichtsbarkeit wird zwischen zwei Kantonen geteilt, weil das im einen Kanton eingeleitete Verfahren nur noch eines formellen Abschlusses bedarf (Erw. 3). |
Sachverhalt |
Im November 1954 missbrauchte der 1938 geborene Eugen B. ein Kind zu einer beischlafsähnlichen Handlung. Der Jugendrichter des Kantons Schwyz, Kreis III, zog ihn wegen dieser und weiterer Verfehlungen in Untersuchung. Nach Feststellung des Sachverhalts setzte sich der Richter mit der Vormundschaftsbehörde der Wohnsitzgemeinde Reichenburg ins Benehmen, die B. am 2. Dezember 1954 in eine Erziehungsanstalt einwies. Der Richter teilte darauf der Vormundschaftsbehörde mit, es würde sich zwar rechtfertigen, die Verfehlungen des Jugendlichen durch das Gericht beurteilen zu lassen, das jedenfalls gemäss Art. 91 StGB auf Anstaltsversorgung erkennen würde; da die Vormundschaftsbehörde diese Massnahme bereits angeordnet habe, lasse es sich jedoch verantworten, ihr die Aufsicht über B. zu überlassen. Am 29. Juli 1958 wurde B. aus der Anstalt entlassen.
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Im Juli 1959 exhibierte B. in Schmerikon und in der Umgebung von Uznach vor einer Frau und einem Kinde. In der deswegen eingeleiteten Untersuchung stellte das Bezirksamt See in Uznach fest, dass das im Kanton Schwyz angehobene Jugendstrafverfahren zu keinem formellen Abschluss gelangt ist. Die Staatsanwaltschaft des Kantons St. Gallen ersuchte deshalb die Staatsanwaltschaft des Kantons Schwyz, die Verfolgung der neuen Unzuchtshandlungen zu übernehmen, weil die mit der schwersten Strafe bedrohte Tat in diesem Kanton begangen worden sei. Die Staatsanwaltschaft des Kantons Schwyz lehnte die Übernahme ab und verlangte, die Verfolgung sämtlicher Straftaten sei in der Hand der sanktgallischen Behörden zu vereinigen. |
Die Anklagekammer zieht in Erwägung: |
1. Ist der Gerichtsstand unter den Behörden mehrerer Kantone streitig, so kommt es gemäss Art. 351 StGB und Art. 264 BStP der Anklagekammer des Bundesgerichts zu, den Kanton zu bezeichnen, der zur Verfolgung und Beurteilung berechtigt und verpflichtet ist. Von dieser allgemeinen Regelung sind die Anstände über die Zuständigkeit im Verfahren gegen Kinder und Jugendliche ausgenommen, welche Streitigkeiten nach Art. 372 Abs. 3 StGB vom Bundesrat zu beurteilen sind. Auf Grund dieser Bestimmung hat das Eidg. Justiz- und Polizeidepartement, dem der Bundesrat mit Beschluss vom 16. Juni 1942 die betreffenden Befugnisse übertragen hat, im Falle von Konflikten zwischen den Kantonen dafür zu sorgen, dass die Gerichtsstandsvorschriften der Absätze 1 und 2 richtig ausgelegt werden, und dass sie dort, wo sie anwendbar sind, auch tatsächlich angewendet werden (vgl.BGE 74 IV 184; im gleichen Sinne Entscheid des Eidg. Justiz- und Polizeidepartements vom 13. November 1958 i.S. Bärtsch und darin angeführter Entscheid vom 28. Januar 1955). Da die genannten Gerichtsstandsvorschriften lediglich für das in Art. 369 ff. StGB geregelte und kraft Bundesrechts Platz greifende Verfahren gegen Kinder und Jugendliche gelten, stellt sich die vom Eidg. Justiz- und Polizeidepartement zu beantwortende Frage der richtigen Auslegung und Anwendung von Art. 372 Abs. 1 und 2 StGB indes nur dann, wenn das Verfahren gegen Kinder und Jugendliche von Bundesrechts wegen anwendbar ist. |
Nach Art. 371 Abs. 2 StGB ist das Verfahren gegen Jugendliche auch anzuwenden, wenn der Beschuldigte, der zur Zeit der Tat ein Jugendlicher war, am Tage der richterlichen Beurteilung das achtzehnte Altersjahr erreicht, das zwanzigste aber noch nicht überschritten hat. Die Anwendung dieses Verfahrens wird dagegen von Bundesrechts wegen nicht gefordert, wenn der Täter bei der richterlichen Beurteilung das zwanzigste Altersjahr überschritten hat. Das ergibt sich aus einem Umkehrschluss aus Art. 371 Abs. 2 StGB und entspricht einer Beschränkung, die der Gesetzgeber bewusst getroffen hat (vgl. Sten.Bull. Sonderausgabe, StR 1931 S. 248, NatR 1934 S. 719/20).
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Eugen B. ist mehr als zwanzig Jahre alt. Die Kantone sind daher von Bundesrechts wegen nicht gehalten, ihn im Verfahren gegen Jugendliche zu beurteilen. Die dieses Verfahren betreffenden Gerichtsstandsvorschriften des Art. 372 Abs. 1 und 2 StGB gelangen darum im vorliegenden Fall nicht zur Anwendung. Bei dieser Sachlage bleibt für eine Überprüfung der richtigen Auslegung und Anwendung dieser Normen durch den Bundesrat bzw. das Eidg. Justiz- und Polizeidepartement kein Raum. Es greift vielmehr die allgemeine Regel des Art. 351 StGB und des Art. 264 BStP Platz, wonach die Anklagekammer des Bundesgerichts den Kanton bezeichnet, der zur Verfolgung und Beurteilung berechtigt und verpflichtet ist.
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2. Ein Gerichtsstandskonflikt im Sinne der letztgenannten Bestimmungen liegt nach der Rechtsprechung immer dann vor, wenn jemand wegen mehrerer an verschiedenen Orten begangener strafbarer Handlungen verfolgt wird. Ob jemand verfolgt sei, entscheidet die Anklagekammer unabhängig von der Stellungnahme der kantonalen Behörden und von kantonalen Rechtsbegriffen nach bundesrechtlichen Gesichtspunkten (BGE 68 IV 6,BGE 74 IV 187); sie stellt dabei nicht auf formale Merkmale (Hängigkeit oder Einstellung des Verfahren) ab, sondern darauf, ob nach der Aktenlage eine Strafverfolgung für die betreffende Tat (noch) in Frage komme. Die Anklagekammer kann dementsprechend nicht nur eine formell nicht angehobene Untersuchung, deren Eröffnung sich aufdrängt, bei der Bestimmung des Gerichtsstandes mitberücksichtigen (vgl. nicht veröffentlichtes Urteil vom 22. Januar 1944 i.S. Verhöramt Trogen gegen Staatsanwaltschaft des Kantons St. Gallen), sondern auch eine formell noch nicht abgeschlossene Untersuchung als erledigt betrachten und bei der Bestimmung des Gerichtsstandes ausser Acht lassen (vgl. nicht veröffentlichtes Urteil vom 9. Mai 1947 i.S. Anklagekammer des Obergerichts des Kantons Bern gegen Staatsanwaltschaften der Kantone Zürich und Thurgau; COUCHEPIN, ZStrR 63 S. 105). |
Im vorliegenden Falle machen die Behörden der beteiligten Kantone geltend, die Untersuchung über die Verfehlungen, die B. als Jugendlicher im Kanton Schwyz beging, sei abgeschlossen, und die darauf bezüglichen Massnahmen seien vorwegnehmend bereits vollzogen worden. Ein Urteil ist jedoch in der Sache noch nicht gefällt worden. Da Art. 251 BStP voraussetzt, dass in derartigen Fällen ein (formeller) Entscheid ergeht, kann die betreffende Strafverfolgung vor dem Erlass eines solchen vom Standpunkt des Bundesrechts aus nicht als beendigt bezeichnet werden. Neben dem erwähnten Verfahren läuft jenes, das die sanktgallischen Behörden gegen B. angehoben haben. Das Vorliegen eines Gerichtsstandskonflikts kann mithin nicht bestritten werden.
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3. Nach Art. 63 und Art. 90 ff. sowie Art. 42 ff. StGB obliegt es dem Richter, die dem Verschulden und der Persönlichkeit des Täters entsprechende Strafe oder Massnahme zu finden. Um die richtige Erfüllung dieser Aufgabe zu gewährleisten, sehen die Art. 336 (lit. c, d), 344 und 350 StGB vor, dass eine Mehrheit von strafbaren Handlungen durch ein und denselben Richter zu beurteilen ist. Dies gilt allgemein auch dann, wenn der Täter teils vor und teils nach Erreichung des achtzehnten Altersjahr straffällig geworden ist. Nach welchen Regeln sich diesfalls die örtliche Zuständigkeit bestimmt, kann offen bleiben, da der Grundsatz der einheitlichen Verfolgung und Beurteilung einer Mehrheit strafbarer Handlungen im vorliegenden Falle nicht zur Anwendung gelangen kann. |
Im Gegensatz zum Regelfalle stellt sich hier dem Richter nicht die Aufgabe, eine Strafe oder Massnahme für die Taten zu finden, die der Beschuldigte vor Erreichung des achtzehnten Altersjahrs begangen hat, und diese auf die Strafe oder Massnahme abzustimmen, die den Beschuldigten für die später begangenen Verfehlungen trifft. Wegen der strafbaren Handlungen, die er sich als Jugendlicher hatte zuschulden kommen lassen, wurde B. in eine Erziehungsanstalt eingewiesen; diese Massnahme ist bereits vollzogen worden. Es kann sich somit hinsichtlich dieser Delikte nur noch darum handeln, das deswegen eingeleitete Verfahren unter Behebung allfällig ihm anhaftender prozessualer Mängel formell zu einem Abschluss zu bringen. Was zu diesem Behufe vorzukehren ist, hätte in gleicher Weise auch angeordnet werden müssen, wenn B. nicht erneut straffällig geworden wäre; das betreffende Verfahren kann daher ohne Bezugnahme auf die neue Untersuchung zu Ende geführt werden. Bei Beurteilung der neuen Delikte sind anderseits die früheren strafbaren Handlungen und die deswegen angeordneten Massnahmen lediglich als Teil des Vorlebens zu würdigen; es besteht mithin kein Anlass, das betreffende Verfahren mit dem materiell abgeschlossenen früheren Verfahren zu verknüpfen.
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Diese Umstände rechtfertigen es, von der in Art. 263 BStP enthaltenen Ermächtigung Gebrauch zu machen, die Gerichtsbarkeit zu trennen (BGE 68 IV 127;BGE 69 IV 47, 86;BGE 70 IV 90). Die Zuständigkeit zur Verfolgung und Beurteilung ist demgemäss für jede der beiden Gruppen von Delikten gesondert zu regeln. Wegen der Verfehlungen, die B. als Jugendlicher beging, haben die Behörden des Kantons Schwyz, wo der Genannte seinen Wohnsitz hatte, in Anwendung des Art. 372 Abs. 1 StGB ein Verfahren eingeleitet; es obliegt den Behörden dieses Kantons, dieses Verfahren formell zu einem Abschluss zu bringen. Die strafbaren Handlungen, die sich B. als Erwachsener in Schmerikon und in der Umgebung von Uznach hat zuschulden kommen lassen, sind von den sanktgallischen Instanzen als den Behörden des Orts, wo die Tat verübt worden ist, zu verfolgen und zu beurteilen (Art. 346 Abs. 1 StGB). |