BGE 87 IV 45
 
12. Auszug aus dem Entscheid der Anklagekammer vom 10. Mai 1961 i.S. X. gegen Kriminalgericht des Kantons Luzern und Staatsanwaltschaft des Kantons Tessin.
 
Regeste
Die kantonale Strafbehörde, die erfährt, dass der Beschuldigte noch in einem oder in mehreren andern Kantonen ein Offizialdelikt begangen hat, ist verpflichtet, von Amtes wegen mit den Behörden des oder der andern Kantone zur Regelung der interkantonalen Gerichtsstandsfrage in Verbindung zu treten.
 


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Aus den Erwägungen:
1. Nach Art. 68 und 350 StGB ist derjenige, der mehrerer strafbarer Handlungen beschuldigt wird, in der Regel an einem gemeinsamen Gerichtsstand zu verfolgen und zu beurteilen. Daraus folgt, dass der Beschuldigte einen Anspruch darauf hat, für die verschiedenen Delikte von einem einzigen Richter beurteilt zu werden, anderseits aber auch, dass die kantonalen Strafbehörden bundesrechtlich verpflichtet sind, dafür zu sorgen, dass der Anspruch des Beschuldigten erfüllt werden kann. Das bedeutet, dass die mit der Durchführung eines Strafverfahrens betraute Behörde jedes Mal, wenn sie erfährt, dass der Beschuldigte noch in einem andern Kanton ein Offizialdelikt begangen hat, mit den Behörden dieses Kantons in Verbindung zu treten hat, um durch Vereinbarung oder, wenn eine solche nicht zustandekommt, durch Anrufung der Anklagekammer des Bundesgerichtes den interkantonalen Gerichtsstand zu bestimmen (PANCHAUD, Journal des Tribunaux 1959 S. 71/72). Eine solche Fühlungnahme gebietet auch die Rücksicht auf die Interessen des oder der andern beteiligten Kantone.
Im vorliegenden Falle haben die Luzerner Behörden nichts unternommen, um mit den Tessiner Behörden rechtzeitig den Gerichtsstand zu regeln, trotzdem sie seit April 1960 darüber orientiert waren, dass gegen den Gesuchsteller im Tessin eine Strafklage wegen Pfändungsbetruges, der von Amtes wegen zu verfolgen ist, anhängig war. Die Anwendung von Art. 350 StGB war nicht deswegen hinfällig, weil der Beschuldigte im Juni 1960 bestritt, sich der im Tessin eingeklagten Tat schuldig gemacht zu haben, und weil sein damaliger Verteidiger vorbrachte, die Tessiner Behörden hätten keine Untersuchungshandlungen

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vorgenommen. Mit dem Eingang der Strafklage war die Untersuchung angehoben und der Beschuldigte verfolgt, gleichgültig, ob dieser die Tat bestritt und ob die Tessiner Behörden irgendwelche Ermittlungshandlungen durchführten oder nicht (BGE 71 IV 59, 167; BGE 72 IV 95; BGE 75 IV 141). Nur wenn bereits ein Gerichtsurteil oder ein Einstellungsbeschluss ergangen wäre, hätte sich den Luzerner Behörden die Frage des interkantonalen Gerichtsstandes nicht mehr gestellt.
Ebensowenig war es Sache der Luzerner Behörden, von sich aus darüber zu entscheiden, ob aus Zweckmässigkeitsgründen vom gesetzlichen Gerichtsstand abgewichen und der Beschuldigte für die mehreren strafbaren Handlungen in zwei verschiedenen Kantonen verfolgt und beurteilt werden soll. Die Befugnis, den Gerichtsstand anders als nach den gesetzlichen Normen zu bestimmen, steht nach Art. 262 f. BStP nur der Anklagekammer des Bundesgerichtes zu. Wohl hat die Rechtsprechung die gleiche Befugnis auch den Kantonen zuerkannt, aber nur unter der Voraussetzung, dass unter den zuständigen Behörden der interessierten Kantone eine Einigung erzielt wird (vgl. PANCHAUD a.a.O. S. 70 und Schweiz. Jur. Kart. Nr. 899, S. 9 Ziff. I 2, S. 10-11). Die Luzerner Behörden hätten somit, wenn sie entgegen der Regel des Art. 350 den Tessiner Fall nicht in ihr Verfahren einbeziehen wollten, rechtzeitig die Stellungnahme der Tessiner Behörden einholen sollen. Gleich ist übrigens zu verfahren, wenn sich ein Kanton zur Verfolgung eines Deliktes für örtlich unzuständig hält (BGE 78 IV 246).
Es war daher fehl am Platze, dem vor Kriminalgericht gestellten Gerichtsstandsbegehren des Angeklagten entgegenzuhalten, es sei verspätet. Gewiss hat die Anklagekammer entschieden, dass einem Gesuch des Beschuldigten um Bestimmung des Gerichtsstandes keine Folge zu geben ist, wenn es erst unmittelbar vor der Aburteilung gestellt wird (BGE 72 IV 194, BGE 85 IV 209 Erw. 2). Diese Rechtsprechung gilt indessen dann nicht, wenn ein Kanton

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in Kenntnis des Gerichtsstandskonfliktes zur gerichtlichen Beurteilung schreitet, ohne dass er ihn vorher auf dem Wege der interkantonalen Verständigung zu lösen versucht hat.