6. Urteil des Kassationshofes vom 21. Januar 1966 i.S. Spranger gegen Staatsanwaltschaft des Kantons Graubünden.
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Regeste
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1. Art. 272 Abs. 6 BStP. Die Parteien haben nur Anspruch, die Akten bei den kantonalen Behörden einzusehen, nicht darauf, dass ihnen die Akten zugestellt werden (Erw. 1).
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3. Art. 31 Abs. 1 SVG. Der Fahrzeugführer, der zu spät Massnamen ergreift, um die Gefahr eines Zusammenstosses abzuwenden, beherrscht sein Fahrzeug nicht (Erw. 2 und 3).
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4. Art. 26 SVG. Diese Grundregel hat neben den besondern Verkehrsregeln der Art. 31 und 32 SVG subsidiäre Bedeutung.
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Sachverhalt
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BGE 92 IV 16 (17):
A.- Creszentia Spranger führte am 22. Juni 1964 gegen 14 Uhr einen Porsche-Personenwagen auf der betonierten, 7,5 m breiten Hauptstrasse von Chur Richtung Landquart. Als sie sich mit einer Geschwindigkeit von 100 km/Std der nördlichen Zufahrtsrampe von Untervaz näherte, die parallel zur Hauptstrasse verlief, sah sie plötzlich einen Silo-Lastwagen, der von links aus der Zufahrtsstrasse herkommend die Hauptstrasse schräg Richtung Zizers überquerte, um auf die rechte Fahrbahn zu gelangen. Creszentia Spranger versuchte, am Lastwagen rechts vorbeizukommen, als dessen Abstand vom Drahtzaun, der den rechten Strassenrand begrenzte, nur noch 1,80 m betrug. Beide Fahrzeuge bremsten, wobei der Porsche etwas ins Schleudern geriet und mit seiner linken Seite den Lastwagen vorne rechts streifte. Personen wurden nicht ver letzt.
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B.- Der Kreispräsident Fünf Dörfer büsste Creszentia Spranger am 25. Februar 1965 wegen Übertretung von Art. 26 Abs. 1, 31 Abs. 1 und 32 Abs. 1 SVG mit einer Busse von Fr. 80.-.
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Auf Einsprache der Gebüssten bestätigte der Kreisgerichts-Ausschuss V Dörfer am 24. Juli 1965 das Strafmandat.
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C.- Gegen dieses Urteil führt Creszentia Spranger Nichtigkeitsbeschwerde mit dem Antrag auf Freisprechung.
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BGE 92 IV 16 (18): Der Kassationshof zieht in Erwägung:
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1. Die Beschwerde enthält in den einleitenden Bemerkungen den Hinweis, dass die Vorinstanz die kantonalen Akten dem Anwalt der Beschwerdeführerin auf dessen Gesuch hin in Verletzung von Art. 272 Abs. 6 BStP nicht zur Begründung der Beschwerde zugestellt habe. Art. 272 Abs. 6 BStP verpflichtet indessen die kantonalen Behörden nicht, die Akten den Parteien zur Einsicht zuzustellen, sondern die Bestimmung schreibt nur vor, dass die Akten vor Einreichung der Beschwerdeschrift zur Einsicht offenzuhalten seien, was den Sinn hat, es müsse den Parteien Gelegenheit geboten werden, die Akten bei den kantonalen Behörden einzusehen (Entscheidungen des Kassationshofes vom 3. Februar 1949 i.S. Düring gegen Solothurn und vom 27. August 1960 i.S. Peter gegen Bern). Wäre dieser Anspruch verletzt worden, hätte der Kassationshof auf Verlangen der benachteiligten Partei anzuordnen, dass ihr die Einsicht in die Akten ermöglicht wird, ehe über die Beschwerde entschieden wird.
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Im vorliegenden Falle stellt die Beschwerdeführerin keinen entsprechenden Antrag. Sie macht auch nicht geltend, dass ihrem Anwalt die Einsicht verweigert worden sei, und räumt zudem ein, dass dieser imstande war, die Beschwerdebegründung auf Grund der eigenen Handakten und Notizen abzufassen.
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BGE 92 IV 16 (19):
Ob schliesslich das Signal Nr. 113 (Arbeiten auf der Fahrbahn), obschon es nach den Feststellungen des Kreispräsidenten im Strafmandat in Wirklichkeit nicht wegen Bauarbeiten, sondern lediglich wegen des provisorischen Charakters der Abzweigung nach Untervaz aufgestellt worden war, die Fahrzeugführer oder solche, die wie die Beschwerdeführerin von der missbräuchlichen Verwendung des Signals keine Kenntnis hatten, zur Verlangsamung der Geschwindigkeit verpflichtet habe, kann in Rücksicht auf die nachfolgenden Erwägungen offen bleiben.
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Zur Herabsetzung der Geschwindigkeit war die Beschwerdeführerin auf jeden Fall verpflichtet, als erkennbar wurde, dass der Silolastwagen von links in die Hauptstrasse einbog und diese zu überqueren begann, um die rechte Fahrbahn zu erreichen. In diesem Augenblick musste die Beschwerdeführerin mit der Möglichkeit rechnen, dass der Lastwagenführer den Porsche nicht gesehen habe oder zu spät wahrnehme oder dass er dessen Geschwindigkeit falsch abgeschätzt haben könnte. Sie durfte sich daher nicht im Vertrauen auf ihr Vortrittsrecht darauf verlassen, der Lastwagen werde noch rechtzeitig anhalten, um den Porsche rechts durchfahren zu lassen, sondern sie hatte sich auf das Verhalten des Lastwagenführers einzustellen und ihrerseits alles zu tun, um der drohenden Gefahr eines Zusammenstosses wirksam zu begegnen (BGE 90 IV 145; Art. 26 Abs. 2 SVG). Dazu wäre sie auch in der Lage gewesen. Nach der verbindlichen Feststellung der Vorinstanz legte der Lastwagen von der Einmündung bis zur Kollisionsstelle eine Wegstrecke von 24 m zurück, für die er 11-13 Sekunden benötigte. Spätestens, als der Lastwagen die Hälfte dieses Weges durchfahren hatte, hätte die Beschwerdeführerin auf der weit überblickbaren Strecke das Einbiegemanöver erkennen können. In diesem Zeitpunkt befand sie sich noch mindestens 150 m vom Lastwagen entfernt, so dass sie ohne weiteres ihre Geschwindigkeit genügend hätte verlangsamen oder nötigenfalls, wenn sie den Lastwagen nicht links überholen durfte, das Fahrzeug hätte anhalten können. Es war in hohem Masse leichtfertig, mit unverminderter Geschwindigkeit zuzufahren, obschon sichere Anzeichen für ein Anhalten des Lastwagens fehlten, und zudem das Fahrzeug erst abzubremsen, als es bereits die Höhe des innerhalb der rechten Fahrbahn befindlichen Lastwagens erreicht hatte.
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BGE 92 IV 16 (20):
3. Der Beschwerdeführerin wird daher zu Recht vorgeworfen, sie habe ihre Geschwindigkeit nicht den Verkehrsverhältnissen angepasst. Ebenso zutreffend ist der Vorwurf der Nichtbeherrschung des Fahrzeuges, die darin bestand, dass die Beschwerdeführerin - sei es aus Unaufmerksamkeit, sei es aus Verwegenheit - zu spät Massnahmen ergriff, um die Gefahr eines Zusammenstosses mit dem Lastwagen abzuwenden. Verletzt sind somit die Verkehrsregeln der Art. 31 Abs. 1 und 32 Abs. 1 SVG. Eine Bestrafung wegen Verletzung der allgemeinen Grundregel des Art. 26 SVG, die neben den anwendbaren besondern Verkehrsregeln nur subsidiäre Bedeutung hat, fällt dagegen ausser Betracht. Der Wegfall dieser Übertretung ändert jedoch nichts an der unverantwortlichen Fahrweise der Beschwerdeführerin und der Angemessenheit der ausgefällten Busse von Fr. 80.-.
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Demnach erkennt der Kassationshof:
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Die Nichtigkeitsbeschwerde wird abgewiesen.
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