BGE 100 IV 252 |
64. Urteil des Kassationshofes vom 1. November 1974 i.S. Rapold gegen Staatsanwaltschaft des Kantons Zürich. |
Regeste |
Höchstgeschwindigkeit ausserorts |
b) Art. 1 BRB vom 10. Juli 1972 über die versuchsweise Einführung einer Höchstgeschwindigkeit ausserorts hält sich im Rahmen des Art. 32 Abs. 5 SVG (Erw. 1 f). |
2. Bedingter Strafvollzug |
a) Art. 41 Ziff. 1 Abs. 1 und Ziff. 3 Abs. 2 StGB. Unterschiedlicher Entscheid über die Gewährung und über den Widerruf des bedingten Strafvollzugs wegen unterschiedlichen Grundlagen der Voraussage (Erw. 3). |
b) Art. 41 Ziff. 2 Abs. 1 StGB. Weisung, während drei Jahren kein Motorfahrzeug zu führen (Erw. 2). |
Sachverhalt |
A.- Am 5. September 1973 um 23.45 Uhr wollte die Zürcher Kantonspolizei Rapold vor der geschlossenen Bahnschranke in Hettlingen wegen dem vorschriftswidrig lauten Auspuff seines Wagens einer Kontrolle unterziehen. Als das Polizeifahrzeug neben Rapold anhielt und ein Polizist auf ihn zuging, flüchtete er mit Geschwindigkeiten bis zu mindestens 120 km/Std, überquerte mit 70 km/Std eine unübersichtliche Kreuzung bei Rotlicht, durchfuhr Unterohringen mit 80 statt höchstens 60 km/Std und überholte in Seuzach einen Wagen mit wenigstens 70 km/Std. Es gelang ihm, der ihn mit Blaulicht verfolgenden Polizei zu entkommen. |
B.- Das Obergericht des Kantons Zürich sprach Rapold der fortgesetzten groben Verletzung von Verkehrsregeln, insbesondere des Art. 1 BRB vom 10. Juli 1972 über die versuchsweise Einführung einer Höchstgeschwindigkeit ausserorts, des Führens eines nicht betriebssicheren Fahrzeugs und der Hinderung einer Amtshandlung schuldig. Es verurteilte ihn zu drei Monaten Gefängnis, schob den Vollzug der Strafe auf fünf Jahre bedingt auf und erteilte ihm die Weisung, während drei Jahren ab Rechtskraft des Urteils kein Motorfahrzeug zu führen. Ferner widerrief es den bedingten Vollzug der vom Bezirksgericht Andelfingen am 26. Januar 1972 ausgesprochenen Gefängnisstrafe von drei Monaten.
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C.- Rapold führt Nichtigkeitsbeschwerde mit dem Antrag, das Urteil des Obergerichts in bezug auf die Verurteilung wegen Verletzung von Art. 1 BRB vom 10. Juli 1972, die Weisung und den Widerruf des bedingten Strafvollzugs aufzuheben und die Sache zu neuer Entscheidung an die Vorinstanz zurückzuweisen.
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Die Staatsanwaltschaft des Kantons Zürich verzichtet auf Vernehmlassung.
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Das Bundesgericht zieht in Erwägung: |
b) Der BRB vom 10. Juli 1972, der in Art. 1 vorschreibt, dass auf Strassen ausserorts - ausgenommen Autobahnen - nicht schneller als mit 100 km/Std gefahren werden darf, und in Art. 2 den Kantonen ermöglicht, auf gut ausgebauten Strassen die Höchstgeschwindigkeit auf 120 km/Std zu erhöhen, stützt sich ausdrücklich auf Art. 32 Abs. 5 SVG. Nach dieser Bestimmung kann der Bundesrat zusätzliche Geschwindigkeitsvorschriften erlassen, namentlich für besondere Fahrzeugarten und den Motorfahrzeugen vorbehaltene Strassen; ferner hat er die Höchstgeschwindigkeit für schwere Motorwagen und Anhängerzüge auf Ausserortsstrecken zu beschränken.
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c) Zweck von Art. 32 Abs. 5 SVG ist die Erhöhung der Verkehrssicherheit. Es stellt sich die Frage, welche Befugnisse dem Bundesrat zur Erreichung dieses Zieles übertragen wurden. Zu ihrer Beantwortung ist zunächst die übrige Regelung in Art. 32 SVG heranzuziehen. Darin wird vorgeschrieben, dass innerorts die Geschwindigkeit grundsätzlich 60 km/Std nicht übersteigen darf (Abs. 2) und dass die zuständige (kantonale) Behörde für bestimmte Strassenstrecken innerorts die Höchstgeschwindigkeit abweichend festsetzen und ausserorts Geschwindigkeitsbeschränkungen verfügen kann (Abs. 3). Nach Art. 32 SVG besteht somit innerorts eine generelle Beschränkung der Geschwindigkeit und dürfen ausserorts die Kantone Geschwindigkeitsbeschränkungen nur "für bestimmte Strassenstrecken" verfügen. Wenn Abs. 5 des Art. 32 SVG den Bundesrat im Anschluss an diese Vorschriften ermächtigt, "zusätzliche" Geschwindigkeitsvorschriften zu erlassen, so kann das durchaus dahin verstanden werden, dass er Geschwindigkeitsbeschränkungen ausserorts verordnen kann, die über das den Kantonen zugestandene Mass hinausgehen, also nicht auf bestimmte Strassenstrecken beschränkt sondern genereller Natur sind. Bei den im ersten Satz des Abs. 5 von Art. 32 SVG angeführten Sachverhalten ("namentlich für besondere Fahrzeugarten und für Strassen, die den Motorfahrzeugen vorbehalten sind") handelt es sich um Beispiele, weshalb für andere Anwendungsfälle Raum bleibt. Der zweite Satz von Abs. 5 hat nur den Sinn, von der im ersten Satz enthaltenen Ermächtigung insofern eine Ausnahme zu machen, als die Beschränkung der Höchstgeschwindigkeit für schwere Motorwagen und Anhängerzüge nicht ins Ermessen des Bundesrates gestellt, sondern ihm als Verpflichtung aufgetragen wird. Der Wortlaut des Art. 32 SVG schliesst somit eine generelle Beschränkung der Höchstgeschwindigkeit, wie sie vom Bundesrat erlassen wurde, nicht aus. |
d) Die parlamentarischen Beratungen stehen der allgemeinen Geschwindigkeitsbegrenzung ausserorts ebenfalls nicht eindeutig entgegen. 1958 erklärte der deutschsprachige Berichterstatter im Nationalrat zum Text, der dem heutigen Art. 32 Abs. 5 SVG entspricht: Die Kommission "beantragt Ihnen, dem Bundesrat eine umfassende Kompetenz für den Erlass zusätzlicher Geschwindigkeitsvorschriften einzuräumen" (StenBull 1958 480). 1967 überwies freilich der Nationalrat ein Postulat Weber, mit dem der Bundesrat in Anbetracht der vielen Verkehrsunfälle und deren häufigen Verursachung durch Fahren mit übersetzten Geschwindigkeiten ersucht wurde zu prüfen, ob nicht das SVG "in dem Sinne zu revidieren sei, dass auch ausserorts eine Geschwindigkeitsbeschränkung ermöglicht wird" (BBl 1971 II 1194). Doch bei der Prüfung des bundesrätlichen Berichtes betreffend die Bekämpfung der Verkehrsunfälle vom 8. September 1971 (BBl 1971 II 1190 ff), in deren Folge der BRB vom 10. Juli 1972 erlassen wurde, befürworteten beide Räte eine generelle Beschränkung der Geschwindigkeit ausserorts durch den Bundesrat, wobei mehrfach als zureichende gesetzliche Grundlage dafür ausdrücklich Art. 32 Abs. 5 SVG genannt wurde (StenBull 1972 StR 224, 226, NR I 100, 110 f.).
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e) Entscheidend ist, dass bei der Gesetzesauslegung eine Lösung anzustreben ist, die "praktikabel" ist (BGE 96 I 605 E 4). Zumindest darf die Lösung nicht in der Praxis völlig unannehmbar sein (BGE 83 IV 128). Das wäre der Fall, wenn der Auffassung des Beschwerdeführers zugestimmt würde. Der Bundesrat ist durch Art. 32 Abs. 5 SVG ermächtigt, zusätzliche Geschwindigkeitsvorschriften zu erlassen für den Motorfahrzeugen vorbehaltene Strassen, also Autobahnen und Autostrassen (Art. 1 Abs. 3 VRV). Da Geschwindigkeitsbeschränkungen der Verkehrssicherheit dienen sollen, wäre es unsinnig und in der Praxis unerträglich, ihm diese Befugnis abzusprechen für Strassen mit gemischtem Verkehr, wo hohe Geschwindigkeiten jedenfalls gefährlicher sind als auf Autobahnen. |
f) Weil nach Art. 32 Abs. 5 SVG der Bundesrat zusätzliche Geschwindigkeitsbeschränkungen erlassen "kann", ist es unter Vorbehalt von Satz 2 in sein Ermessen gestellt, wann und in welchem Mass er es tun will. Der Kassationshof, der sein Ermessen nicht an die Stelle jenes des Bundesrates setzen kann, hat sich daher bei Prüfung der Gesetzmässigkeit des Art. 1 BRB vom 10. Juli 1972 auf die Frage zu beschränken, ob der Bundesrat mit dem Erlass dieser Bestimmung sich eines Mittels bedient hat, das objektiv geeignet ist, den von der Delegationsnorm des Art. 32 Abs. 5 SVG verfolgten Zweck zu erreichen, d.h. ob eine allgemeine Geschwindigkeitsbeschränkung ausserorts auf Strassen, die nicht Autobahnen sind, zur Erhöhung der Verkehrssicherheit dienen kann. Hingegen steht es dem Richter nicht zu, zu befinden, ob Art. 1 BRB zur Erreichung des gesetzlichen Zweckes nötig und das geeignetste Mittel ist (BGE 84 IV 76, BGE 85 IV 71, BGE 92 IV 109 /10, BGE 98 IV 135, BGE 99 IV 39).
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Mit zunehmender Geschwindigkeit werden tendenziell Wahrnehmungsfunktionen, Orientierungsfähigkeit und Informationsverarbeitung bezüglich Schnelligkeit und Zuverlässigkeit eingeschränkt, und die Gefahr von Fehlhandlungen ist umso grösser, je mehr Orientierungsreize sich im zeitlichen Abstand einstellen (s. ebenso StenBull 1972 StR 22, NR I 111). Überdies besagt ein physikalisches Gesetz, dass die Wucht mit der Geschwindigkeit quadratisch zunimmt. Eine Beschränkung der Höchstgeschwindigkeit ausserorts auf 100 km/Std ist deshalb sehr wohl geeignet, Häufigkeit und Schwere von Unfällen zu mindern. Dann aber hält sich Art. 1 BRB im Rahmen des Art. 32 Abs. 5 SVG. Die vom Bundesrat getroffene Ordnung ist übrigens umso weniger zu beanstanden, als sie nicht für alle Strassen die 100-km-Grenze aufstellt.
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Das Obergericht stellt fest, dem Beschwerdeführer fehle heute das für einen Motorfahrzeugführer erforderliche Verantwortungsgefühl. Es dürfe jedoch eine charakterliche Reifung und Festigung erwartet werden. Zudem sei nicht ausgeschlossen, dass er sich unter günstigen Voraussetzungen auch in automobilistischer Hinsicht zu einer vernünftigen Einstellung durchzuringen vermöge. Eine Besserung sei besonders wahrscheinlich, wenn ihm als Bewährungshilfe die Weisung erteilt werde, langfristig kein Motorfahrzeug zu führen. Diese Annahme rechtfertige sich umsomehr, als zur Weisung der Widerruf des früher gewährten bedingten Strafvollzugs hinzutrete.
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Daran geht die Beschwerde vorbei. Sie verkennt, dass die Bewährung, die von Rapold verlangt wird, nicht sein fahrtechnisches Können betrifft, das durch Übung am Steuer verbessert werden könnte, sondern seinen Charakter, dessen Reifung und Festigung möglich erscheint, jedoch unterstützender Massnahmen bedarf, wozu gehört, dass der Beschwerdeführer für längere Zeit kein Motorfahrzeug führt. Das Obergericht hat ihm die Weisung zu Recht erteilt. Sie ist weder unerfüllbar oder unzumutbar noch zielt sie darauf ab, ihm Nachteile zuzufügen (BGE 94 IV 12). Vielmehr ist sie darauf angelegt, erzieherisch zu wirken und der Gefahr neuer Verfehlungen vorzubeugen.
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3. Den Widerruf des vom Bezirksgericht Andelfingen gewährten bedingten Strafvollzugs ficht der Beschwerdeführer mit der Begründung an, das Obergericht habe ihm für die neuen Verfehlungen den Strafaufschub gewährt, also eine günstige Prognose für sein künftiges Verhalten gestellt. Eine solche Prognose sei aber Voraussetzung dafür, dass ein bedingter Strafvollzug nicht widerrufen werden müsse. Zweite Voraussetzung sei das Vorliegen eines leichten Falles, was hier zutreffe. |
Für die neuen Taten wurde dem Beschwerdeführer der bedingte Strafvollzug nur gewährt mit Rücksicht auf die erzieherische Wirkung, die einerseits von der ihm erteilten Weisung und anderseits vom Vollzug der früheren Strafe erwartet werden kann. Diese Grundlagen der Voraussage nach Art. 41 Ziff. 1 Abs. 1 StGB und diejenigen, auf welche die Vorinstanz ihre im Rahmen des Art. 41 Ziff. 3 Abs. 2 StGB zu stellende Prognose stützen konnte, sind jedoch nicht die gleichen, da bei der letzteren die Wirkung einer zu vollziehenden Strafe ausser Betracht fällt, nachdem die neue Freiheitsstrafe bedingt aufgeschoben wurde. Das Obergericht konnte daher nicht in beiden Fällen gleich verfahren (BGE 98 IV 76, BGE 99 IV 69, 193). Zudem fehlt die Voraussetzung des leichten Falles; die neuen Straftaten gehen objektiv und subjektiv über das vom Gesetz noch zugebilligte Mass hinaus.
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Demnach erkennt das Bundesgericht:
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