39. Auszug aus dem Urteil des Kassationshofes vom 10. Juni 1980 i.S. P. gegen Staatsanwaltschaft des Kantons Zürich (Nichtigkeitsbeschwerde)
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Regeste
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Art. 237 Ziff. 1 StGB. Störung des öffentlichen Verkehrs.
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2. Das Qualifikationsmerkmal von Abs. 2 (vieler Menschen) ist nicht einschränkend zu interpretieren, sondern ist erfüllt, wenn wissentlich eine grössere, unbestimmte Zahl von Menschen in Gefahr gebracht wird (E. 3d).
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BGE 106 IV 121 (122): Aus den Erwägungen:
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a) Durch seine Entführung einer Kursmaschine und durch die Landungen auf den verschiedenen Flugplätzen, verbunden mit erpresserischen Forderungen und schweren Drohungen, hat P. den durch Art. 237 StGB geschützten öffentlichen Luftverkehr in erheblichem Masse vorsätzlich gestört. Dies wird in der Nichtigkeitsbeschwerde nicht bestritten.
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b) Der Straftatbestand setzt jedoch weiter voraus, dass der Täter durch seine Störung oder Gefährdung des Verkehrs wissentlich Leib und Leben von Menschen in Gefahr bringt.
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In der Nichtigkeitsbeschwerde bestreitet P., Leib und Leben von Luftverkehrsteilnehmern in Gefahr gebracht zu haben; insbesondere stellt er in Abrede, dass die zeitweilige Sperre von BGE 106 IV 121 (123):
Pisten (wegen der Landung des entführten Flugzeuges) eine Gefahr für Leib und Leben mit sich gebracht habe; die Sperrung habe gerade die Verhinderung jeder Gefahr bezweckt; P. habe auch keine Gefährdung "seiner" Passagiere, etwa wegen Brennstoffmangel oder infolge Übermüdung der Besatzung in Kauf genommen.
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c) Was in der Judikatur zur Auslegung von Art. 237 StGB zu finden ist, bezieht sich fast ausschliesslich auf die fahrlässige Begehung und überdies regelmässig auf den Strassenverkehr (vgl. BGE 71 IV 100, BGE 73 IV 182, BGE 85 IV 137). Im Bestreben, die Bestrafung wegen fahrlässiger Störung oder Gefährdung des Strassenverkehrs einzuschränken und zweckmässig gegen blosse Verkehrsübertretungen abzugrenzen, hat die Rechtsprechung den Grad der verursachten konkreten Gefährdung restriktiv umschrieben: Eine Verletzung oder Tötung von Personen müsse "nicht nur objektiv möglich, sondern wahrscheinlich" sein (BGE 71 IV 100), die "nahe und ernstliche Wahrscheinlichkeit" des Erfolgseintritts müsse bestehen (BGE 85 IV 137, BGE 73 IV 183).
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Bei vorsätzlicher Störung des Luftverkehrs verbunden mit dem Wissen des Täters um die Gefahr für Leib und Leben von Menschen, wäre es kriminalpolitisch verfehlt, die Anwendung von Art. 237 Ziff. 1 StGB überdies vom Nachweis eines besonders hohen Grades der Wahrscheinlichkeit eines konkreten Erfolgseintrittes abhängig zu machen. Während eine gewisse Zurückhaltung bei der Kriminalisierung fahrlässigen Verhaltens angezeigt erscheint, gibt es keinen triftigen Grund, den Täter, der vorsätzlich den Luftverkehr stört und dadurch wissentlich Leib und Leben von Menschen in Gefahr bringt, nur dann zu bestrafen, wenn die vorsätzlich geschaffene Gefahr besonders ernstlich und der Erfolgseintritt höchst wahrscheinlich war, so dass das Ausbleiben von Tötungen oder Verletzungen (Absturz?) nur einem ausserordentlichen Glücksfall zuzuschreiben ist. Wer durch vorsätzliche Störungshandlungen wissentlich das erhöhte Risiko eines Flugzeugabsturzes schafft, ist gemäss Art. 237 Ziff. 1 StGB zu bestrafen, auch wenn die Möglichkeit, das durch die Störung geschaffene Risiko zu meistern, noch gegeben ist und hinterher nicht eine besonders hohe Wahrscheinlichkeit der Katastrophe festgestellt werden kann.
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Ausser den Gefahren, die jede Flugzeugentführung mit sich bringt, hat P. am 15. März 1977 eine Schliessung des Flughafens BGE 106 IV 121 (124):
Kloten während elf Minuten sowie eine Sperrung der wichtigsten Piste während fast vier Studen verursacht. Damit entstanden zusätzliche Risiken für alle Menschen in Flugzeugen, die wegen dieser Störung nicht planmässig in Kloten landen konnten. Flugkapitän R. musste - nach den Feststellungen der Vorinstanz - infolge der von P. geforderten Irrfahrt während 46 Stunden die volle flugtechnische Verantwortung für das entführte Flugzeug tragen. Er war übermüdet; durch die Übermüdung des Piloten entstand für die Insassen seiner Maschine und für die Insassen anderer Flugzeuge (Kollisionsrisiko beim Starten und Landen) eine erhebliche Gefahr. Das Geschworenengericht nimmt an, es habe auch die reale Möglichkeit eines Absturzes infolge Treibstoffmangels bestanden, weil die Landeerlaubnis zum Auftanken an einzelnen Orten verweigert wurde. Schliesslich wird im angefochtenen Entscheid noch festgestellt, R. habe in Zürich beim überstürzten Abflug Richtung Lyon starten müssen, obschon die Abflugpiste durch Panzerfahrzeuge blockiert war, dieser Start sei daher äusserst gefährlich gewesen.
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Nach diesen Feststellungen im angefochtenen Entscheid, die hier in tatsächlicher Hinsicht nicht zu überprüfen sind, hat der Beschwerdeführer durch die erzwungenen Flugbewegungen ein erhebliches Potential zusätzlicher Risiken geschaffen. Die Schlussfolgerung, dass er damit wissentlich Leib und Leben der in der entführten Maschine befindlichen Personen, aber in einem unbestimmbaren Ausmass auch Leib und Leben anderer Luftverkehrsteilnehmer in Gefahr gebracht habe, verletzt Art. 237 Ziff. 1 StGB nicht.
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d) Das Geschworenengericht hat angenommen, die geschaffene Gefahr habe viele Menschen betroffen, und demgemäss Abs. 2 von Art. 237 Ziff. 1 StGB zur Anwendung gebracht.
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Die vorwiegend am Strassenverkehr orientierte Doktrin formuliert keine Richtlinien für die Abgrenzung des unbestimmten Qualifikationsmerkmals der Gefährdung vieler Menschen (HAFTER, E., Schweizerisches Strafrecht, Bes. Teil, 2. Hälfte, S. 526/527) und geht davon aus, dass es sich dabei um extrem seltene Ausnahmefalle handle (STRATENWERTH, Schweizerisches Strafrecht, Bes. Teil II, 2. Aufl., S. 135). Wenn es aber um vorsätzliche Störung des Luftverkehrs geht, erscheint die praktische Bedeutung des Abs. 2 von Art. 237 Ziff. 1 in einem andern Licht. Wer durch seine Störungshandlung die Gefahr BGE 106 IV 121 (125):
des Absturzes einer Kursmaschine oder einer Kollision zwischen Kursmaschinen auf einem Flughafen schafft, bringt damit stets Leib und Leben einer grösseren Anzahl von Menschen in Gefahr. Da Abs. 1 als Höchststrafe 3 Jahre Gefängnis vorsieht, ist es angebracht, eine Tat unter Abs. 2 zu subsumieren, sobald die wissentlich herbeigeführte Gefahr nicht nur einzelne Personen betraf, so etwa wenn sich schon im direkt gefährdeten Flugzeug auf jeden Fall mehr als zehn Personen befanden. Angesichts der gesetzlichen Strafdrohungen in Art. 237 Ziff. 1 drängt es sich auf, das Qualifikationsmerkmal der "vielen Menschen" in Abs. 2 nicht einschränkend zu interpretieren, sondern die schärfere Strafdrohung anzuwenden, sobald der Täter in Kauf genommen hat, dass Leib und Leben einer grösseren, unbestimmten Zahl von Menschen infolge seiner deliktischen Handlung in akute Gefahr geraten. Im vorliegenden Fall hat das Geschworenengericht daher zu Recht Abs. 2 von Art. 237 Ziff. 1 StGB angewendet.
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Demnach erkennt das Bundesgericht:
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Die Nichtigkeitsbeschwerde wird abgewiesen, soweit darauf einzutreten ist.
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