BGE 122 IV 79 |
14. Urteil des Kassationshofes vom 28. Februar 1996 i.S. C. gegen L. und Jugendstaatsanwaltschaft des Kantons Bern (Nichtigkeitsbeschwerde) |
Regeste |
Art. 270 Abs. 1 BStP, Art. 8 Abs. 1 lit. c OHG. Legitimation des Opfers zur eidgenössischen Nichtigkeitsbeschwerde. |
Art. 8 Abs. 1 lit. b, Art. 9 Abs. 4 OHG. Opferrechte im Verfahren gegen Kinder und Jugendliche; Kompetenz der Kantone zum Erlass abweichender Bestimmungen. |
Das in Art. 8 Abs. 1 lit. b OHG festgelegte Recht des Opfers, den Entscheid eines Gerichts zu verlangen, wenn das Verfahren nicht eingeleitet oder wenn es eingestellt wird, kann von den Kantonen für Verfahren gegen Kinder und Jugendliche nicht eingeschränkt oder ausgeschlossen werden (E. 4). |
Sachverhalt |
A.- Am 22. Juli 1995, um 11.40 Uhr, fuhr C. (geb. 1942) mit dem Fahrrad von Lyssach kommend auf dem rund 2,40 m breiten Radstreifen in Burgdorf stadteinwärts. Im Bereich einer Rechtskurve, in dem die Sicht durch eine Hausecke eingeschränkt ist, stiess er mit der auf demselben Radstreifen aus der Gegenrichtung nahenden Radfahrerin L. (geb. 1986) zusammen. C. kam zu Fall und erlitt eine Wirbelfraktur. |
Am 4. August 1995 stellte das Untersuchungsrichteramt Burgdorf bei der Staatsanwaltschaft des III. Bezirks den Antrag, dem Bericht der Kantonspolizei Burgdorf betreffend den Verkehrsunfall zwischen L. und C. sei keine Folge zu geben; keiner der beiden beteiligten Personen könne ein Fehlverhalten als Strassenbenützer nachgewiesen werden. Der Staatsanwalt Emmental-Oberaargau stimmte dem Antrag am 14. August 1995 zu.
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Am 11. August 1995 stellte der Jugendgerichtspräsident Emmental-Oberaargau dem Jugendstaatsanwalt den Antrag, die Untersuchung gegen L. wegen des Verkehrsunfalles vom 22. Juli 1995 sei aufzuheben; ein Fehlverhalten könne L. nicht nachgewiesen werden. Der Jugendstaatsanwalt stimmte diesem Antrag am 14. August 1995 zu.
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B.- C. erhob gegen den Aufhebungsbeschluss des Jugendgerichtspräsidenten und des Jugendstaatsanwaltes vom 11./14. August 1995 Rekurs bei der Anklagekammer des Obergerichts des Kantons Bern. Er beantragte, der angefochtene Beschluss sei aufzuheben und die Überweisungsbehörden seien anzuweisen, eine Untersuchung durchzuführen. |
Die Anklagekammer des Obergerichts des Kantons Bern trat mit Beschluss vom 19. September 1995 auf den Rekurs nicht ein; C. sei dazu nicht legitimiert.
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C.- C. führt eidgenössische Nichtigkeitsbeschwerde mit den Anträgen, der Entscheid der Anklagekammer sei aufzuheben und die Sache zur neuen Beurteilung an die Vorinstanz zurückzuweisen.
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D.- L. stellt den Antrag, auf die Nichtigkeitsbeschwerde sei nicht einzutreten, eventuell sei sie abzuweisen. Die Jugendstaatsanwaltschaft des Kantons Bern beantragt die Abweisung der Beschwerde.
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Das Bundesgericht zieht in Erwägung: |
Die in Art. 8 Abs. 1 lit. c OHG und Art. 270 Abs. 1 BStP genannten weiteren Legitimationsvoraussetzungen (Beteiligung am Verfahren, Auswirkungen des Entscheides auf eine Zivilforderung) müssen unter anderem dann nicht erfüllt sein, wenn das Opfer mit der Nichtigkeitsbeschwerde die Verletzung von Rechten geltend macht, die ihm das OHG einräumt. Dazu gehört z.B. das in Art. 8 Abs. 1 lit. b OHG festgelegte Recht des Opfers, den Entscheid eines Gerichts zu verlangen, wenn das Verfahren nicht eingeleitet oder wenn es eingestellt wird (BGE 120 IV 38 E. 2c, 44 E. 3b und E. 7).
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b) Der angefochtene Entscheid ist ein letztinstanzlicher. Art. 8 Abs. 1 lit. b OHG, dessen Verletzung der Beschwerdeführer rügt, ist eine Bestimmung des eidgenössischen Rechts (siehe BGE 119 IV 168 E. 3). Die Beschwerde ist rechtzeitig angemeldet und begründet worden.
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c) Auf die Nichtigkeitsbeschwerde ist demnach einzutreten.
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Gegen Nichteröffnungsbeschlüsse und gegen Aufhebungsbeschlüsse (sofern eine mit Freiheitsstrafe bedrohte strafbare Handlung den Gegenstand der Untersuchung bildet) kann nach Art. 84 Abs. 5 bzw. Art. 187 Abs. 1 des Gesetzes über das Strafverfahren des Kantons Bern (StrV/BE) der Privatkläger Rekurs an die Anklagekammer erheben. Als Privatkläger kann sich am Strafverfahren beteiligen, wer durch eine strafbare Handlung unmittelbar in seinen rechtlich geschützten Interessen verletzt wurde; Verletzter ist auch der zum Strafantrag Berechtigte (Art. 43 Abs. 1 StrV/BE). Die Privatklage wird gemäss Art. 43 Abs. 3 StrV/BE vom Verletzten angebracht entweder durch eine Erklärung zuhanden der Strafgerichtsbehörden, wonach er Bestrafung eines Beschuldigten verlange und Parteirechte ausüben wolle, oder durch Einreichung einer Zivilklage bei den Strafgerichtsbehörden gemäss Art. 3 StrV/BE.
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Nach Art. 3 Abs. 1 des bernischen Jugendrechtspflegegesetzes vom 21. Januar 1993 (JRPG/BE) sind, soweit dieses Gesetz keine abweichenden Bestimmungen enthält, für die Durchführung der Jugendrechtspflege die Bestimmungen des bernischen Strafverfahrensgesetzes sinngemäss anwendbar. Der Rekurs gegen Nichteröffnungs- und Aufhebungsbeschlüsse des Jugendgerichtspräsidenten und der Jugendstaatsanwaltschaft im Sinne von Art. 30 und Art. 45 JRPG/BE ist im bernischen Jugendrechtspflegegesetz nicht geregelt. Demnach sind insoweit gemäss Art. 3 JRPG/BE die Bestimmungen des bernischen Strafverfahrensgesetzes sinngemäss anwendbar. Allerdings sind gemäss Art. 14 Abs. 1 JRPG/BE Parteien im Verfahren die betroffenen Kinder und Jugendlichen sowie im Haupt-, Rechtsmittel- und vollzugsrichterlichen Verfahren die Jugendstaatsanwaltschaft und ist gemäss Art. 14 Abs. 2 JRPG/BE die Privatklage ausgeschlossen. |
b) Die Vorinstanz geht davon aus, nach dem bernischen Verfahrensrecht sei somit der Verletzte, auch wenn er Opfer im Sinne des OHG sei, im Verfahren gegen Kinder und Jugendliche, da er sich hier nicht als Privatkläger konstituieren könne, nicht befugt, einen (nicht-richterlichen) Nichteröffnungs- oder Aufhebungsbeschluss des Jugendgerichtspräsidenten und der Jugendstaatsanwaltschaft mit einem Rekurs bei der Anklagekammer des Obergerichts anzufechten oder sonstwie durch ein Gericht überprüfen zu lassen.
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Zu entscheiden ist, ob dieser sich aus dem kantonalen Prozessrecht ergebende Ausschluss des in Art. 8 Abs. 1 lit. b OHG festgelegten Rechts des Opfers, den Entscheid eines Gerichts zu verlangen, wenn das Verfahren nicht eingeleitet oder wenn es eingestellt wird, durch Art. 9 Abs. 4 OHG gedeckt ist, der die Kantone ermächtigt, für Zivilansprüche unter anderem im Verfahren gegen Kinder und Jugendliche abweichende Bestimmungen zu erlassen.
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3. a) Nach Ansicht der Vorinstanz enthält Art. 14 Abs. 2 JRPG/BE, wonach die Privatklage ausgeschlossen ist, eine gemäss Art. 9 Abs. 4 OHG unter anderem für das Verfahren gegen Kinder und Jugendliche zulässige Abweichung von der in Art. 8 und 9 OHG getroffenen Regelung. Zur Begründung zitiert die Vorinstanz die Ausführungen in der Botschaft zu Art. 9 Abs. 4 des bundesrätlichen Entwurfs, mit dem Art. 9 Abs. 4 OHG übereinstimmt. In der Botschaft wird festgehalten, dass sich das Verfahren gegen Kinder und Jugendliche (wie auch das Strafmandatsverfahren) durch zahlreiche Abweichungen von der allgemeinen Verfahrensordnung auszeichne. Eine ausnahmslose Anwendung der Bestimmungen der Art. 8 und 9 OHG könnte diese Verfahren in ihrer bisherigen Form grundsätzlich in Frage stellen. Die Kantone sollen daher die Möglichkeit haben, für diese beiden Verfahrensarten soweit erforderlich Ausnahmen von den Bestimmungen der Art. 8 Abs. 1 und Art. 9 vorzusehen (Botschaft des Bundesrates zum OHG, BBl 1990 II 961 ff., 988/989). Gemäss den weiteren Erwägungen im angefochtenen Entscheid kann weder dem Wortlaut des OHG noch der bundesrätlichen Botschaft zu diesem Gesetz entnommen werden, dass im Jugendstrafverfahren dem Opfer ein Recht auf Beteiligung im Strafpunkt eingeräumt werden müsse. Wenn das Jugendgericht nämlich zulassen müsste, dass sich das Opfer, das eine Schadenersatzklage vor dem Zivilrichter anvisiert, am Verfahren beteiligt, würden die jugendadäquate Verfahrensabwicklung und die geschützte Stellung des Minderjährigen im Strafprozess, welche Art. 9 Abs. 4 OHG garantieren wolle, zur Illusion. Daher sei das Opfer im bernischen Jugendstrafverfahren nicht zum Rekurs an die Anklagekammer gegen einen Aufhebungsbeschluss des Jugendgerichtspräsidenten und der Jugendstaatsanwaltschaft legitimiert. |
b) Der Beschwerdeführer macht geltend, es treffe grundsätzlich wohl zu, dass Art. 8 und 9 OHG der Durchsetzung der zivilrechtlichen Ansprüche des Opfers dienen. Demnach würde ein kantonaler Ausschluss der Privatklage gestützt auf Art. 9 Abs. 4 OHG tatsächlich ungeachtet der unterschiedlichen Randtitel der beiden OHG-Bestimmungen auch die Verfahrensrechte des Opfers im Sinne von Art. 8 OHG ausschliessen. Die Vorinstanz habe indessen verkannt, dass der Rekurs des Beschwerdeführers nicht nur erfolgt sei, um Parteirechte geltend zu machen, sondern auch um einen Gerichtsentscheid betreffend den Aufhebungsbeschluss herbeizuführen. Dieser Anspruch auf einen Gerichtsentscheid sei in Art. 8 Abs. 1 lit. b OHG ausdrücklich verankert. Er stehe allen Opfern zu und setze, wie auch in der bundesrätlichen Botschaft zu dieser Bestimmung (BBl 1990 II 961 ff., 986 unten) festgehalten werde, nicht voraus, dass eine Zivilforderung eingereicht werde. Art. 8 Abs. 1 lit. b OHG räume somit jedem Opfer einen absoluten Anspruch auf einen gerichtlichen Entscheid ein. Dieser Anspruch könne nicht über Art. 9 Abs. 4 OHG durch eine kantonale Bestimmung untergraben werden. Indem die Vorinstanz auf den Rekurs des Beschwerdeführers nicht eingetreten sei, habe sie ihm die Durchsetzung seines bundesrechtlichen Anspruchs auf einen Gerichtsentscheid verunmöglicht und damit Bundesrecht verletzt.
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c) Die Beschwerdegegnerin 1 macht geltend, der Beschwerdeführer sei nicht Opfer im Sinne von Art. 2 Abs. 1 OHG. Zwar sei er durch die Kollision schwer verletzt worden, doch könne der Beschwerdegegnerin 1 nach den übereinstimmenden Erkenntnissen des Untersuchungsrichters und des Jugendgerichtspräsidenten keine Straftat vorgeworfen werden. Sie hält sodann fest, nach den einschlägigen Bestimmungen des bernischen Prozessrechts sei der Beschwerdeführer nicht zum Rekurs an die Anklagekammer des Obergerichts legitimiert. Diese kantonale Regelung, die ein Jahr nach dem Opferhilfegesetz in Kraft getreten sei, stehe zu diesem nicht im Widerspruch. Sie trage im Gegenteil den auch in der bundesrätlichen Botschaft erwähnten und durch Art. 9 Abs. 4 OHG berücksichtigten Besonderheiten des Verfahrens gegen Kinder und Jugendliche Rechnung. Eine Beteiligung des Privatklägers bzw. des Opfers allein im Strafpunkt, unabhängig vom Zivilpunkt, sei, gerade auch im Verfahren gegen Kinder und Jugendliche, nicht sinnvoll. Zudem sei das OHG angesichts von Art. 64bis Abs. 2 BV, wonach die Regelung des Strafprozesses in die Zuständigkeit der Kantone falle, insoweit einschränkend auszulegen. Es könne nicht angehen, die den Besonderheiten des Jugendstrafverfahrens Rechnung tragende kantonale Prozessordnung durch das OHG zu unterlaufen. Dazu bestehe umso weniger Anlass, als dem Opfer die Möglichkeit des Zivilprozesses offenstehe, in dem das unmündige Kind durch die Inhaber der elterlichen Gewalt vertreten werde. Selbst wenn aber das Bundesgericht einen Anspruch des Opfers auf Beteiligung am bernischen Jugendstrafverfahren grundsätzlich bejahen sollte, wäre die Nichtigkeitsbeschwerde abzuweisen. Der Beschwerdeführer habe sich nämlich nicht gemäss den Vorschriften des bernischen Strafverfahrensrechts rechtzeitig und formrichtig als Privatkläger konstituiert. Nach Art. 43 Abs. 4 StrV/BE sei das Anbringen einer Privatklage nach dem Endurteil ausgeschlossen. Diese Bestimmung werde durch das OHG nicht aufgehoben. |
d) Die Beschwerdegegnerin 2 verweist auf ihre Stellungnahme vom 6. September 1995 zum Rekurs des Beschwerdeführers an die Anklagekammer des Obergerichts. Darin hatte sie beantragt, auf den Rekurs sei nicht einzutreten, eventuell sei er abzuweisen. Zur Begründung wurde ausgeführt, Art. 14 Abs. 2 JRPG/BE schliesse die Privatklage aus, um im Interesse der Kinder und Jugendlichen eine einfache, rasche Verfahrenserledigung mit möglichst wenigen Beteiligten sicherzustellen. Das OHG respektiere diese kantonalen Sonderregelungen durch Art. 9 Abs. 4. Gemäss den Ausführungen in der bundesrätlichen Botschaft sollen die Kantone angesichts der zahlreichen Besonderheiten des Verfahrens gegen Kinder und Jugendliche die Möglichkeit haben, für diese Verfahrensart soweit erforderlich Ausnahmen von den Bestimmungen von Art. 8 und 9 OHG vorzusehen. Der Eventualantrag auf Abweisung des Rekurses wurde damit begründet, dass objektive Anhaltspunkte (Spuren, Zeugen), welche Aufschluss über den Unfallhergang liefern könnten, fehlten. Es lägen einzig die widersprüchlichen Schilderungen der beiden Unfallbeteiligten vor. Die Aussage der Beschwerdegegnerin 1 nach dem Unfallereignis, sie sei "etwa in der Mitte" des Radstreifens gefahren, liefere keinen hieb- und stichfesten Beweis für ein rechtlich relevantes Verschulden an der Kollision. |
b) Art. 9 Abs. 4 OHG bezieht sich dagegen nicht auch auf das in Art. 8 Abs. 1 lit. b OHG festgelegte Recht des Opfers, den Entscheid eines Gerichts zu verlangen, wenn das Verfahren nicht eröffnet oder wenn es eingestellt wird (ebenso, allerdings ohne nähere Begründung, GOMM/STEIN/ZEHNTNER, Kommentar zum Opferhilfegesetz, Art. 9 N. 20). Das ergibt sich aus dem Wortlaut von Art. 9 Abs. 4 OHG, aus Sinn und Zweck des in Art. 8 Abs. 1 lit. b OHG geregelten Rechts sowie aus einem Hinweis in der Botschaft des Bundesrates zum OHG.
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aa) In Art. 9 Abs. 4 OHG ist nicht von "Verfahrensrechten", sondern von "Zivilansprüchen" die Rede. Nur "für Zivilansprüche" ("En ce qui concerne les prétentions civiles, ..."; "Per quanto concerne le pretese civili, ...") können die Kantone gemäss Art. 9 Abs. 4 OHG im Verfahren gegen Kinder und Jugendliche abweichende Bestimmungen erlassen, mithin nicht für alle in Art. 8 Abs. 1 OHG genannten "Verfahrensrechte" ("Droits dans la procédure", "Diritti processuali"). Das in Art. 8 Abs. 1 lit. b OHG statuierte Recht des Opfers, die gerichtliche Überprüfung eines nicht-richterlichen Nichteröffnungs- oder Einstellungsbeschlusses zu verlangen, ist kein Zivilanspruch. |
bb) Das in Art. 8 Abs. 1 lit. b OHG vorgesehene Recht des Opfers kann allerdings der Durchsetzung von Zivilansprüchen im Strafverfahren dienen, und insoweit besteht zwischen diesem Verfahrensrecht und dem Zivilanspruch ein Zusammenhang. Zwar ist das dem Opfer gemäss Art. 8 Abs. 1 lit. b OHG zustehende Verfahrensrecht, im Unterschied zur Rechtsmittellegitimation nach Art. 8 Abs. 1 lit. c OHG, an keine Voraussetzungen geknüpft und besteht es unabhängig von der Geltendmachung von Zivilansprüchen. Der Grund hiefür liegt indessen darin, dass das Opfer im Zeitpunkt des nicht-richterlichen Nichteröffnungs- oder Einstellungsbeschlusses oft noch gar keine Gelegenheit hatte, eine Zivilforderung einzureichen (siehe BGE 120 IV 44 E. 4a S. 52/53; Botschaft des Bundesrates zum OHG, BBl 1990 II 961ff., 986 unten; GOMM/STEIN/ZEHNTNER, op.cit., Art. 8 N. 6). Das Opfer wird einen nicht-richterlichen Nichteröffnungs- oder Einstellungsbeschluss beim Gericht oft gerade mit dem Ziel anfechten, im Strafverfahren, welches auf Anweisung des den Beschluss aufhebenden Gerichts eröffnet werden soll, eine Zivilforderung einzureichen, wozu es vor dem Beschluss je nach den Umständen noch keine Gelegenheit hatte. Gemäss den Ausführungen im Schlussbericht der Studienkommission vom 23. Dezember 1986 wird das Recht des Opfers, Einstellungsverfügungen an ein Gericht weiterzuziehen, "voraussichtlich bewirken, dass die Wiedergutmachung des Schadens vermehrt in die Verfahrenserledigung einbezogen werden wird" (Schlussbericht S. 100; GOMM/STEIN/ZEHNTNER, op.cit., Art. 8 N. 5).
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Das in Art. 8 Abs. 1 lit. b OHG vorgesehene Recht des Opfers dient indessen nicht allein der Durchsetzung von Zivilansprüchen im Strafverfahren, sondern ist darüber hinaus von Bedeutung. Gemäss den Ausführungen in der Botschaft des Bundesrates zu den Rechten des Opfers im Strafverfahren ist es "ein zentrales Anliegen des Opferhilfegesetzes, mit geeigneten Mindestbestimmungen die Position des Opfers in gewissen zentralen Punkten zu stärken und auf diese Weise zum Abbau der Ängste der Opfer vor einer Anzeige und vor dem Einbezug in die Strafuntersuchung beizutragen und damit auch einen Beitrag zur besseren Verwirklichung des materiellen Strafrechts in diesen Bereichen zu leisten" (BBl 1990 II 973). Die Stärkung der Position des Opfers im Strafverfahren sei "zudem und in erster Linie ein zentrales Gebot der Achtung der Menschenwürde und des Schutzes der Persönlichkeitsrechte des Opfers" (a.a.O.). Auch das in Art. 8 Abs. 1 lit. b OHG festgelegte, an keine besonderen Voraussetzungen geknüpfte Recht des Opfers stärkt dessen Stellung im Strafverfahren und ist beispielsweise geeignet, entsprechend den Zielen des Gesetzes im Interesse einer besseren Verwirklichung des materiellen Strafrechts die Anzeigebereitschaft des Opfers zu erhöhen. Das Opfer soll sich, unabhängig davon, ob es im Strafverfahren Zivilansprüche geltend machen will oder einbringen kann, nicht mit einem nicht-richterlichen Nichteröffnungs- oder Einstellungsbeschluss abfinden müssen, sondern dessen gerichtliche Überprüfung verlangen können. |
Das in Art. 8 Abs. 1 lit. b OHG statuierte Recht steht dem Opfer somit nicht allein zum Zweck der Durchsetzung von Zivilansprüchen im Strafverfahren, sondern ganz allgemein zwecks Stärkung seiner Stellung im Strafverfahren zu und ist demnach nicht untrennbar mit dem Zivilanspruch verknüpft. Daher kann nicht angenommen werden, dass sich die Kompetenz der Kantone zum Erlass abweichender Bestimmungen gemäss Art. 9 Abs. 4 OHG über den Wortlaut dieser Vorschrift hinaus nicht nur auf die darin ausdrücklich genannten Zivilansprüche, sondern auch auf das in Art. 8 Abs. 1 lit. b OHG genannte Verfahrensrecht beziehe.
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Das in Art. 8 Abs. 1 lit. b OHG festgelegte Recht, den Entscheid eines Gerichts zu verlangen, wenn das Verfahren nicht eingeleitet oder wenn es eingestellt wird, steht, wie erwähnt, dem Opfer als solchem voraussetzungslos zu. Es besteht auch dann, wenn eine Verurteilung der angezeigten Person wegen der angezeigten Straftat nach dem anwendbaren Prozessrecht nicht notwendigerweise durch ein Gericht erfolgen müsste, sondern etwa durch die Untersuchungs- oder Anklagebehörde (im Strafmandatsverfahren) oder durch eine Verwaltungsbehörde (im Verfahren gegen Kinder und Jugendliche) erfolgen könnte.
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cc) Allerdings wird in der Botschaft zu Art. 9 Abs. 4 OHG im speziellen ausgeführt, dass sich das Verfahren gegen Kinder und Jugendliche (wie auch das Strafmandatsverfahren) "durch zahlreiche Abweichungen von der allgemeinen Verfahrensordnung" auszeichne. "Eine ausnahmslose Anwendung der Bestimmungen der Artikel 8 und 9" könnte diese Verfahren in ihrer bisherigen Form grundsätzlich in Frage stellen. Die Kantone sollen daher die Möglichkeit haben, für diese Verfahrensarten "soweit erforderlich Ausnahmen von den Bestimmungen der Artikel 8 Abs. 1 und 9 vorzusehen" (BBl 1990 II 988/989). Die Bedeutung dieser Ausführungen zum Anwendungsbereich von Art. 9 Abs. 4 OHG ist etwas unklar. Die zitierten Überlegungen entsprechen im wesentlichen den Argumenten, mit welchen im Schlussbericht der Studienkommission vom 23. Dezember 1986 (S. 97/98) die ausdrückliche Beschränkung von Art. 11 des Vorentwurfs der Studienkommission vom 12. August 1986 ("Verfahrensrechte und Zivilansprüche") in beiden vorgeschlagenen Varianten auf das "Verfahren gegen Erwachsene" begründet worden war. Dies könnte dafür sprechen, dass nach der Auffassung des Bundesrates die Kantone gestützt auf Art. 9 Abs. 4 OHG in bezug auf alle in Art. 8 Abs. 1 OHG genannten Verfahrensrechte abweichende Bestimmungen erlassen können. Die vorstehend zitierte Passage der Botschaft zu Art. 9 Abs. 4 OHG ist indessen nicht in diesem Sinne zu verstehen, wie eine andere Passage der Botschaft (zu Art. 8 Abs. 1 OHG) deutlich macht. In BBl 1990 II 985/986 wird festgehalten, dass die Kantone "im Bereich der Beurteilung von Zivilansprüchen" die Möglichkeit haben, für das Verfahren gegen Kinder und Jugendliche sowie für das Strafmandatsverfahren abweichende Bestimmungen zu erlassen. "Schliessen sie in diesen Verfahren die Beurteilung zivilrechtlicher Ansprüche ganz aus, so entfallen hier auch die Ansprüche des Opfers nach den Buchstaben a und c" (S. 986 oben). Aus dieser Bemerkung ergibt sich, dass die Kantone nach der Auffassung des Bundesrates das in Art. 8 Abs. 1 lit. b OHG festgelegte Recht des Opfers nicht gestützt auf Art. 9 Abs. 4 OHG beschränken oder ausschliessen können. |
dd) Art. 9 Abs. 4 OHG bezieht sich somit nicht auf Art. 8 Abs. 1 lit. b OHG. Die Kantone können demnach das in dieser Bestimmung festgelegte Recht des Opfers nicht einschränken oder ausschliessen.
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ee) Ob sich Art. 9 Abs. 4 OHG allenfalls auf das in Art. 8 Abs. 1 lit. c OHG vorgesehene Recht des Opfers zur Ergreifung von Rechtsmitteln beziehe, ist hier nicht zu prüfen.
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c) Die Vorinstanz verletzte somit Bundesrecht, indem sie auf den Rekurs des Beschwerdeführers gegen den nicht-richterlichen Aufhebungsbeschluss des Jugendgerichtspräsidenten und der Jugendstaatsanwaltschaft mit der Begründung nicht eintrat, dass das in Art. 8 Abs. 1 lit. b OHG statuierte Recht des Opfers, einen Gerichtsentscheid zu verlangen, wenn das Verfahren nicht eingeleitet oder wenn es eingestellt wird, durch kantonales Recht gestützt auf Art. 9 Abs. 4 OHG im Verfahren gegen Kinder und Jugendliche ausgeschlossen werden könne und damit durch Art. 14 Abs. 2 JRPG/BE bundesrechtskonform ausgeschlossen worden sei. |
Ob zur Behandlung von Rekursen des Opfers gegen nicht-richterliche Nichteröffnungs- und Aufhebungsbeschlüsse im Verfahren gegen Kinder und Jugendliche die Anklagekammer des bernischen Obergerichts oder eine andere gerichtliche Instanz zuständig sein soll, ist eine hier nicht zu beurteilende Frage des kantonalen Rechts.
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Die eidgenössische Nichtigkeitsbeschwerde ist demnach gutzuheissen, der angefochtene Entscheid aufzuheben und die Sache zur neuen Entscheidung an die Vorinstanz zurückzuweisen.
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