BGE 133 IV 207 |
31. Auszug aus dem Urteil des Kassationshofes i.S. Staatsanwaltschaft des Kantons Luzern gegen X. (Nichtigkeitsbeschwerde) |
6S.510/2006 vom 17. Juli 2007 |
Regeste |
Handtaschenraub (Art. 140 Ziff. 1 Abs. 1 StGB) oder Entreissdiebstahl (Art. 139 Ziff. 1 StGB)? |
Sachverhalt |
A. Mit Urteil vom 22. März 2006 sprach das Kriminalgericht des Kantons Luzern X. der mehrfachen Widerhandlung gegen das Betäubungsmittelgesetz sowie verschiedener weiterer Delikte, u.a. des Raubes zum Nachteil von A. (Art. 140 Ziff. 1 Abs. 1 StGB), schuldig und verurteilte ihn zu einer Zuchthausstrafe von 2 Jahren und 6 Monaten. |
B. Auf Appellation von X. hin sprach ihn das Obergericht des Kantons Luzern am 23. August 2006 vom Vorwurf des Raubes zum Nachteil von A. frei, erkannte diesbezüglich auf Diebstahl (Art. 139 Ziff. 1 StGB) und fällte gesamthaft eine bedingt vollziehbare Strafe von 18 Monaten Zuchthaus aus.
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C. Die Staatsanwaltschaft des Kantons Luzern führt gegen das Urteil des Obergerichtes vom 23. August 2006 eidgenössische Nichtigkeitsbeschwerde mit dem Antrag, den angefochtenen Entscheid aufzuheben und die Sache in Bezug auf den Überfall auf A. zur Verurteilung des Beschwerdegegners wegen Raubes im Sinne von Art. 140 Ziff. 1 Abs. 1 StGB, eventuell wegen qualifizierten Diebstahls im Sinne von Art. 139 Ziff. 3 Abs. 4 StGB zurückzuweisen. |
Das Bundesgericht heisst die Nichtigkeitsbeschwerde gut.
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Aus den Erwägungen: |
Erwägung 3 |
Die 73-jährige A. spazierte am späteren Nachmittag des 7. Juni 2004 in Luzern dem Quai entlang. In der linken Hand hielt sie eine Handtasche an langen Riemen. Der Beschwerdegegner, der einige Zeit hinter der ihm unbekannten, älteren Frau herging, beschloss, ihr die Handtasche zu entreissen. Er dachte, es wäre ein Leichtes. An einem ihm günstig erscheinenden Ort schloss er rennend auf das Opfer auf, packte die Riemen der Handtasche und zog daran, um sie zu behändigen. Dies gelang ihm aber zunächst nicht, weil A. die Tasche festzuhalten versuchte. Durch das Zerren des Beschwerdegegners kam sie zu Fall und wurde von ihm einen bis zwei Meter weit mitgeschleift, bis sie die Tasche nicht mehr halten konnte und losliess. Dabei zog sie sich Schürfungen am Rücken und an den Knien, ein Hämatom an der linken Hand sowie ein Hämatom (ev. Bruch) am linken grossen Zeh zu. Der Beschwerdegegner rannte mit der Handtasche davon und entwendete aus dem darin befindlichen Portmonnaie rund 170 Franken.
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3.3 Die Vorinstanz kommt zum gegenteiligen Schluss. Der Beschwerdegegner habe nur insofern Gewalt verübt, als er das Opfer durch das Ziehen an den Riemen der Handtasche zu Fall brachte und anschliessend noch einen bis zwei Meter weit mitschleifte, bis es die Tasche nicht mehr halten konnte und losliess. Der Beschwerdegegner sei damit dem Widerstand des Opfers durch sein überraschendes Vorgehen im Wesentlichen zuvorgekommen. Vorherrschendes Moment sei die Überraschung des Opfers gewesen und nicht die Ausübung physischer Gewalt. |
Die Gewalteinwirkung des Beschwerdegegners sei auf die Wegnahme der Handtasche fokussiert gewesen, wobei die sich daraus ergebenden Folgen wie der Sturz und das Mitschleifen über eine kürzere Wegstrecke nicht durch zusätzliche Gewalt gesteigert bzw. verschlimmert worden seien. Da er das Opfer nicht mit Absicht umgerissen habe, sei nicht massgebend, dass es durch das Zerren letztlich zu Fall gekommen, mitgeschleift und verletzt worden sei. Der Angriff habe sich auf den gezielten Griff nach der Handtasche beschränkt, der nahtlos in den Entreissvorgang mündete. Zwar sei das Zerren darauf gerichtet gewesen, das Festhalten des Opfers an der Handtasche zu "stoppen". Die dabei angewendete Gewalt sei jedoch nicht so intensiv gewesen, dass sie den Gewaltbegriff im Sinne von Art. 140 StGB erfüllen würde.
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Dem Opfer sei aufgrund des überraschenden Vorgehens keine Zeit für Abwehr geblieben bzw. diese habe einzig darin bestanden, dass es die Tasche reflexartig festgehalten habe. Darüber hinaus habe es keinen besonderen Widerstand geleistet. Das im Reflex begründete Festhalten als Folge der Fremdeinwirkung und der vom Beschwerdegegner auf Überwindung gerichtete konstante Aufwand an Kraft könne nicht bereits als Widerstand qualifiziert werden. Anders entscheiden hiesse, dass der Entreissvorgang bloss noch in ganz seltenen Fällen als Diebstahl zu betrachten wäre. Es könne auch nicht der Sinn des Gesetzes sein, das Ausschalten der Abwehr wie im vorliegenden Fall mit der gleich strengen Mindeststrafe von sechs Monaten Gefängnis zu belegen (Art. 140 Ziff. 1 StGB) wie das Vorgehen eines Täters, der einen qualifizierten Diebstahl nach Art. 139 Ziff. 3 StGB (bandenmässige Begehung, Mitführen einer Waffe, besondere Gefährlichkeit) begehe.
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In einer ersten Phase habe der Beschwerdegegner die Handtasche gepackt und an ihr gerissen. Weil das Opfer die Tasche festgehalten habe, sei es zu Fall gekommen. Auch wenn der Beschwerdegegner es nicht absichtlich zu Boden gerissen habe, so habe er dessen Sturz zumindest in Kauf genommen, da nach allgemeiner Lebenserfahrung gerade ältere Frauen einer erhöhten Sturzgefahr ausgesetzt seien. Bereits durch das Packen und Zerren habe der Beschwerdegegner direkten körperlichen Zwang auf das Opfer ausgeübt und es damit veranlasst, die Wegnahme der Handtasche zu dulden. Das starke Reissen an den Riemen und der damit einhergehende Sturz seien an sich genügend intensiv, um den Widerstand des betagten Opfers zu brechen, so dass bereits diese erste Phase als Raub zu qualifizieren sei. |
Auch nach dem Sturz - zweite Phase - habe das Opfer am Boden liegend weiteren Widerstand geleistet. Es habe an der Handtasche festgehalten und sei so lange mitgeschleift worden, bis es die Tasche nicht mehr habe halten können. Dass der Beschwerdegegner den körperlichen Widerstand mit beträchtlichem Kraftaufwand gebrochen habe, ergebe sich aus den Verletzungen des Opfers. Vorherrschendes Element sei eindeutig die physische Gewalt und nicht der Überraschungseffekt. Auch wenn das Opfer anfänglich überrascht gewesen sei, so habe es die Handtasche gezielt gehalten und in der Folge tatkräftige Abwehr geleistet, indem es am Boden an der Tasche festgehalten habe, solange die Kräfte dazu ausreichten. Das brutale Mitschleifen, bis der Widerstand des Opfers gebrochen war und es die Tasche loslassen musste, sei mit der (harten) Sanktion des Raubtatbestandes zu ahnden.
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Erwägung 4 |
Erwägung 4.3 |
4.3.3 In subjektiver Hinsicht verlangt der Tatbestand - über die Diebstahlsabsicht hinaus - Vorsatz, der sich auf die Ausführung der Nötigungshandlung gegenüber dem Opfer zum Zwecke eines Diebstahls bezieht. Der Täter muss also die Wegnahme der Sache erzwingen wollen oder zumindest in Kauf nehmen, dass er den Widerstand des Opfers durch die ausgeübte Gewalt bricht. |
4.5 Das Bundesgericht nahm in BGE 81 IV 224 unter altem Recht einen Entreissdiebstahl an bei folgender Sachverhaltskonstellation: Der Täter versuchte, einer Fussgängerin die Tasche nach vorn wegzureissen, was ihm aber erst durch ein zweites Zerren gelang, da das Opfer trotz Überraschung zunächst sein Gut mit dem Arm fester einzuklemmen vermochte. Entscheidend war, dass zwar Gewalt verübt wurde, diese aber für sich allein weder geeignet noch bestimmt war, das Opfer im Sinne von Art. 139 aStGB vollständig zum Widerstand unfähig zu machen (S. 227). In BGE 107 IV 107 E. 3b war hingegen die Frau, welche von zwei Männern angegriffen und zu Boden geworfen wurde, Opfer von Gewalt und widerstandsunfähig im Sinne des altrechtlichen Tatbestandes (S. 109). Nach der Gesetzesrevision hat das Bundesgericht in mehreren unveröffentlichten Entscheiden darauf hingewiesen, dass der Gesetzgeber den Tatbestand des Raubes klar verschärfen und wohl nur völlig harmlose Entreissdiebstähle davon ausnehmen wollte. So bejahte es die Anwendung von Gewalt im Sinne von Art. 140 Ziff. 1 Abs. 1 StGB durch einen Täter, der an der Tasche riss und dem Opfer beim Handgemenge unabsichtlich einen Schlag ins Gesicht versetzte, nachdem dieses sich zur Wehr gesetzt und die Tasche fest unter den Arm geklemmt hatte. In einem anderen Fall versuchte der gleiche Täter, einem 71-jährigen sitzenden Opfer im Zugabteil die leicht geöffnete Handtasche zu entreissen, die es festhielt. Durch die entgegengesetzten Kräfte hatte sich die Tasche vollends geöffnet und der Täter konnte daraus die Brieftasche des Opfers behändigen (Urteil 6S.102/ 1997 vom 18. April 1997; dazu WEISSENBERGER, a.a.O., S. 498 ff.). Ebenso beurteilte das Bundesgericht das kräftige Ziehen an den Riemen der Handtasche einer 60-jährigen Frau als Gewalt, die, obwohl sie nicht gestürzt war, leichte Verletzungen (Hämatom in der Handinnenfläche von 9 x 6 cm) davontrug (Urteil 6S.109/2003 vom 6. Juni 2003, E. 2.2). |
Erwägung 5 |
Die Vorinstanz selbst nimmt an, dass die vom Beschwerdeführer ausgeübte Gewalt mit konstantem Aufwand an Kraft darauf gerichtet war, das Festhalten des Opfers an der Tasche zu überwinden. Sie verneint hingegen eine hinreichend intensive Gewalt und gelangt zu diesem Schluss, indem sie den - unabsichtlich - bewirkten Sturz des Opfers und die damit einhergehenden Folgen ausser Betracht lässt. Das allerdings kann nicht richtig sein. Der vom Beschwerdegegner beabsichtigte Diebstahl war objektiv erst vollendet, als er die Handtasche wegnehmen konnte, und folglich beurteilt sich die unmittelbare physische Einwirkung auf den Körper des Opfers bis zum Zeitpunkt des Gewahrsamsbruchs. Dann aber hält die Ansicht, er sei dem Widerstand im Wesentlichen zuvorgekommen und die Gewalt habe sich auf einen gezielten Griff nach der Handtasche beschränkt, nicht stand. Um sein Ziel zu erreichen, musste er vielmehr das Opfer durch anhaltendes Zerren zu Fall bringen und es am Boden so lange mit sich schleifen, bis es gezwungen war, seine Tasche preiszugeben. Die Erheblichkeit des körperlichen Zwanges kann bei einer solchen Gewalteinwirkung und den festgestellten Verletzungen (Hämatome, Schürfungen, evtl. Bruch) nicht fraglich sein. |
Ebenso wenig lässt sich die Ausübung von Gewalt damit verneinen, dass das Opfer keinen besonderen, über das reflexartige Festhalten hinausgehenden Widerstand geleistet habe. Nach dem Gesagten ist massgebend (E. 4.4), ob die betroffene Person trotz Überraschung auf den Angriff zu reagieren vermag. Indem das Opfer vorliegend seine Handtasche für kurze Zeit festhalten konnte und selbst nach dem Sturz am Boden liegend sich noch daran festklammerte, hat es sich zweifellos zur Wehr gesetzt. Eine weiter gehende Gegenwehr war ihm weder möglich noch zumutbar. Die anfänglich unbewusste Reflexhandlung ändert nichts daran, dass das Opfer tatsächlich Widerstand leistete, über den sich der Beschwerdegegner mit Gewalt hinwegsetzte.
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5.2 Der subjektive Tatbestand von Art. 140 Ziff. 1 Abs. 1 StGB ist auch erfüllt. Wer - wie der Beschwerdegegner - nicht ablässt und an der Handtasche weiterhin zerrt, nachdem das Wegreissen nicht auf Anhieb gelungen ist, setzt sich über den körperlichen Widerstand des Opfers bewusst hinweg und will den Diebstahl mit Gewalt erzwingen. Dabei ist unerheblich, dass er das Opfer nicht mit Absicht umgerissen und durch das Mitschleifen am Boden verletzt hat, wie die Vorinstanz annimmt. Der Tatbestand des Raubes erfordert keine Verletzungsabsicht in subjektiver Hinsicht.
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