BGE 146 IV 153
 
15. Auszug aus dem Urteil der Strafrechtlichen Abteilung i.S. A. gegen Oberstaatsanwaltschaft des Kantons Zürich und B. (Beschwerde in Strafsachen)
 
6B_1265/2019 vom 9. April 2020
 
Regeste
Art. 189 ff., Art. 187 StGB; Konkretisierung der Rechtsprechung zum Schutz der sexuellen Freiheit von Kindern, insbesondere zur Zwangssituation bei der Ausübung psychischen Drucks durch einen nahestehenden Täter; Bestätigung der Rechtsprechung zur Konkurrenz zwischen den sexuellen Nötigungstatbeständen und sexuellen Handlungen mit Kindern.
Bei gegebener Urteilsfähigkeit kann ein Täter aus dem sozialen Nahraum ein Kind auch ohne aktive Ausübung von Zwang oder Androhung von Nachteilen unter Druck setzen und damit die sexuellen Nötigungstatbestände erfüllen. Der Täter, der dem Kind vorspiegelt, die sexuellen Handlungen seien normal, eine schöne Sache oder als Gefälligkeit zu erbringen, schafft für das Kind eine ausweglose Situation, die von diesen Tatbeständen ebenso erfasst wird. Entscheidend ist, ob vom Kind angesichts seines Alters, seiner familiären und sozialen Situation, der Nähe des Täters, dessen Funktion in seinem Leben, seines Vertrauens in den Täter und der Art und Weise der Vornahme der sexuellen Handlungen erwartet werden kann, dass es sich dem Missbrauch eigenständig entgegensetzt (E. 3.5.5).
Lassen sich Kinder im Alter wie vorliegend (achteinhalb- bis zehneinhalbjährig) ohne sich zu wehren in sexuelle Handlungen involvieren, kann daraus nicht auf eine freiwillige Mitwirkung geschlossen werden; es ist eine immer nur vermeintliche Freiwilligkeit (E. 3.5.6).
Sichert sich der Täter den Zwangszustand durch das Schaffen einer Geheimnissituation und hält er diese aufrecht, ist ohne Weiteres davon auszugehen, dass die Ausweglosigkeit für das Kind andauert (E. 3.5.8).
 
Sachverhalt


BGE 146 IV 153 (155):

A. A. wird u.a. mehrfacher sexueller Missbrauch der 2005 geborenen B., Tochter seiner damaligen Lebensgefährtin, im Zeitraum zwischen Herbst 2013 und dem 30. September 2015 vorgeworfen.
B. Das Bezirksgericht Pfäffikon erklärte A. mit Urteil vom 16. Januar 2018 der mehrfachen Vergewaltigung, der mehrfachen sexuellen Nötigung, der mehrfachen sexuellen Handlungen mit Kindern, der mehrfachen Pornographie und der mehrfachen Gewaltdarstellungen schuldig. Es bestrafte ihn mit einer Freiheitsstrafe von zehn Jahren, unter Anrechnung von 660 Tagen Haft und vorzeitigem Strafvollzug. Zudem verurteilte es A. zur Zahlung einer Genugtuung von Fr. 80'000.- an B.
C. Das Obergericht des Kantons Zürich, II. Strafkammer, bestätigte den Schuldspruch in den wesentlichen Punkten. Vom Vorwurf der sexuellen Nötigung gemäss Anklageziffer 1 sprach es A. frei. Es verurteilte ihn zu einer Freiheitsstrafe von acht Jahren, unter Anrechnung von 1192 Tagen Haft und vorzeitigem Strafvollzug, sowie zur Zahlung einer Genugtuung von Fr. 50'000.- an B.
D. A. führt Beschwerde in Strafsachen. Er beantragt die Aufhebung des obergerichtlichen Urteils, mit Ausnahme von zwei Ziffern. Von

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den Vorwürfen der mehrfachen Vergewaltigung und der mehrfachen sexuellen Nötigung sei er freizusprechen. Er sei der mehrfachen sexuellen Handlungen mit Kindern, der mehrfachen Pornographie sowie der Gewaltdarstellungen schuldig zu sprechen und unter Anrechnung der erstandenen Haft mit 36 Monaten Freiheitsstrafe zu bestrafen. Er beantragt eine Genugtuung für Überhaft von Fr. 300.- pro Hafttag zzgl. Zins zu 5 % ab dem mittleren Verfalltag. Er sei zu verpflichten, B. eine Genugtuung von Fr. 20'000.- zu leisten. Im Mehrbetrag sei das Genugtuungsbegehren abzuweisen. Er sei per sofort aus der Haft zu entlassen. Eventualiter sei die Sache zu neuer Beurteilung und zur Einvernahme von B. an das Obergericht zurückzuweisen. A. ersucht um unentgeltliche Rechtspflege.
Das Bundesgericht weist die Beschwerde ab, soweit es darauf eintritt.
 
Aus den Erwägungen:
3.5.2 Sexuelle Übergriffe auf Kinder unter 16 Jahren fallen sowohl unter den Schutzbereich von Art. 187 StGB (Gefährdung der Entwicklung von Minderjährigen: Sexuelle Handlungen mit Kindern) als auch unter den Schutzbereich von Art. 189 ff. StGB (Angriffe auf die sexuelle Freiheit und Ehre). Art. 187 StGB und Art. 189 ff. StGB schützen gemäss Rechtsprechung und herrschender Lehre unterschiedliche Rechtsgüter. Zu diesem Schluss führt insbesondere auch die Auslegung der Straftatbestände nach der Strafdrohung (BGE 124 IV 154 E. 3a S. 157 f. mit Hinweisen). Auch in Würdigung der in der jüngeren Lehre geäusserten Zweifel an der Unterschiedlichkeit der geschützten Rechtsgüter ist eine Änderung dieser Rechtsprechung nicht angezeigt (vgl. die Kritik bei NORA SCHEIDEGGER, Das Sexualstrafrecht der Schweiz, Grundlagen und Reformbedarf, 2018, Rz. 225 ff.). Art. 187 StGB schützt die Entwicklung von Minderjährigen und Art. 189 ff. StGB schützen die sexuelle Freiheit. Die Verletzung des Rechtsguts der sexuellen Freiheit ist durch die Bestrafung nach Art. 187 StGB nicht mitabgegolten (BGE 124 IV 154 E. 3a S. 158 mit Hinweisen). Art. 187 StGB schützt als abstraktes

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Gefährdungsdelikt die seelische Entwicklung von Kindern (PHILIPP MAIER, in: Basler Kommentar, Strafrecht, Bd. II, 4. Aufl. 2019, N. 7 zu Art. 187 StGB mit Hinweisen). Kinder besitzen sodann gleich wie Erwachsene eine strafrechtlich geschützte sexuelle Freiheit (BGE 124 IV 154 E. 3a S. 157 f.). Das Strafrecht schützt Minderjährige mit anderen Worten durch Art. 189 ff. StGB wie Erwachsene in ihrer sexuellen Integrität und Freiheit, und sieht mit Art. 187 StGB einen zusätzlichen Schutz ihrer Persönlichkeitsentwicklung vor.
In der Lehre wird die Befürchtung geäussert, es bestehe die Gefahr, dass bei Kindesmissbrauch stets auch die sexuellen Nötigungstatbestände zur Anwendung gelangen (TRECHSEL/BERTOSSA, in: Schweizerisches Strafgesetzbuch, Praxiskommentar, Trechsel/Pieth [Hrsg.], 3. Aufl. 2018, N. 7 zu Art. 189 StGB). Dabei handelt es sich allerdings nicht um eine Gefahr, sondern um eine Konsequenz daraus, dass durch Art. 187 und Art. 189 ff. StGB unterschiedliche Rechtsgüter geschützt werden und dass zwischen diesen Straftatbeständen echte Konkurrenz besteht. Es handelt sich folglich abhängig von den Umständen des Einzelfalls um deliktsinhärentes Unrecht, sofern das Kind urteilsfähig ist und das Verhalten des Täters die Intensität einer Nötigung erreicht. Das Strafrecht schützt das Kind aufgrund dessen besonderer Schutzbedürftigkeit stärker als ein erwachsenes Opfer. Geschützt sind einerseits die sexuelle Freiheit des betroffenen Kindes und andererseits auch dessen Persönlichkeitsentwicklung.
Es wird zudem befürchtet, es komme zu einer Verwischung der Tatbestände. Mit diesen Befürchtungen hat sich das Bundesgericht ausführlich auseinandergesetzt und eine ausreichende Abgrenzung der Tatbestände festgestellt (BGE 128 IV 97 E. 2b/cc mit Hinweisen).
3.5.3 Die Anwendung der Nötigungstatbestände erfordert, dass sich das Opfer bereits einen Willen betreffend seine sexuelle Freiheit bilden kann. Es ist unmöglich, in denjenigen Fällen, in denen ein Wille betreffend die eigene sexuelle Freiheit mangels Einsichtsfähigkeit noch nicht gebildet werden kann, einen solchen (noch nicht bestehenden) Willen zu brechen. Der Tatbestand der Schändung (Art. 191 StGB) ist auf den Fall, in dem ein Kind seinen freien Willen betreffend die sexuellen Handlungen noch nicht bilden kann, zugeschnitten (BGE 120 IV 194 E. 2 mit Hinweisen). Nach der Rechtsprechung darf eine allein altersbedingte Urteilsunfähigkeit nur zurückhaltend angenommen werden, zumal sexuelle Handlungen das Kind in seiner körperlichen und intimen Sphäre berühren, in welcher es eher als

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in anderen Gebieten zum Bewusstsein und zu einer (Abwehr-) Reaktion fähig ist (BGE 120 IV 194 E. 2c mit Hinweisen). Dabei ist nicht geklärt, bis zu welchem Alter eine solche altersbedingte Urteilsunfähigkeit anzunehmen ist (vgl. zur Kontroverse in der Lehre betreffend die altersbedingte Urteilsunfähigkeit MAIER, a.a.O., N. 9 ff. zu Art. 191 StGB; SCHEIDEGGER, a.a.O., Rz. 441 ff.; je mit Hinweisen). Das Bundesgericht hat die Urteilsunfähigkeit eines siebenjährigen Kindes und damit die Unfähigkeit, seinen freien Willen betreffend sexuelle Handlungen zu bilden, bejaht (Urteil 6B_1194/2015 vom 3. Juni 2016 E. 1.3.2; vgl. auch Urteil 6B_1310/2016 vom 13. Dezember 2017 E. 11.2 in fine). Auf die Festlegung einer fixen Altersgrenze ist weiterhin zu verzichten. Vielmehr sind die Umstände des Einzelfalls entscheidend. Als eindeutig zu tief erscheint die in der Lehre postulierte Altersgrenze von vier Jahren (MAIER, a.a.O., N. 11 zu Art. 191 StGB). Solange das Kind mangels Einsichtsfähigkeit noch gar keinen eigenen Willen betreffend sexuelle Handlungen entwickeln kann, ist von Urteilsunfähigkeit des Kindes auszugehen. Für Fälle, in denen ein "Nein" des Kindes zu den sexuellen Handlungen nicht zu erwarten ist, weil das Kind die vorgenommenen Handlungen noch gar nicht einordnen kann, ist der Tatbestand der Schändung einschlägig. Partizipiert ein Kind an sexuellen Handlungen, ohne diese auch nur zu hinterfragen, oder ordnet es diese etwa ohne diesbezügliche Beeinflussung durch den Täter als Spiel ein, kann dies zumindest ein Hinweis auf Urteilsunfähigkeit des Kindes sein.
3.5.4 Wenn wie vorliegend (achteinhalb- bis zehneinhalbjähriges Opfer) im Einklang mit der Rechtsprechung zur Zurückhaltung bei altersbedingter Urteilsunfähigkeit bereits bei Kindern im weit vorpubertären Alter von Urteilsfähigkeit betreffend sexuelle Handlungen ausgegangen wird, so ist der entwicklungsbedingten Unterlegenheit, der Beeinflussbarkeit der Willensbildung und der längst nicht abgeschlossenen Persönlichkeitsentwicklung solcher Kinder bei der Auslegung der Voraussetzungen von sexuellen Nötigungshandlungen gleichwohl Rechnung zu tragen. Der naive Kindeswille ist in dieser Phase formbar und beeinflussbar, und die kindliche Persönlichkeit ist noch nicht so weit entwickelt, dass eine eigenständige Willensbildung gleich wie bei einem älteren Kind oder gar bei einem Erwachsenen unabhängig vom Täter resp. entgegen dessen Willen erfolgen könnte. Ein Kind ist in dieser Phase aber genauso schützenswert in seiner sexuellen Freiheit wie davor und danach. Ein unzureichender Rechtsschutz für diese Phase ist nicht hinzunehmen. Sobald das

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Kind in seiner Persönlichkeit so weit entwickelt ist, dass es seinen Willen eigenständig und unabhängig vom Täter bilden kann, sind im Hinblick auf die sexuellen Nötigungstatbestände höhere Anforderungen an den psychischen Druck oder Zwang zu stellen, den der Täter konkret aktiv ausübt. Die beschriebenen Entwicklungsphasen sind nicht scharf voneinander abgrenzbar, die Grenzen sind fliessend. Die vorgenommene Konkretisierung der Rechtsprechung bezweckt, der fliessenden Grenze zwischen der Urteilsunfähigkeit eines Kindes und der frühen Urteilsfähigkeit mit starker Beeinflussbarkeit Rechnung zu tragen und zu verhindern, dass für betroffene Kinder eine Rechtsschutzlücke entsteht.
3.5.5 Zu konkretisieren sind die Anforderungen an die für die Tatbestandsvariante des "Unter-psychischen-Druck-Setzens" erforderliche "tatsituative Zwangssituation" bei sexuellen Übergriffen im sozialen Nahraum auf Kinder, die aufgrund der zurückhaltenden Rechtsprechung zur altersbedingten Urteilsunfähigkeit als urteilsfähig eingestuft werden, deren Bewusstseins- und Persönlichkeitsentwicklung betreffend Sexualität aber erst beginnend im Gange ist. Eine solche "tatsituative Zwangssituation" kann beim betroffenen Kind dadurch entstehen, dass der Täter zum Erreichen seines Ziels auf die Willensbildung und das Bewusstsein des Kindes einwirkt, ohne dass dabei diese Einwirkung mit aktiver Zwangsausübung oder dem expliziten Androhen von Nachteilen verbunden sein muss. Die Einwirkungsmöglichkeit auf den Kindeswillen kommt dem Täter aufgrund seiner Bezugspersoneneigenschaft, seiner kognitiven Überlegenheit, dem Vertrauen, das ihm das Kind entgegenbringt und seiner daraus resultierenden Machtposition zu. Es ist Verantwortung und Aufgabe von erwachsenen Bezugspersonen, insbesondere von Erziehungsberechtigten und mit Erziehungsaufgaben betrauten Personen, das kindliche Bewusstsein über den Umgang mit dem eigenen Körper und der eigenen Sexualität zu stärken. Dazu gehört, einem Kind zu vermitteln, welcher Umgang mit seinem Körper in seinem Alter angebracht ist. Wer als Bezugsperson einem von ihm abhängigen Kind in dieser Phase vermittelt, sexuelle Handlungen mit einem Erwachsenen in der Art der hier vorgenommenen (u.a. Beischlaf, Oralsex, Peitschen) entsprächen in seinem Alter auch nur ansatzweise einer Selbstverständlichkeit und Normalität, nimmt in krasser Weise Einfluss auf die Bewusstseinsentwicklung dieses Kindes und nimmt dem Kind in Ausnützung seiner Machtposition und seines Alters- und Wissensvorsprungs die Freiheit, zu diesen sexuellen

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Handlungen "Nein" zu sagen und sich dagegen zu wehren. Psychischer Druck entsteht für ein Kind nicht nur dann, wenn ihm der Täter ausdrücklich einen Nachteil androht. Vielmehr kann das Verhalten einer Bezugsperson im Kind eine ausweglose Zwangssituation bewirken, auch wenn es in oberflächlicher, kontextloser Betrachtungsweise nicht als direkt bösartig oder objektiv schwerwiegend erscheint. Der Täter, der dem Kind vorspiegelt, die sexuellen Handlungen seien normal, bewirkt einen erheblichen psychischen Druck für das Kind, das die Frage der Normalität allein nicht abschliessend beurteilen kann und sich nicht abnormal verhalten möchte. Der Täter, der sich vom Kind einen nur kleinen, normalen Gefallen erbittet, oder der Täter, der dem Kind weismacht, es handle sich um eine schöne Sache, die man zusammen erleben könnte, erzeugt einen enormen psychischen Druck für das Kind, das ihm einen solchen Gefallen nicht abschlagen möchte, und das nicht daran schuld sein möchte, wenn der Täter diese angeblich schöne Sache nicht erleben darf. Der Täter, der die Willensbildung des Kindes in dieser Art steuert und manipuliert, schafft eine für das Kind dermassen ausweglose Situation, wie sie von den sexuellen Nötigungstatbeständen erfasst ist. Je näher die Bezugsperson dem Kind und je grösser das Vertrauen des Kindes in diese Bezugsperson ist, desto grösser ist die psychische Zwangssituation für das betroffene Kind und desto auswegloser dessen Situation. Dem Kind ist ein Widersetzen gegen die sexuellen Handlungen unter diesen Umständen nicht zuzumuten. Es handelt sich nicht um ein reines Ausnutzen einer Machtposition, sondern um instrumentalisierte, strukturelle Gewalt. Ein Kind, dessen Persönlichkeits- und Bewusstseinsentwicklung betreffend Sexualität noch längst nicht abgeschlossen ist, ist dem Täter aufgrund dessen kognitiver und körperlicher Überlegenheit und seinem Einfluss auf die Willensbildung des Opfers bei dieser Tat vollkommen ausgeliefert. Der Einfluss auf die Willensbildung des Opfers ist dabei umso grösser, je jünger das Opfer ist und je näher der Täter dem Opfer steht. Entscheidend ist nach der Rechtsprechung, ob vom Opfer erwartet werden kann, dass es sich dem Täter widersetzt, d.h. ob ihm ein Widersetzen unter solchen Umständen zuzumuten ist. Mit anderen Worten ist in einem Fall von Kindesmissbrauch im sozialen Nahraum entscheidend, ob von einem Kind angesichts seines Alters, seiner familiären und sozialen Situation, der Nähe des Täters und Funktion des Täters in seinem Leben, seines Vertrauens in den Täter und der Art und Weise der Vornahme der sexuellen Handlungen


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durch den Täter (als Normalität, als Selbstverständlichkeit, als etwas Schönes, als ein Spiel), erwartet werden kann, dass es sich diesem eigenständig entgegensetzt.
3.5.6 Dabei ist nicht erforderlich, dass der Täter auf diese Weise ein Nachgeben des Kindes erreicht, zumal ein solches vielfach gar nicht erst aktiv bewirkt werden muss. Vielmehr reicht es aus, dass der Täter das Mitmachen des Kindes erwirkt, dem ein Widerstand aufgrund der genannten Umstände nicht zuzumuten ist. Von einem Einverständnis zu den vorgenommenen Handlungen, von Freiwilligkeit kann bei so kleinen Kindern in keinem Fall ausgegangen werden. Lassen sich Kinder im Alter wie vorliegend (achteinhalb- bis zehneinhalbjährig) ohne sich zu wehren in sexuelle Handlungen involvieren, kann daraus nicht auf eine freiwillige Mitwirkung geschlossen werden; es ist eine immer nur vermeintliche Freiwilligkeit. Das Bild des aus seiner Persönlichkeit heraus sexualisierten Kindes, das auch der Beschwerdeführer im vorliegenden Strafverfahren bemühte, entspricht keineswegs der Realität. Vielmehr ist das Vorgehen des Täters, der dem Kind nahesteht, der sogar eine Erziehungsfunktion wahrnimmt, der ein grosses Vertrauen durch das Kind und dessen familiäres Umfeld geniesst, und der das Kind aufgrund dieser Umstände zur Befriedigung seiner Bedürfnisse missbrauchen kann, als erheblicher Gewaltakt gegen die sexuelle Freiheit einzustufen. Dem betroffenen Kind fehlt die Möglichkeit, die Bedeutung der sexuellen Handlungen und die damit verbundenen Auswirkungen auf seine Persönlichkeitsentwicklung abschliessend zu erkennen und selbstständig, entgegen die manipulative Beeinflussung durch seine - genau diese Situation ausnutzende - Bezugsperson einzuordnen. Diese Möglichkeit erreicht es erst mit zunehmendem Alter, wie der vorliegende Fall, wo das Kind zwei Jahre nach Beginn der sexuellen Übergriffe mit rund zehneinhalb Jahren unabhängig vom Willen und der manipulativen Einwirkung des Täters ein "Nein" äussern konnte, deutlich zeigt. Das Kind kann seinen Willen aufgrund der Einwirkung des Täters auf seine Willensbildung jedenfalls bei Vornahme des ersten sexuellen Übergriffs nicht anders bilden. Die Situation ist für das Kind ausweglos und aussichtslos. Der Täter nimmt dem Opfer durch seine Beeinflussung die Freiheit, "Nein" zu den vorgenommenen Handlungen zu sagen, die es selbst nicht kennt und nicht eigenständig einordnen kann. Der Täter schafft so durch Instrumentalisierung eines strukturellen Gewaltverhältnisses eine für das Opfer ausweglose Zwangssituation.


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3.5.7 Je älter das Kind ist, desto weniger gross ist die Einflussmöglichkeit des Täters, auch eines Täters aus dem Nahbereich mit Erziehungsfunktion, auf seine Willensbildung. Das Kind erfährt immer mehr auch aus anderen Quellen, namentlich in der Schule, welcher Umgang mit seinem Körper in seinem Alter angebracht wäre. Davon ist etwa auszugehen, wenn das Kind in der Pubertät insbesondere in der Schule mit Themen und Fragen zur eigenen Sexualität konfrontiert wird. Es sind weniger hohe Anforderungen an den zu brechenden Widerstand des Kindes zu setzen, je näher der Täter dem Kind steht und desto grösser somit sein Einfluss auf die Willensbildung des Kindes ist. Zu berücksichtigen ist eine allfällig gelebte Normalität zwischen dem Täter und dem Kind, die einen Widerstand des Kindes länger nicht erwarten lässt und bewirkt, dass an die "tatsituative Zwangssituation" keine überhöhten Anforderungen gestellt werden dürfen.
3.5.8 Sichert nun der Täter den Zustand dieser Zwangssituation durch das Schaffen einer Geheimnissituation, ist ohne Weiteres davon auszugehen, dass die Ausweglosigkeit für das Kind weiterhin andauert. Der Täter stellt so sicher, dass das Kind nicht auf anderem Weg erfährt, dass solche Handlungen keineswegs selbstverständlich oder normal sind. Dies gilt unabhängig davon, wie ein solches Schweigegebot begründet wird: Ob als Spiel, ob als (vielleicht sogar schön dargestelltes) Geheimnis zwischen dem Täter und dem Kind, ob mit dem in Aussicht stellen von direkten Nachteilen für das Kind wie etwa Sanktionen, Liebesentzug oder Geschenkentzug, von Nachteilen, die dem Täter zuteil werden könnten, oder von Nachteilen für andere nahestehende Personen. Dies gilt auch dann, wenn das Schweigen des Kindes dadurch erreicht wird, dass dem Kind der Eindruck vermittelt wird, es würde sich lächerlich machen, unglaubwürdig sein oder müsste sich für seine Handlungen schämen, sollte jemand Drittes davon erfahren. Wenn der Täter in einer solchen Konstellation eine Geheimnissituation schafft oder eine bestehende Geheimnissituation zu seinen Zwecken ausnutzt, ist dies unabhängig von der Begründung des Geheimnisses oder der allfälligen Verknüpfung des Geheimnisses mit Nachteilsandrohungen als Nötigungsmittel zu werten, das eine Ausweglosigkeit der Situation für das Kind zur Folge hat. Der Täter bewirkt aber die Ausweglosigkeit der Situation für das Kind bereits bei Vornahme der ersten sexuellen Handlung und es hängt nicht entscheidend vom Schaffen der Geheimnissituation ab, dass eine "tatsituative Zwangssituation" zu bejahen ist.


BGE 146 IV 153 (163):

3.5.9 Die beschriebene Situation unterscheidet sich grundlegend von den Fällen der Ausnutzung einer Machtposition gemäss Art. 193 StGB, wo der Täter eine namentlich durch ein Arbeitsverhältnis begründete Abhängigkeit oder eine Notlage einer Person ausnutzt. Die Zwangssituation wird in diesen Fällen nicht durch den Täter ausgeübt, sondern sie wirkt unabhängig von der Person des Täters auf das grundsätzlich selbstbestimmte Opfer. Das Opfer befindet sich bereits in einer Zwangssituation, wenn der Täter seinen Tatentschluss fasst, einen sexuellen Übergriff auf das Opfer auszuführen (MAIER, a.a.O., N. 4 und 12 zu Art. 193 StGB). Das betroffene Kind hingegen befindet sich nicht in einer Zwangssituation, bis der Täter es mit seinem Bedürfnis nach der Vornahme von sexuellen Handlungen konfrontiert. Zwar besteht auch hier ein Abhängigkeitsverhältnis zwischen Täter und Opfer. Die für das Kind entstehende Zwangssituation ist aber im Unterschied zu Art. 193 StGB einzig auf das durch den Täter geäusserte Bedürfnis nach sexuellen Handlungen mit dem Kind zurückzuführen. Der Täter bewirkt die Zwangssituation für das Kind erst nach Fassen des Tatentschlusses, wenn er das Kind mit seinem Bedürfnis nach sexuellen Handlungen konfrontiert.