BGE 147 IV 433 |
44. Auszug aus dem Urteil der Strafrechtlichen Abteilung i.S. A. gegen Justizvollzug und Wiedereingliederung (Beschwerde in Strafsachen) |
6B_764/2021 vom 18. August 2021 |
Regeste |
Art. 30 Abs. 1 BV; Art. 59 und 62c Abs. 1 lit. a StGB; Art. 19 Abs. 2 lit. b StPO; § 38b Abs. 1 lit. d Ziff. 2 des Verwaltungsrechtspflegegesetzes des Kantons Zürich vom 24. Mai 1959 (VRG); Tragweite der einzelrichterlichen Zuständigkeit für "Streitigkeiten betreffend den Justizvollzug nach dem Straf- und Justizvollzugsgesetz" im Kanton Zürich. |
Sachverhalt |
A.a Das Bezirksgericht Bülach verurteilte A. am 1. November 2016 u.a. wegen versuchten Mordes, versuchten Raubes, mehrfacher Vergewaltigung und sexueller Nötigung zu einer Freiheitsstrafe von 15 Jahren. Den Vollzug der Freiheitsstrafe schob das Bezirksgericht zugunsten einer stationären therapeutischen Massnahme (Art. 59 StGB) auf.
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A.b Mit Verfügung vom 26. August 2020 hob das Amt für Justizvollzug und Wiedereingliederung des Kantons Zürich die Massnahme auf, weil es diese für aussichtslos hielt (Art. 62c Abs. 1 lit. a StGB), und ordnete Sicherheitshaft an. Zugleich stellte es in Aussicht, es werde dem Bezirksgericht nach Eintritt der Rechtskraft der Verfügung beantragen, eine Verwahrung (Art. 64 StGB) auszusprechen. |
Das Obergericht des Kantons Zürich hielt in einem Beschluss vom 9. November 2020 fest, während des Nachverfahrens beruhe die Freiheitsentziehung noch auf der mit Urteil vom 1. November 2016 angeordneten stationären Massnahme.
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A.c Die Direktion der Justiz und des Innern des Kantons Zürich wies den (mit Antrag auf Weiterführung der stationären Massnahme und Aufhebung der Sicherheitshaft erhobenen) Rekurs von A. gegen die Verfügung vom 26. August 2020 ab, soweit sie darauf eintrat (Verfügung vom 6. November 2020).
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B. A. erhob Beschwerde beim Verwaltungsgericht des Kantons Zürich. Die Einzelrichterin wies die Beschwerde im schriftlichen Verfahren ab, soweit sie darauf eintrat (Urteil vom 3. Mai 2021).
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C. A. führt Beschwerde in Strafsachen. Er beantragt, das angefochtene Urteil sei aufzuheben und die Sache an die Direktion der Justiz und des Innern zurückzuweisen. Eventuell sei deren Verfügung vom 6. November 2020 aufzuheben und die stationäre Massnahme weiterzuführen. Es sei festzustellen, dass die Versetzung in zeitlich unbegrenzte Sicherheitshaft Art. 5 EMRK verletze. Subeventuell sei die Sache an die Vorinstanz zurückzuweisen, damit sie diese in korrekter Besetzung behandle. Ausserdem ersucht A. um unentgeltliche Rechtspflege.
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Das Bundesgericht heisst die Beschwerde gut.
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Aus den Erwägungen: |
Erwägung 2 |
2.2 Der Beschwerdeführer macht geltend, es sei willkürlich, den Einzelrichter für sämtliche Fälle aus dem Gebiet des Straf- und Massnahmevollzugs zuständig zu erklären. Die Tragweite einer Aufhebung der therapeutischen Massnahme vor Ablauf der grundsätzlich fünfjährigen Dauer verbiete dies. Der Aufhebungsentscheid spure zudem die beantragte Verwahrung faktisch vor. § 38b des kantonalen Verwaltungsrechtspflegegesetzes, mit welchem die Vorinstanz die einzelrichterliche Spruchkompetenz begründe, werde dem Bestimmtheitsgebot nicht gerecht. Die einzelrichterliche Zuständigkeit sei auf Entscheide über den Strafvollzug zugeschnitten. |
Die Vorinstanz erwägt, zur Behandlung von Beschwerden betreffend den Straf- und Massnahmenvollzug sei der Einzelrichter zuständig. Da kein Fall von grundsätzlicher Bedeutung vorliege, sei die Einzelrichterin zum Entscheid berufen.
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Strittig ist, ob das kantonale Recht die einzelrichterliche Erledigung generell für alle Fragen des Straf- und Massnahmenvollzugs ermöglicht. Das kantonale Verwaltungsgericht nimmt offenbar an, die Kompetenznorm komme bei allen Anordnungen der im Bereich Straf- und Massnahmenvollzug zuständigen kantonalen Behörde zum Tragen (vgl. § 2 und 5 lit. a der Justizvollzugsverordnung des Kantons Zürich vom 6. Dezember 2006 [JVV;LS 331.1]). Schon bezogen aufeine frühere Bestimmung im VRG, wonach "Anordnungen auf Grund des Straf- und Vollzugsgesetzes" einzelrichterlich zu behandeln seien, bezog das Zürcher Verwaltungsgericht die Norm nicht nur auf Anordnungen, die ihre rechtliche Grundlage einzig im selbständigen kantonalen Straf- und Vollzugsgesetz hatten, sondern auf alle Anordnungen, für welche die in diesem Gesetz genannten Behörden zuständig waren, mithin auch auf solche, die sich auf Bundesrecht stützten. Das Bundesgericht hat diese Auslegung damals als "ohne Weiteres vertretbar" eingestuft (Urteil 6A.24/2003 vom 6. Juni 2003 E. 2.2 und 2.3). Der Fokus lag dabei auf der Feststellung, die Anwendung der Kompetenznorm beschränke sich nicht auf im kantonalen Recht originär geregelte Vollzugsfragen. Der heutige § 38b Abs. 1 lit. d Ziff. 2 VRG verwendet den Begriff des "Justizvollzugs" (gemäss Legaldefinition in § 1 StJVG: Vollzug der strafrechtlichen Sanktionen) als Synonym für den Straf- und Massnahmevollzug insgesamt (MARTIN BERTSCHI, in: Kommentar zum Verwaltungsrechtspflegegesetz des Kantons Zürich [VRG],Alain Griffel[Hrsg.], 3. Aufl.2014, N. 16 f. zu § 38b VRG). Insofern setzt die Anwendung von § 38b Abs. 1 lit. d Ziff. 2 VRG nach wie vor nicht voraus, dass sich die strittige Anordnung ausschliesslich auf das StJVG stützt. Aus dieser Feststellung lässt sich aber keine umfassende Gleichsetzung mit sämtlichen funktionellen Zuständigkeiten des Amtes für Justizvollzug ableiten. |
Der Geltungsbereich von § 38b Abs. 1 lit. d Ziff. 2 VRG ergibt sich vielmehr aus der Natur der Einzelrichterkompetenz. Bereits die ausdrückliche Verweisung auf den "Justizvollzug nach dem StJVG" macht deutlich, dass über Durchführungsfragen hinausgehende Entscheide nicht ohne Weiteres unter den hier verwendeten Vollzugsbegriff fallen: Soweit das StJVG den Vollzug der strafrechtlichen Sanktionen regelt (§ 1 und 20 ff. StJVG), befasst es sich unter anderem mit der Sicherheitshaft (§ 22 und 22a), mit Sicherheits- und Schutzmassnahmen (§ 23 und 23a) und mit Disziplinarmassnahmen (§ 23b ff.). Ferner enthält es Bestimmungen organisatorischer und datenschutzrechtlicher Natur (§ 24 ff.). Diese Gegenstände eignen sich für die Einzelrichterkompetenz, also für ein gestrafftes und beschleunigtes Verfahren in Streitfällen mit beschränkter Bedeutung, dies namentlich in Gebieten, in denen der kantonale Gesetzgeber mit zahlreichen Fällen rechnete (BERTSCHI, a.a.O., N. 4 zu § 38b VRG). Unter das dergestalt vereinfachte Verfahren fallende Streitigkeiten betreffen jeweils die Durchführung einer Strafe oder Massnahme, bis hin zum Entscheid über eine bedingte Entlassung (Art. 62 StGB; vgl. MARIANNE HEER, Beendigung therapeutischer Massnahmen: Zuständigkeiten und Verfahren, AJP 2017 S. 595 ff.). Die strittige vorzeitige Aufhebung der stationären Massnahme nach Art. 59 StGB jedoch betrifft ihren (Weiter-)Bestand (vgl. Urteil 6B_296/2021 vom 23. Juni 2021 E. 1.2.1). Dabei handelt es sich nicht um eine Vorkehr des Vollzugsalltags, sondern um eine Angelegenheit mit erheblicher Tragweite für die Rechtsstellung der betroffenen Person und/oder für das öffentliche Sicherheitsinteresse (Urteil 6B_486/2021 vom 21. Juli 2021 E. 1.4; vgl. auch unten E. 2.4). |
Die Vorgaben für eine einzelrichterliche Zuständigkeit verbieten es somit, den Begriff "[Streitigkeiten betreffend den] Justizvollzug" (§ 38b Abs. 1 lit. d Ziff. 2 VRG) mit dem Begriff des Vollzugs gleichzusetzen, wie er etwa benutzt wird, um den "Vollzugsentscheid" (etwa über die Aufhebung einer Massnahme) vom strafrechtlichen Folgeentscheid zu unterscheiden (vgl. BGE 145 IV 167 E. 1.5 S. 173 unten). Freilich qualifiziert die Rechtsprechung die Aufhebung einer Massnahme mitunter als "typische Vollzugsentscheidung" ( BGE 141 IV 49 E. 2.4). Damit betont sie aber (im Kontext mit dem Rechtsweg) bloss den Umstand, dass die Aufhebungsverfügung das Sachurteil, mit welchem die Massnahme angeordnet wurde, nicht berührt (vgl. auch Urteil 6B_616/2018 vom 12. Juli 2018 E. 3.2 mit Hinweisen). Die hier interessierende einzelrichterliche Zuständigkeit ist nach einem anderen Vollzugsbegriff einzugrenzen.
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Es fehlt somit an einer gesetzlichen Grundlage, um die Aufhebung der stationären therapeutischen Massnahme einzelrichterlich zu beurteilen. Die über den Anwendungsbereich von § 38b Abs. 1 lit. d Ziff. 2 VRG hinausreichende Feststellung der Zuständigkeit im angefochtenen Urteil verletzt die Garantie des verfassungsmässigen Richters (Art. 30 Abs. 1 BV; vgl. BGE 140 II 141 E. 1).
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Art. 19 Abs. 2 lit. b StPO schliesst "für die Beurteilung von Verbrechen und Vergehen" erstinstanzliche Einzelgerichte u.a. dann aus, wenn die Staatsanwaltschaft dafür "eine Freiheitsstrafe von mehr als zwei Jahren, eine Verwahrung nach Artikel 64 StGB, eine Behandlung nach Artikel 59 Absatz 3 StGB (...) beantragt" (vgl. auch das Zürcher Gesetz vom 10. Mai 2010 über die Gerichts- und Behördenorganisation im Zivil- und Strafprozess [GOG; LS 211.1] in § 27 Abs. 1 lit. b Ziff. 2 und 3; vgl. Urteil 6B_559/2016 vom 7. Juni 2016 E. 1.3). Das Bundesgericht bezieht die Verwahrung im selbständigen nachträglichen Verfahren (Art. 62c Abs. 4 oder Art. 65 Abs. 2 StGB) in die kollegialgerichtliche Zuständigkeit ein. Die (zunächst für das erstinstanzliche gerichtliche Verfahren geltende) Regel gilt kraft Art. 379 StPO auch im Rechtsmittelverfahren ( BGE 145 IV 167 E. 2.3). Ebensowenig darf nach Art. 19 Abs. 2 lit. b StPO eine (im Sinn von Art. 59 Abs. 3 StGB in einer geschlossenen Einrichtung durchzuführende) stationäre therapeutische Massnahme durch ein Einzelgericht angeordnet werden. Das gilt wiederum auch für deren nachträgliche Anordnung. Zuständig ist das (Kollegial-) Gericht, das ursprünglich die Strafe ausgesprochen oder die Verwahrung angeordnet hat (Art. 65 Abs. 1 zweiter Satz StGB). |
Verfügungen der Behörde, die für die Aufhebung einer Massnahme (Art. 62c StGB) zuständig ist, sind im Kanton Zürich beim Verwaltungsgericht anfechtbar (Urteil 6B_1166/2020 vom 5. November 2020 E. 3.3; über die unterschiedlichen Zuständigkeits- und Rechtswegmodelle: BGE 145 IV 167 E. 1.3 ff.). Der für die Anordnung einer Behandlung nach Art. 59 Abs. 3 StGB geltende Ausschluss eines Einzelgerichts ist auch im Fall der verwaltungsgerichtlichen Kontrolle eines vollzugsbehördlichen Aufhebungsentscheids beachtlich. In Kantonen, in denen Verwaltungs- resp. Verwaltungsjustizbehörden zuständig sind, muss der Rechtsschutz grundsätzlich gleichwertig sein wie in Kantonen, die ein Vollzugsgericht kennen, d.h. eines, das nicht erst über die Rechtsfolgen (wie den Vollzug der Reststrafe, eine andere Massnahme oder die Verwahrung; BGE 141 IV 49 E. 2.5 und 2.6) entscheidet, sondern schon über die vorangehende Aufhebung einer bestehenden Massnahme (vgl. BGE 145 IV 167 E. 1.4 ff.; HEER, a.a.O., S. 594 f.). Eine weitgehende Annäherung des Rechtsschutzstandards ist auch deswegen bedeutsam, weil bei - wie hier - geteilter Zuständigkeit die Aufhebung erst in der zweiten Instanz gerichtlich überprüft wird. In Fällen einer vorzeitigen Aufhebung der stationären Massnahme wegen Aussichtslosigkeit - d.h. wenn die Behörde die Behandlung für definitiv undurchführbar hält ( BGE 141 IV 49 E. 2.3) - besteht aus Sicht des Betroffenen oder der Staatsanwaltschaft (vgl. Urteil 6B_486/2021 vom 21. Juli 2021 E. 1.4) regelmässig ein Rechtsschutzbedürfnis, das ähnlich intensiv ist wie bei der Anordnung; sei es mit Blick auf die Vollziehbarkeit einer aufgeschobenen Freiheitsstrafe (resp. auf allenfalls folgende nachträgliche Verfahren) oder mit Blick auf die Durchsetzung des öffentlichen Interesses an der Deliktsprävention.
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2.5 Nach dem Gesagten muss die vorliegende Streitsache in kantonaler Beschwerdeinstanz kollegialgerichtlich beurteilt werden. Das angefochtene Urteil verstösst gegen Bundesrecht und ist aufzuheben. Die Sache ist an die Vorinstanz zurückzuweisen, damit sie die Beschwerde gegen die Verfügung der kantonalen Direktion der Justiz und des Innern vom 6. November 2020 bundesrechtskonform in ordentlicher Besetzung (§ 38 VRG) behandelt. |