BGE 98 V 251
 
62. Auszug aus dem Urteil vom 7. November 1972 i.S. Ineichen gegen Ausgleichskasse des Kantons Luzern und Versicherungsgericht des Kantons Luzern
 
Regeste
Art. 11 Abs. 1 AHVG.
 


BGE 98 V 251 (251):

Aus den Erwägungen:
Ist einem obligatorisch Versicherten die Bezahlung der Beiträge aus selbständiger Erwerbstätigkeit nicht zuzumuten, so können seine Beiträge auf begründetes Gesuch hin für bestimmte

BGE 98 V 251 (252):

oder unbestimmte Zeit angemessen herabgesetzt werden (Art. 11 Abs. 1 AHVG). Die Voraussetzung der Unzumutbarkeit ist erfüllt, wenn der Beitragspflichtige bei Bezahlung des vollen Betrages seinen und seiner Familie Notbedarf nicht befriedigen könnte.
Gemäss ständiger Praxis (EVGE 1965 S. 202) beurteilt der Sozialversicherungsrichter die Gesetzmässigkeit der angefochtenen Verfügungen in der Regel nach dem Sachverhalt, der zur Zeit des Verfügungserlasses gegeben war. Tatsachen, die jenen Sachverhalt seither verändert haben, sollen im Normalfall Gegenstand einer neuen Verwaltungsverfügung sein. Es fragt sich, ob diese Ordnung auch für die richterliche Kontrolle von Verwaltungsverfügungen über Erlass oder Herabsetzung von Forderungen des Versicherungsträgers wegleitend sein kann.
Da der ganze oder partielle Erlass solcher Forderungen eine wirtschaftliche Notlage des Schuldners voraussetzt (Art. 11 und Art. 47 Abs. 1 AHVG), muss der endgültige Erlass- bzw. Herabsetzungsentscheid - unter Vorbehalt von Fällen missbräuchlicher Verzögerung - auf die ökonomischen Verhältnisse des Schuldners abstellen, die im Zeitpunkt gegeben sind, da er bezahlen sollte. Damit ist zugleich gesagt, dass weder weit zurückliegende noch durchschnittliche wirtschaftliche Verhältnisse entscheidend sein können. Dennoch ist der im Erlassbzw. Herabsetzungsprozess erstmals angerufene Richter nicht verpflichtet, direkt und abschliessend zu überprüfen, ob und allenfalls wie weit sich die wirtschaftliche Lage des Schuldners seit Eröffnung der angefochtenen Verfügung über das Erlass- oder Herabsetzungsgesuch verändert hat. Der Richter kann sich gegebenenfalls auf die Feststellung beschränken, dass die Verwaltungsverfügung zur Zeit ihrer Eröffnung richtig war, und es der Partei, die seither veränderte erhebliche Tatsachen behauptet, überlassen, eine neue Verfügung zu provozieren. Es ist ihm aber auch nicht verwehrt, unter Umständen - aus prozessökonomischen Gründen - nach Gewährung des rechtlichen Gehörs seinem Urteil den neuen Sachverhalt zugrunde zu legen, wie er dies übrigens - obschon nur ausnahmsweise - auf andern Gebieten des Sozialversicherungsrechtes tut.