BGE 105 V 262
 
56. Urteil vom 21. November 1979 i.S. Bundesamt für Sozialversicherung gegen Gallner und Versicherungsgericht des Kantons Basel-Landschaft
 
Regeste
Art. 88a Abs. 2 und 88bis Abs. 1 lit. a IVV.
- Muss die Wartefrist des Art. 88a Abs. 2 IVV auch bei Vorliegen eines stabilisierten Zustandes erfüllt werden (Erw. 3c)? Frage offen gelassen.
 
Sachverhalt


BGE 105 V 262 (262):

A.- Der 1928 geborene Josef Gallner leidet an Angina pectoris. Er bezog seit 1. Mai 1977 eine halbe Invalidenrente. Wegen Verschlechterung seines Gesundheitszustandes stellte er die Erwerbstätigkeit gegen Ende November 1977 ein; der behandelnde Arzt bezeichnete ihn zu 100% arbeitsunfähig. Mit Schreiben vom 10. Januar 1978 ersuchte Josef Gallner um

BGE 105 V 262 (263):

Zusprechung einer ganzen (anstelle der halben) Rente. Dem wurde mit Verfügung vom 1. September 1978 entsprochen, und zwar mit Wirkung ab 1. März 1978; der Revisionszeitpunkt wurde in Anwendung von Art. 88a Abs. 2 IVV "nach Ablauf von den drei Monaten" seit Einstellung der Erwerbstätigkeit festgelegt.
B.- Beschwerdeweise ersuchte Josef Gallner um rückwirkende Zusprechung der ganzen Rente ab 1. Dezember 1977.
Das Versicherungsgericht des Kantons Basel-Landschaft hiess die Beschwerde insofern gut, als es den Revisionszeitpunkt vom 1. März 1978 auf den 1. Januar 1978 vorverlegte, d.h. auf den Monat der Gesuchseinreichung. Nach der Auffassung des kantonalen Richters handelt es sich bei der Dreimonatsfrist des Art. 88a Abs. 2 IVV nicht um eine eigentliche Wartefrist; diese Frist könne nur die Bedeutung haben, "eine bestimmte Zeit verstreichen zu lassen, bevor die anspruchsbeeinflussende Änderung zu berücksichtigen ist, damit die Ausgleichskasse Gewähr hat, dass es sich effektiv um eine anspruchsbeeinflussende Änderung handle. Die Ausrichtung einer eventuell höheren Rente hat jedoch rückwirkend zu erfolgen."
C.- Das Bundesamt für Sozialversicherung erhebt Verwaltungsgerichtsbeschwerde und beantragt, den Beginn der ganzen Rente auf 1. Februar 1978 festzusetzen, d.h. auf den Beginn des Monats, in dem die drei Monate des Art. 88a Abs. 2 IVV abgelaufen waren.
 
Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:


BGE 105 V 262 (264):

Nach Art. 88bis Abs. 1 lit. a IVV (in der seit 1. Januar 1977 geltenden Fassung) erfolgt die Rentenerhöhung im Falle, wo der Versicherte die Revision verlangt, frühestens von dem Monat an, in dem das Revisionsbegehren gestellt wurde.
Das Eidg. Versicherungsgericht hat erkannt, dass Art. 88a IVV sich im Rahmen der gesetzlichen Ordnung hält und geeignet ist, eine rechtsgleiche und den jeweiligen tatsächlichen Verhältnissen entsprechende Festsetzung der Renten zu gewährleisten (BGE 104 V 147). Des weiteren hat das Gericht festgestellt, dass die Bestimmung von Art. 88a Abs. 2 jener von Art. 88bis Abs. 1 lit. a vorgeht, so dass im Falle, wo der Versicherte die Revision verlangt, die Rente nur dann vom Anmeldemonat an erhöht werden kann, wenn in diesem Monat die dreimonatige Frist des Art. 88a Abs. 2 abgelaufen ist (Urteil Salchli vom 11. Oktober 1978).
a) Zur Begründung ihres Standpunktes führt die Vorinstanz an, die 360tägige Wartefrist des Art. 29 Abs. 1 IVG müsse als abschliessende Regelung betrachtet werden und dürfe als solche nicht durch eine Verordnungsbestimmung verlängert werden.
Richtig ist, dass auf dem Verordnungsweg nichts an der bei Variante II des Art. 29 Abs. 1 IVG zu berücksichtigenden Wartefrist von 360 Tagen geändert werden dürfte. Indes gilt dies nur im Rahmen eines und desselben Anspruchs. Wenn ein neuer oder veränderter Anspruch geltend gemacht wird, so steht nichts entgegen, die für die Variante II geltenden Regeln erneut anzuwenden. Das war unter dem bis Ende 1976 geltenden Recht konstante Praxis, indem durch sinngemässe Anwendung von Art. 29 Abs. 1 IVG die 360 Tage durchschnittlicher Arbeitsunfähigkeit von zwei Dritteln (nebst weiterdauernder Erwerbsunfähigkeit von gleichem Ausmass) vorausgesetzt waren. Wie das Bundesamt für Sozialversicherung darlegt, bringt die neue Regelung ab 1. Januar 1977 keine grundsätzliche Änderung, sondern eine Vereinfachung, indem im Revisionsfalle

BGE 105 V 262 (265):

nach Variante II die Wartefrist nicht mehr kasuell errechnet werden muss, sowie eine Verbesserung, indem die Renten flexibler an die tatsächlichen Verhältnisse angepasst werden können. Es kann keine Rede davon sein, dass diese Neuregelung dem Gesetz widerspräche.
b) Sodann verweist die Vorinstanz auf den in Art. 88a Abs. 2 sinngemäss anwendbar erklärten Art. 29bis IVV, der keine neue Wartefrist vorschreibe und damit ebenfalls zeige, dass Art. 29 Abs. 1 IVG als abschliessend zu betrachten sei. Es sei nicht einzusehen, weshalb es in den Fällen des Art. 88a Abs. 2 IVV anders sein sollte.
Entgegen dieser Auffassung wird im Art. 29bis IVV die (bei der Variante II grundsätzlich zu bestehende) Wartefrist nicht generell eliminiert, sondern es wird für einen Spezialfall bestimmt, wie sie zu berechnen ist, nämlich durch Anrechnung einer früher zurückgelegten Wartezeit auf die bei Renten-Neubeginn im Prinzip zu bestehende Wartefrist. Wie das Bundesamt für Sozialversicherung zutreffend darlegt, gibt es auch im Rahmen des Art. 29bis IVV Fälle, wo eine neue Wartefrist zu absolvieren ist, insbesondere wenn nach dem Unterbruch einer halben Rente neu eine ganze Rente (auf Grund der Variante II) beansprucht wird. Aus Art. 29bis IVV lässt sich somit nichts zugunsten der vorinstanzlichen Auffassung ableiten.
c) Schliesslich stösst sich der vorinstanzliche Richter daran, dass Art. 88a Abs. 2 IVV nicht die Möglichkeit einer sofortigen Anpassung des Rentenanspruchs bei Vorliegen eines stabilisierten Zustandes vorsieht, wie es der I. Variante des Art. 29 Abs. 1 IVG entsprechen würde. Ob die dreimonatige Wartefrist auch in Fällen der Variante I - welche im übrigen eher selten eintreten werden, weil die Rentenrevision meistens durch eine evolutive Entwicklung ausgelöst wird - bestanden werden müsste, kann jedoch für heute dahingestellt bleiben, da unbestrittenermassen ein labiles pathologisches Geschehen vorlag.
Das Bundesamt für Sozialversicherung geht davon aus, dass diese Frist am 30. November 1977 zu laufen begonnen habe. Dies steht in Übereinstimmung mit den Berichten des behandelnden Arztes Dr. med. S. vom 9. Februar und 10. Juni 1978,

BGE 105 V 262 (266):

wonach der Versicherte "Ende November 1977" für eine weitere Operation ins Kantonsspital Basel eintrat, ab welchem Zeitpunkt er als zu 100% arbeitsunfähig taxiert wurde und effektiv auch keine Erwerbstätigkeit mehr aufgenommen hat.
Die Dreimonatsfrist lief somit gegen Ende Februar 1978 ab, so dass die ganze Rente ab 1. Februar 1978 zu gewähren ist (Rz 204 der Wegleitung des Bundesamtes für Sozialversicherung über Invalidität und Hilflosigkeit, Druckvorlage vom 1. Juni 1978), wie das Bundesamt für Sozialversicherung zutreffend beantragt. Der Umstand, dass das Revisionsgesuch bereits im Januar gestellt wurde, ist unbeachtlich, da Art. 88a Abs. 2 dem Art. 88bis Abs. 1 lit. a IVV vorgeht und im Januar die Dreimonatsfrist noch nicht abgelaufen war.
Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:
In Gutheissung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird das Urteil des Versicherungsgerichts des Kantons Basel-Landschaft vom 24. Januar 1979 aufgehoben und die Kassenverfügung vom 1. September 1978 in dem Sinne abgeändert, dass der Beginn der ganzen Rente auf 1. Februar 1978 festgesetzt wird.