BGE 138 V 9 |
2. Auszug aus dem Urteil der II. sozialrechtlichen Abteilung i.S. Sozialversicherungsanstalt des Kantons Graubünden, AHV-Ausgleichskasse gegen S. und S. gegen AHV-Ausgleichskasse (Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten) |
9C_501/2011 / 9C_508/2011 vom 19. Dezember 2011 |
Regeste |
Art. 11 Abs. 1 lit. b ELG; Art. 12 Abs. 1 ELV; Mietwert der selbstbewohnten Liegenschaft als anrechenbare Einnahme. |
Der Verweis in Art. 12 Abs. 1 ELV umfasst nur die steuerrechtlichen Grundsätze, nicht aber die - teilweise erheblich differierenden - kantonalen Regelungen bezüglich der prozentualen Besteuerung (E. 4). |
Sachverhalt |
A. Mit Verfügungen vom 23. Oktober 2009 sprach die IV-Stelle des Kantons Graubünden dem 1950 geborenen S. ab 1. Juli bis 30. September 2009 eine halbe Rente der Invalidenversicherung zu (bei einem Invaliditätsgrad von 59 %) sowie eine Dreiviertelsrente ab 1. Oktober 2009 (Invaliditätsgrad: 61 %). Am 17. Mai 2010 meldete sich S. zum Bezug von Ergänzungsleistungen (EL) an. Die Ausgleichskasse des Kantons Graubünden als EL-Durchführungsstelle verlangte von S. weitere Unterlagen und verfügte am 7. Juli 2010 die Abweisung des Antrages, weil die Berechnung einen Einnahmenüberschuss ergeben habe. Kurz zuvor hatte die Steuerverwaltung der Stadt X. ein Erlassgesuch des S. betreffend ausstehende Stadtsteuern 2006 (Fr. 550.-), 2008 (Fr. 138.-) und 2009 (Fr. 912.-) gutgeheissen mit der Begründung, S. und seine Ehefrau lebten mit ihrem Renteneinkommen von knapp Fr. 3'800.- am Existenzminimum, wobei der Wert der (selbstbewohnten) Liegenschaft unberücksichtigt blieb. Die gegen die Verfügung vom 7. Juli 2010 erhobene Einsprache des S. wies die Ausgleichskasse mit Einspracheentscheid vom 7. September 2010 ab. |
B. Hiegegen liess S. Beschwerde erheben, welche das Verwaltungsgericht des Kantons Graubünden mit Entscheid vom 1. Februar 2011 teilweise guthiess. Es hob den angefochtenen Entscheid auf und verpflichtete die Ausgleichskasse, S. für die Zeit vom 1. Juli bis 30. September 2009 monatliche Ergänzungsleistungen von Fr. 1'247.65 auszurichten; im Übrigen wies es die Beschwerde ab (Dispositiv Ziffer 1).
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C. Die Ausgleichskasse führt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten und beantragt unter Aufhebung des angefochtenen Entscheides die Bestätigung der Verfügung vom 7. Juli 2010. Eventualiter sei die Beschwerde gutzuheissen und der angefochtene Entscheid insofern aufzuheben, als sie verpflichtet werde, S. monatliche Ergänzungsleistungen von Fr. 1'247.65 (Total Fr. 3'742.95) zu bezahlen. Stattdessen sei sie zu verpflichten, S. vom 1. Juli bis 30. September 2009 monatliche Ergänzungsleistungen von Fr. 312.- bzw. in der Höhe des IPV-Minimums (IPV = individuelle Prämienverbilligung in der obligatorischen Krankenversicherung) von Fr. 568.- auszurichten. S. beantragt die Abweisung dieser Beschwerde und die Zusprache von Ergänzungsleistungen von total Fr. 1'487.25 für die Zeit von 1. Juli bis 30. September 2009 (Verfahren 9C_501/2011). |
S. lässt ebenfalls Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten führen und die Aufhebung von Dispositiv Ziffer 1 des vorinstanzlichen Entscheides beantragen, soweit ihm darin das Recht auf Ergänzungsleistungen ab 1. Januar 2010 abgesprochen werde. Die Ausgleichskasse sei zu verpflichten, ihm ab 1. Januar 2010 Ergänzungsleistungen in Höhe von Fr. 1'536.- zuzusprechen. Eventuell sei die Sache an die Vorinstanz zurückzuweisen zur korrekten Ermittlung der Ergänzungsleistungen für das Jahr 2010 (Verfahren 9C_508/2011).
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Die Durchführungsstelle beantragt die Abweisung der Beschwerde und die Verfahrensvereinigung (Verfahren 9C_508/2011).
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Aus den Erwägungen: |
Erwägung 2 |
Erwägung 3 |
3.1 Die Vorinstanz erwog, mit Blick auf die bundesgerichtliche Rechtsprechung und die "einleuchtende Praxis" des Versicherungsgerichts des Kantons St. Gallen, wonach im EL-Bereich der gemäss Steuergesetzgebung gekürzte Mietwert, d.h. der Eigenmietwert, massgeblich sei, entspreche es weder dem Wortlaut von Art. 12 Abs. 1 ELV noch Sinn und Zweck der damit verfolgten Unterstützungshilfe, wenn EL-rechtlich als "steuerrechtliche Grundsätze" lediglich Art. 22 Abs. 2 StG/GR gelte. Eine umfassende, integrale Anwendbarkeit der Regelungen von Art. 22 Abs. 2 und 3 StG/GR sei "bedeutend nachvollziehbarer und plausibler" und die Praxis des St. Galler Gerichts umso mehr auch für den Kanton Graubünden zu übernehmen, als die Bestimmungen im Wesentlichen identisch seien und dadurch zumindest in der Deutschschweiz eine einheitliche Rechtsanwendung bewirkt werde. Demgegenüber sei das von der Beschwerdegegnerin angeführte Bundesgerichtsurteil 9C_376/2009 vom 30. Oktober 2009 (betreffend den Kanton Genf) nicht einschlägig, da dort von einem ganz anderen Reduktionsraster bei der Eigenmietwertberechnung ausgegangen werde. Nicht mehr als Grundsatz im Sinne von Art. 12 Abs. 1 ELV angesehen werden könne hingegen Art. 22 Abs. 4 StG/GR, weil dieser lediglich in speziellen Fällen Anwendung finde und dessen Anwendung im Bereich der Ergänzungsleistungen somit Ungleichheiten bewirken könne. Gestützt auf die amtliche Schätzung vom 19. November 2003 betrage das anrechenbare Einkommen Fr. 20'412.- (70 % von Fr. 29'160.-). |
3.3 Der Beschwerde führende EL-Ansprecher bringt insbesondere vor, die Vorinstanz habe zwar richtig erkannt, dass gemäss Art. 12 Abs. 1 ELV in Verbindung mit Art. 22 StG/GR der im Kanton Graubünden vorgesehene Abzug von 30 % vom Mietwert bei selbstbewohnten Liegenschaften auch bei der Ermittlung des anrechenbaren Vermögensertrages aus einer Liegenschaft im EL-Bereich zum Tragen komme. Hingegen habe das kantonale Gericht zu Unrecht erwogen, Art. 22 Abs. 4 StG/GR (Härtefallabzug) könne nicht unter die Grundsätze gemäss Art. 12 Abs. 1 ELV subsumiert werden. Die kantonale Härtefallregelung stehe im Einklang mit dem Grundsatz der Besteuerung nach der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit und der Wohneigentumsförderung (Art. 108 BV), gehöre zu den Grundsätzen der kantonalen Gesetzgebung über die Besteuerung der selbstbewohnten Liegenschaften und diene der Gleichbehandlung der EL-Bezüger, die eine eigene Liegenschaft bewohnen mit denjenigen, welche eine Wohnung mieten. |
Erwägung 4.1 |
4.1.2 In BGE 126 V 252 war (u.a.) die Frage nach dem Mietzins einer Wohnung als anerkannte Ausgabe strittig. Das Gericht stellte u.a. fest, für eine Mehrheit der Kantone sei der Mietwert definiert als Kosten, welche für die Miete einer identischen Liegenschaft in einer vergleichbaren Situation anfielen (E. 2a S. 254 f.). Dieser Mietwert könne dem zum Abzug zugelassenen Mietzins gleichgesetzt werden, zumal ein gegenüber dem (geschätzten) Bruttoertrag deutlich tieferer Mietwert zu einer entsprechenden Reduktion des Ertrages aus unbeweglichem Vermögen führe. Somit erfolge ein Ausgleich, der im Hinblick auf die verschiedenen kantonalen Praktiken bei der Bemessung des steuerrechtlichen Mietwertes der Gleichbehandlung der Versicherten diene (E. 3 S. 257; vgl. auch URS MÜLLER, Bundesgesetz über die Ergänzungsleistungen zur Alters-, Hinterlassenen- und Invalidenversicherung, 2. Aufl. 2006, Rz. 223). |
4.3 Das Bundesgericht lehnt somit einerseits die Übernahme (rein) steuerrechtlicher Aspekte in das Ergänzungsleistungsrecht ab. Der Beizug steuerrechtlicher Eigenheiten als Grundsätze kommt nur soweit in Frage, als Sinn und Zweck des Ergänzungsleistungsrechts damit im Einklang stehen. Anderseits zieht sich die Gleichbehandlung wie ein roter Faden durch die bundesgerichtliche Rechtsprechung zur EL-rechtlichen (und im Übrigen auch zur steuerrechtlichen) Relevanz und Festsetzung des Mietwerts. Nicht nur Mietende und Eigentümer sollen gleich behandelt werden, sondern es soll auch eine Privilegierung der ihre Liegenschaft selbstbewohnenden Eigentümer unterbleiben vor jenen, welche ihre Wohnung oder ihr Haus weitervermieten (vgl. auch MÜLLER, a.a.O.; E. 4.1.2 hievor). Schliesslich erachtet das Bundesgericht eine möglichst weitgehende Gleichbehandlung der EL-Ansprecher in den verschiedenen Kantonen, die teilweise erheblich differierende Regelungen bezüglich der prozentualen Besteuerung selbstbewohnter Liegenschaften kennen (hiezu die von der Schweizerischen Steuerkonferenz [SSK] herausgegebene Steuerinformation zur Besteuerung der Eigenmietwerte, 2010, S. 15 ff.), für wünschbar. |
4.4 Die vorinstanzliche Betrachtungsweise, wonach der Mietwert bei sog. Selbstbewohnern nur zu 70 % als anrechenbares Einkommen in die EL-Berechnung einfliesst, bei den ihre Liegenschaft weitervermietenden Personen aber zu 100 % als Einkommen angerechnet wird, bewirkt nach den zutreffenden Vorbringen der Beschwerde führenden Ausgleichskasse, dass die Drittvermietung einer eigenen Wohnung wegen des höheren anrechenbaren Einkommens den Anspruch auf Ergänzungsleistungen schmälert oder gar ausschliesst während im Gegenzug die ihre Liegenschaft selbstbewohnenden Personen eher Anspruch auf (höhere) Ergänzungsleistungen haben. Eine solche Ungleichbehandlung gilt es zu vermeiden (E. 4.3 hievor). Was die Ungleichbehandlung von Liegenschaftseigentümern mit Personen ohne Grundeigentum betrifft, entspricht es zwar dem Willen des Gesetzgebers, dass (auch) das Ergänzungsleistungsrecht eine gewisse Privilegierung des in selbstbewohnte Liegenschaften investierten Kapitals zulässt. Der Gesetzgeber hatte vor Augen, dass es sich bei den EL-Berechtigten häufig um Altersrentnerinnen und -rentner handelt, die eher in bescheidenen Verhältnissen wohnen (d.h. in älteren, renovationsbedürftigen Liegenschaften) und ausser der AHV-Rente über keine namhaften Einkünfte verfügen, die aber gerade im Alter möglichst lange in ihrem vertrauten sozialen Umfeld und im eigenen Heim sollten bleiben können. Indes kann weder der bundesrätlichen Botschaft (vom 20. November 1996 zur 3. Revision des ELG; BBl 1997 1207 f.) noch den parlamentarischen Beratungen entnommen werden, dass über den heutigen Art. 11 Abs. 1 lit. c ELG hinaus (wonach selbstbewohnte Liegenschaften beim Vermögen nur mit dem einen bestimmten Betrag übersteigenden Wert berücksichtigt werden) eine weitere Bevorzugung der ihre Liegenschaften selbstbewohnenden Eigentümer beabsichtigt war (abgesehen von dem auf den 1. Januar 2011 in Kraft getretenen Abs. 1bis des Art. 11 ELG; AS 2009 6847). Die für die steuerrechtlichen Abzüge massgeblichen Intentionen (namentlich die in Art. 108 BV verankerte Förderung des Wohneigentums oder der Grundsatz der Besteuerung nach der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit gemäss Art. 127 Abs. 2 BV) können im EL-Recht, welches mit der Deckung des Existenzbedarfs gänzlich andere Ziele verfolgt, nicht massgeblich sein (E. 4.3 hievor). Mit Blick auf die anzustrebende Gleichsetzung von Mietwert (als Vermögensertrag) und zum Abzug zugelassenem Mietzins (E. 4.1.2 hievor) besteht ebenso kein Grund, den steuerrechtlich gekürzten Mietwert selbstbewohnter Liegenschaften als anrechenbares Einkommen zu berücksichtigen. Dass die ihre Wohnung selbstbewohnende Person über den ihr angerechneten Eigenmietwert nicht tatsächlich als in Geldform zufliessendes Einkommen verfügen kann, trifft zwar zu, vermag aber eine Privilegierung der ihre Liegenschaft selbstbewohnenden Personen im Vergleich mit sog. Drittvermietern nicht zu rechtfertigen. |
4.5 Auch unter dem Aspekt der Gleichbehandlung von EL-Bezügern in den verschiedenen Kantonen besteht kein Grund, auf die steuerrechtlichen Regeln zur prozentualen Anrechnung des Eigenmietwertes abzustellen. Insbesondere wird dadurch entgegen den vorinstanzlichen Erwägungen keine einheitliche Rechtsanwendung (in der Deutschschweiz) bewirkt. Abgesehen davon, dass die prozentuale Berücksichtigung des Mietwertes selbstbewohnter Liegenschaften teilweise erheblich differiert (vgl. hiezu die in E. 4.3 hievor zitierte Steuerinformation der SSK zur Besteuerung der Eigenmietwerte), ist die kantonale Rechtsprechung uneinheitlich. So entschied beispielsweise das Verwaltungsgericht des Kantons Thurgau (Urteil vom 11. August 2010 E. 2.3.2, in: Thurgauische Verwaltungsrechtspflege [TVR] 2010 Nr. 22 http://vgbuch.tg.ch), die dem steuerrechtlichen Abzug (von 30 %) zu Grunde liegende Zielsetzung (Förderung der Eigentumsbildung, Selbstvorsorge) entspreche klar nicht der Zielsetzung des ELG, bereits aus Gründen der Gleichbehandlung sei EL-rechtlich der Bruttoeigenmietwert massgebend. |
4.7 Der Verweis in Art. 12 Abs. 1 ELV umfasst nach dem Gesagten nur Art. 22 Abs. 2 StG/GR als Grundsatz der Bestimmung des Mietwertes, nicht aber die allfälligen zusätzlichen Abzüge. Weder die steuerrechtliche Privilegierung gemäss Art. 22 Abs. 3 StG/GR (sog. Eigenmietwert; vgl. E. 2.2) noch die Härtefallregelung in Abs. 4 können im Bereich der Ergänzungsleistungen Anwendung finden. Damit ist auf der Einkommensseite der unbestritten Fr. 29'160.- betragende Mietwert als Einkommen anzurechnen. Weiterungen zum anrechenbaren Einkommen erübrigen sich. Die Beschwerde der Ausgleichskasse ist gutzuheissen, diejenige des EL-Ansprechers wird abgewiesen.
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