BGE 138 V 147 |
19. Auszug aus dem Urteil der I. sozialrechtlichen Abteilung i.S. H. gegen Allianz Suisse Versicherungs-Gesellschaft AG (Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten) |
8C_727/2011 vom 1. März 2012 |
Regeste |
Art. 18 Abs. 1 UVG; Art. 50 Abs. 1 und Art. 53 Abs. 2 ATSG. |
Sachverhalt |
A.a Die 1958 geborene H. war bis 30. September 1995 als stellvertretende Abteilungsleiterin in der Firma Q. angestellt und in dieser Eigenschaft bei der Elvia Schweizerische Versicherungs-Gesellschaft (nachfolgend: Elvia; heute: Allianz Suisse Versicherungs-Gesellschaft AG; nachfolgend: Allianz) gegen die Folgen von Unfällen und Berufskrankheiten versichert. Am 27. Dezember 1994 war sie mit der S-Bahn auf dem Weg zur Arbeit, als der Zug auf einen Prellbock auffuhr und entgleiste. H. erlitt dabei einen Schock und verspürte starken Schwindel, Schmerzen im Hinterkopf bis in den Hals ausstrahlend sowie Sehstörungen. In der Folge traten Einschlafparästhesien in den Händen, Armen und Beinen, Schluckbeschwerden und eine erhebliche Lichtempfindlichkeit auf. Innert der folgenden zwei bis drei Wochen stellten sich sodann Angstträume, intensive Kopfschmerzen, eine allgemeine Müdigkeit und ein beidseitiger Tinnitus ein. Die Elvia erbrachte die gesetzlichen Leistungen. Im März und April 1996 fand im Auftrag der Elvia eine Begutachtung durch die Medizinische Abklärungsstelle (MEDAS) am Spital X. statt. Im Gutachten vom 28. Oktober 1996 kamen die Ärzte zum Schluss, dass insbesondere aufgrund der neuropsychologischen Befunde eine Verminderung der Arbeitsfähigkeit von 40 % vorliege; jedoch konnten keine organisch nachweisbaren pathologischen Befunde erhoben werden. Mit Verfügung vom 19. Mai 1998 teilte die Elvia der Versicherten mit, dass aufgrund eines - tags zuvor telefonisch abgeschlossenen - Vergleichs eine Rente aufgrund eines Invaliditätsgrades von 80 % ausgerichtet werde. Ebenfalls vergleichsweise wurde eine Integritätsentschädigung auf der Grundlage eines Integritätsschadens von 50 % festgesetzt und zugesprochen. |
Zwischenzeitlich hatte die IV-Stelle des Kantons Zürich H. mit Verfügung vom 26. November 1997 für die Zeit von Oktober 1995 bis März 1996 eine ganze und ab 1. April 1996 eine halbe Rente der Schweizerischen Invalidenversicherung (IV) zugesprochen. Die von H. dagegen erhobene Beschwerde wies das Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich mit Entscheid vom 17. Januar 2000 ab. |
A.b Die IV ordnete am 3. August 2009 eine polydisziplinäre medizinische Begutachtung bei der MEDAS an. Im am 27. Mai 2010 erstatteten Gutachten kamen die Experten zum Schluss, dass die Versicherte an einer Somatisierungsstörung (ICD-10: F45.0) sowie an einem chronischen cervicovertebralen Schmerzsyndrom mit/bei Status nach HWS-Trauma im Jahr 1994 (ICD-10: M54.1) leide und eine angepasste Tätigkeit etwa während fünfeinhalb Stunden täglich zumutbar sei. Bei der Versicherten habe nie eine Arbeitsunfähigkeit von mehr als 30 % vorgelegen.
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Die Allianz gelangte mit Verfügung vom 8. Oktober 2010 zum Ergebnis, dass ein Revisionsgrund und überdies auch ein Wiedererwägungsgrund vorlägen und die UVG-Leistungen per 1. September 2010 einzustellen seien. Daran hielt sie auf Einsprache der Versicherten hin mit Entscheid vom 6. Dezember 2010 fest.
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B. Mit Entscheid vom 18. August 2011 wies das Versicherungsgericht des Kantons Aargau die von H. hiegegen eingereichte Beschwerde ab.
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C. Mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten lässt H. beantragen, unter Aufhebung des vorinstanzlichen Entscheids sei die Allianz zu verpflichten, ihr "die per 1. September 2010 eingestellten UVG-Leistungen (80%-Invalidenrente) weiter auszurichten". Eventuell sei die Sache an die Vorinstanz zurückzuweisen und diese anzuhalten, ein interdisziplinäres Gutachten einzuholen.
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Die Allianz schliesst auf Abweisung der Beschwerde. Das Bundesamt für Gesundheit verzichtet auf eine Vernehmlassung.
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Am 28. November 2011 lässt H. eine zusätzliche Stellungnahme einreichen.
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Das Bundesgericht heisst die Beschwerde teilweise gut.
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Aus den Erwägungen: |
Erwägung 2 |
2.1 Gemäss einem allgemeinen Grundsatz des Sozialversicherungsrechts kann die Verwaltung auf formell rechtskräftige Verfügungen oder Einspracheentscheide, die nicht Gegenstand materieller richterlicher Beurteilung gebildet haben, zurückkommen, wenn sie zweifellos unrichtig sind und wenn ihre Berichtigung von erheblicher Bedeutung ist (Art. 53 Abs. 2 ATSG [SR 830.1]; BGE 133 V 50 E. 4.1 S. 52). Bei der Prüfung der Voraussetzungen einer Wiedererwägung ist die Rechtslage im Zeitpunkt des Verfügungserlasses massgeblich unter Berücksichtigung der damals bestandenen Rechtspraxis (vgl. BGE 125 V 383 E. 3 S. 389; BGE 119 V 475 E. 1b/cc S. 479; SVR 2009 UV Nr. 6 S. 21, U 5/07 E. 5.3.1). |
Die Befugnis zum Abschluss eines Vergleichs ermächtigt die Behörde nicht, bewusst eine gesetzwidrige Vereinbarung zu schliessen, also von einer von ihr als richtig erkannten Gesetzesanwendung im Sinne eines Kompromisses abzuweichen. Ist der Vergleich im Gesetzesrecht zugelassen, so wird aber damit den Parteien bei ungewisser Sach- oder Rechtslage die Befugnis eingeräumt, ein Rechtsverhältnis vertraglich zu ordnen, um die bestehende Rechtsunsicherheit zu beseitigen. Dabei und damit wird in Kauf genommen, dass der Vergleichsinhalt von der Regelung des Rechtsverhältnisses abweicht, zu der es bei umfassender Klärung des Sachverhalts und der Rechtslage allenfalls gekommen wäre. Ein Vergleich ist somit zulässig, soweit der Verwaltung ein Ermessensspielraumzukommtsowie zur Beseitigung rechtlicher und/oder tatsächlicher Unklarheiten (AUGUST MÄCHLER, Vertrag und Verwaltungsrechtspflege, 2005, § 12 Rz. 54; HÄFELIN/MÜLLER/UHLMANN, Allgemeines Verwaltungsrecht, 6. Aufl. 2010, Rz. 1078 und 1083; FRANK KLEIN, Die Rechtsfolgen des fehlerhaften verwaltungsrechtlichen Vertrags, 2003, S. 76 f. und 107). Soweit aus dem erwähnten Urteil U 378/05 E. 4.3 wegen des dortigen Hinweises auf eine andere Lehrmeinung (ULRICH CAVELTI, Gütliche Verständigung vor Instanzen der Verwaltungsrechtspflege, AJP 1995 S. 175 ff., 176 f.) - ein Vergleich ist nach dieser Auffassung nur in den Fällen möglich, bei denen es um die Beseitigung einer Ungewissheit im Sachverhalt geht, nicht aber bei Unklarheit im Rechtlichen- etwas anderes abgeleitet werden könnte, ist dies zu präzisieren. |
Der Mechanismus der Interessenabwägung ist somit bei der Wiedererwägung eines Vergleichs bzw. einer Verfügung der gleiche; Unterschiede ergeben sich jedoch bei der Gewichtung, namentlich des Schutzes des berechtigten Vertrauens in den Bestand, der tendenzmässig beim Vergleich stärker als bei der Verfügung ausfällt (vgl. MÄCHLER, a.a.O., § 11 Rz. 110 ff. und 115 sowie § 12 Rz. 57).
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Erwägung 3 |
Die Anwendung der Psycho-Praxis auch bei Schleudertraumafällen, in welchen die zum typischen Beschwerdebild eines Schleudertraumas gehörenden Beeinträchtigungen zwar teilweise gegeben sind, im Vergleich zur ausgeprägten psychischen Problematik aber ganz in den Hintergrund treten, war im Vergleichszeitpunkt bereits bekannt (BGE 123 V 98; RKUV 1995 S. 115, U 101/94, und S. 117, U 185/94). Gemäss dem psychiatrischen Teilgutachten im Rahmen der MEDAS-Begutachtung im Jahr 1996 bestand zwar eine Mitbeteiligung psychischer Faktoren im Schmerzgeschehen, jedoch keine psychische Erkrankung. Zwar trifft zu, wie das kantonale Gericht festhält, dass im Bericht des Dr. med. F., Facharzt FMH für Psychiatrie und Psychotherapie, vom 30. Januar 1997 auf eine Störung mit Krankheitswert geschlossen wurde, nämlich eine deutliche Depression und Hinweise auf Angstphänomene. Gleichzeitig hielt Dr. med. F. aber fest, es lasse sich einerseits das typische Syndrom feststellen, wie es nach Halswirbelsäulenverletzungen und nachfolgend protrahiertem Verlauf immer wieder gesehen werde, und andererseits sei der Unfall selber noch nicht verarbeitet und provoziere die genannten psychischen Symptome. Aufgrund dieser Angaben musste nicht ohne weiteres von einer psychischen Überlagerung beziehungsweise Verselbstständigung ausgegangen werden. Eine Adäquanzbeurteilung aufgrund der Kriterien von BGE 117 V 359 war daher zulässig. |
3.3.1 Gemäss MEDAS-Gutachten vom 28. Oktober 1996 lag insbesondere aufgrund der neuropsychologischen Befunde eine Verminderung der Arbeitsfähigkeit von 40 % vor. In der Folge stellte sich die Beschwerdeführerin auf den Standpunkt, die Arbeitsfähigkeit sei ungenügend abgeklärt; die 40 % bezögen sich isoliert nur auf den neuropsychologischen Teilaspekt. Vielmehr bestehe eine 100%ige Arbeitsunfähigkeit (Eingabe vom 27. Januar 1997). Mit Schreiben vom 5. Juni 1997 stellte die Elvia fest, eine 60%ige Arbeitsfähigkeit habe sich nicht realisieren lassen, und rechnete das Taggeld auf der Grundlage einer 50%igen Arbeitsunfähigkeit ab. Im Vorfeld des Vergleichsabschlusses im März 1998 wies die Beschwerdeführerin darauf hin, dass sie nach wie vor von zwei Ärzten zu 100 % arbeitsunfähig geschrieben sei. Es habe eine weitere Begutachtung zu erfolgen, zumal seit der Erstellung des MEDAS-Gutachtens doch schon einige Zeit vergangen sei. Schliesslich sei beim Einkommensvergleich ein leidensbedingter Abzug zu gewähren. Sollte sich der Fall weiter hinziehen und weiter Taggeld bezahlt werden - über einen Zeitraum von fünf Jahren hinaus -, wäre sodann nicht auszuschliessen, dass dereinst von einem höheren versicherten Verdienst als Grundlage auszugehen wäre; insbesondere im Verkauf sei die Lohndifferenz zwischen stellvertretender Rayonleiterin (frühere Tätigkeit) und beispielsweise Filialleiterin doch beträchtlich (Eingabe vom 12. März 1998). |
Ob der Beschwerdeführerin, wie sie nunmehr geltend macht, eine Beförderung bevorstand und dies eine Erhöhung des Valideneinkommens gerechtfertigt hätte (vgl. hiezu folgende, bereits im Vergleichszeitpunkt bekannt gewesenen Entscheide: BGE 96 V 29; RKUV 1993 S. 97, U 110/92 E. 3b), kann offenbleiben. Denn jedenfalls konnte die Elvia nicht ausschliessen, dass in einem allfälligen Rechtsmittelverfahren eine erneute Begutachtung stattgefunden und einen höheren Arbeitsunfähigkeitsgrad ergeben hätte sowie dass überdies ein leidensbedingter Abzug zugestanden worden wäre. Unter Berücksichtigung des mit dem Vergleich sodann vermiedenen weiteren Aufwands kann daher die Anerkennung eines Invaliditätsgrades von 80 % aufgrund der damals bestehenden Unsicherheiten als zulässig erachtet werden.
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Nicht stichhaltig ist sodann der Einwand der Beschwerdegegnerin, die IV habe lediglich einen Invaliditätsgrad von 50 % ermittelt, was der Elvia bekannt gewesen sei und woraus sich ergebe, dass ein Invaliditätsgrad von 80 % offensichtlich falsch gewesen sei. Der Elvia war nämlich ebenso bekannt, dass gegen die Invaliditätsbemessung der IV Beschwerde eingereicht worden war, und sie rechnete sogar damit, dass es im Verfahren vor dem Sozialversicherungsgericht zur Zusprechung einer ganzen IV-Rente kommen werde (Aktennotiz Elvia vom 18. Mai 1998). |