BGE 138 V 522 |
61. Auszug aus dem Urteil der I. sozialrechtlichen Abteilung i.S. Metzger-Versicherungen Genossenschaft gegen O. (Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten) |
8C_274/2012 vom 4. Dezember 2012 |
Regeste |
Art. 39 UVG; Art. 50 UVV: Wagnis; Leistungskürzung. |
Sachverhalt |
A. Der 1989 geborene O. war seit 1. Oktober 2008 als Metzger bei der R. AG tätig gewesen und dadurch bei der Metzger-Versicherungen Genossenschaft (nachfolgend: Unfallversicherer) obligatorisch unfallversichert. Am Abend des 29. August 2009 liess sich O., rittlings auf einem Baumast in rund vier Metern Höhe sitzend, kopfüber in den an dieser Stelle ca. 80 cm tiefen Rhein fallen und schlug mit dem Kopf auf dem Grund des Flusses auf. Er erlitt eine Halswirbelfraktur mit anschliessender Tetraplegie. Mit Verfügung vom 17. März 2010 und Einspracheentscheid vom 21. September 2010 hielt der Unfallversicherer fest, er werde die Geldleistungen um 50 % kürzen, da der Unfall auf ein Wagnis zurückgehe. |
B. O. erhob gegen den Einspracheentscheid vom 21. September 2010 Beschwerde beim Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich und beantragte die Zusprechung der vollen gesetzlichen Leistungen der Unfallversicherung. Das Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich hiess die Beschwerde in dem Sinne teilweise gut, dass es den Einspracheentscheid mit der Feststellung, eine Leistungskürzung unter dem Titel Wagnis sei nicht zulässig, aufhob und die Sache an den Unfallversicherer zurückwies, damit dieser über den Umfang einer Leistungskürzung im Sinne von Art. 37 Abs. 2 UVG (SR 832.20) verfüge (Entscheid vom 24. Februar 2012).
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Das von O. zudem gestellte Gesuch um Bewilligung der unentgeltlichen Rechtsvertretung wurde mit einzelrichterlicher Verfügung vom 11. März 2011 mangels Bedürftigkeit abgewiesen. Die gegen diese Verfügung eingereichte Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten wies das Bundesgericht mit Urteil 8C_309/2011 vom 31. Mai 2011 ab.
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C. Der Unfallversicherer führt gegen den vorinstanzlichen Entscheid vom 24. Februar 2012 Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten mit dem Rechtsbegehren, in Aufhebung des kantonalen Entscheids sei die Rechtmässigkeit der vorgenommenen 50%igen Leistungskürzung zu bestätigen. |
O. lässt Abweisung der Beschwerde beantragen. Das Sozialversicherungsgericht und das Bundesamt für Gesundheit verzichten auf eine Vernehmlassung.
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D. Das Bundesgericht hat am 4. Dezember 2012 eine publikumsöffentliche Beratung durchgeführt.
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Es heisst die Beschwerde gut.
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Aus den Erwägungen: |
Erwägung 3 |
Lehre und Rechtsprechung unterscheiden zwischen absoluten und relativen Wagnissen. Ein absolutes Wagnis liegt vor, wenn eine gefährliche Handlung nicht schützenswert ist oder wenn die Handlung mit so grossen Gefahren für Leib und Leben verbunden ist, dass sich diese auch unter günstigsten Umständen nicht auf ein vernünftiges Mass reduzieren lassen. Ein relatives Wagnis ist gegeben, wenn es die versicherte Person unterlassen hat, die objektiv vorhandenen Risiken und Gefahren auf ein vertretbares Mass herabzusetzen, obwohl dies möglich gewesen wäre (BGE 97 V 72 ff.; Urteil des Eidg. Versicherungsgerichts U 122/06 vom 19. September 2006 E. 2.1, in: SVR 2007 UV Nr. 4 S. 10; ALEXANDRA RUMO-JUNGO, Die Leistungskürzung oder -verweigerung gemäss Art. 37-39 UVG, 1993, S. 291 ff.;ALFRED MAURER, Schweizerisches Unfallversicherungsrecht, 2. Aufl. 1989, S. 508 f.; URS CH. NEF, Das Wagnis in der sozialen Unfallversicherung, SZS 1985 S. 103 ff., 104 f.). |
Erwägung 4 |
Der Versicherte wendet dabei, obwohl er Alkohol und Drogen konsumiert hatte, zu keinem Zeitpunkt ein, es liege kein zu einer Leistungskürzung berechtigendes Wagnis vor, weil er zum massgebenden Zeitpunkt vollständig urteilsunfähig gewesen sei (BGE 98 V 144 E. 4a S. 149). Weiterungen hiezu erübrigen sich daher. |
Erwägung 5.1 |
Erwägung 5.2 |
5.2.2 Die Fahrlässigkeit besteht aus einer objektiven und subjektiven, nach ihrer Schwere graduell abzustufenden Verschuldenskomponente, wobei sich der Grad der Fahrlässigkeit primär nach dem Grad des subjektiven Verschuldens beurteilt. Das Verhalten muss, um - durch Verletzung elementarster Vorsichtsgebote - Rechtsnachteile zu gewärtigen, Unverständnis, Kopfschütteln und Tadel auslösen, eine moralische Verurteilung nach sich ziehen und die Grenze des Tolerierbaren überschreiten (Urteil des Eidg. Versicherungsgerichts U 195/01 vom 6. Mai 2002 E. 1, in: SVR 2003 UV Nr. 3 S. 7). |
Erwägung 6 |
Erwägung 6.2 |
6.3 Nach dem Wortlaut des Verordnungstextes muss sich die versicherte Person mit der vorgenommenen Handlung einer grossen Gefahr aussetzen (franz. Fassung: "l'assuré s'expose à un danger particulièrement grave"; ital. Fassung: "l'assicurato si espone a un pericolo particolarmente grave"). Es steht ausser Frage, dass man sich wissentlich oder unwissentlich in Gefahr begeben oder bringen kann. Das "Sich-einer-Gefahr-Aussetzen" beinhaltet begrifflich nicht das bewusste und willentliche Eingehen einer bestehenden Gefahr. Der Wortlaut von Art. 50 Abs. 2 UVV lässt nicht darauf schliessen, dass Wissen um die tatsächlich und konkret bestehende Situation (in casu in dem Sinne, dass der Versicherte um die tatsächlich ungenügende Flusstiefe weiss), die mit der Handlung verbunden ist, vorliegen muss, um unter die Bestimmung zu fallen. |
Erwägung 6.5 |
6.5.1 Nichts anderes ergibt sich aus systematischer und teleologischer (zweckbezogener) Sicht: Art. 50 Abs. 2 UVV negiert das Wagnis, wenn Vorkehrungen getroffen wurden oder hätten getroffen werden können, die das Risiko auf ein vernünftiges Mass reduzieren. Massgeblich ist erstens, ob die Risiken einer bestimmten Handlung durch Vorkehren auf ein vernünftiges Mass beschränkt werden können und zweitens, ob die versicherte Person es unterlassen hat, die objektiv vorhandenen Risiken und Gefahren auf ein vertretbares Mass herabzusetzen, obwohl dies möglich gewesen wäre, was sich anhand der konkreten Umstände des Einzelfalles, wie etwa die persönlichen Fähigkeiten der Beteiligten und die Art der Durchführung des Unternehmens, beurteilt (Urteile U 122/06 vom 19. September 2006, in: SVR 2007 UV Nr. 4 S. 10; 8C_504/2007 vom 16. Juni 2008 E. 6.1). Mit Blick auf den Begriff des Wagnisses kommt es sodann nicht darauf an, ob sich die versicherte Person der Gefährlichkeit ihrer Handlung wirklich bewusst war oder ob sie über ihr Tun nachgedacht hat, sonst würden Handlungen aus Leichtsinn oder Übermut oder aus dem Affekt (vgl. MAURER, a.a.O., S. 510) den Wagnisbegriff nicht erfüllen. Auch wenn sich das Bundesgericht oftmals in Zusammenhang mit organisiertem, planmässigen Vorgehen (so bei risikoreichen, gefährlichen Sportarten) mit dem Wagnisbegriff auseinanderzusetzen hat, schliesst der Wagnisbegriff ein unplanmässiges, unüberlegtes oder gar unsinniges Handeln gerade nicht aus (Zerdrücken eines Glases in der Hand aus Jux oder aus Wut [als absolutes Wagnis], Klettern über Balkonbrüstung; vgl. Urteil des Bundesgerichts U 612/06 vom 5. Oktober 2007 E. 4.1.1, in: Plädoyer 2008 1 S. 69). In Berücksichtigung des mit der altrechtlichen Regelung identischen Wagnisbegriffs (E. 6.2.2 hiervor) ist, um eine Handlung als Wagnis zu qualifizieren, zu verlangen, dass die besonders grosse Gefährlichkeit, die der Handlung inhärent ist, bekannt ist oder hätte bekannt sein müssen und es unterlassen wurde, sofern möglich, diese auf ein annehmbares Risiko zu reduzieren. Das subjektive Element des Wissens kann sich nur auf die Gefahrensituation als solche beziehen. |
6.5.2 Einer ähnlichen Argumentation bediente sich das Eidg. Versicherungsgericht (seit 1. Januar 2007: I. und II. sozialrechtliche Abteilung des Bundesgerichts) bei zwei nach altem Recht (E. 6.2) ergangenen Urteilen: Im Urteil EVGE 1945 S. 96 hatte es sich mit einem Sturz von einer Bahnüberführung zu befassen, nachdem der Versicherte in völliger Dunkelheit das 1,8 Meter hohe Brückengeländer überstiegen hatte, ohne die Bahnüberführung als solche erkannt zu haben und acht bis zehn Meter tief auf die Bahnstrecke fiel. Eine Selbsttötungsabsicht verneinte es, da davon auszugehen sei, dass er die Brücke als solche nicht erkannt hatte. Weiter erwog das Eidgenössische Versicherungsgericht, dass sich der Versicherte, nachdem er an eine Abschrankung geraten sei, welche die typische Konstruktion mancher Bahnüberführungen aufgewiesen habe (Sicherheitsnetz im oberen Teil), bei der erforderlichen Aufmerksamkeit hätte sagen müssen, dass er sich auf einer Brücke befinden könnte. Da er im Ungewissen gewesen sei, was er auf der anderen Seite der Abschrankung antreffen werde, wäre doppelte Vorsicht am Platz gewesen, bevor er sich entschlossen habe, hinüberzusteigen. Weil er aber "nicht durchaus wissen musste, dass er sich einer grossen Gefahr aussetzte" wurde auf hochgradige, an Wagnis grenzende Fahrlässigkeit erkannt. Im Urteil U 15/77 vom 2. Mai 1978 hatte das Eidg. Versicherungsgericht zudem zu beurteilen, ob, wer in der Dunkelheit mit schlechtem Schuhwerk ein Terrassengeländer überspringt, dessen Höhe ihm ebenso unbekannt ist wie die Beschaffenheit des Bodens darunter, um der Konfrontation mit dem Ehemann seiner Geliebten zu entgehen, ein Wagnis eingeht. Dies hat es bejaht: Das Risiko verletzt zu werden, wäre bei einer Auseinandersetzung mit dem eifersüchtigen Ehemann jedenfalls weniger gross gewesen, als dasjenige, das er auf sich genommen habe, als er ins Leere gesprungen sei, zumal der Ehemann unbewaffnet gewesen sei. Selbst wenn man voraussetze, der Versicherte habe angenommen, durch die Reaktion des Ehemanns starke Verletzungen zu gewärtigen, hätte er sich bewusst sein müssen, dass der Sprung übers Geländer ins Dunkle für ihn einen noch schlimmeren Ausgang hätte nehmen können. Er habe sich waghalsig einer Gefahr ausgesetzt. |
Erwägung 7 |
7.2 Hier steht das gewagte, riskante Vorhaben des Versicherten im Vordergrund, welches so grosse Gefahren in sich barg, dass sich mit Blick auf den dargelegten Sinn und Zweck des Art. 39 UVG in Verbindung mit Art. 50 UVV nicht rechtfertigt, die Versichertengemeinschaft die gesamten finanziellen Folgen des Nichtberufsunfalls tragen zu lassen. Bei dem hohen Risiko, das der Versicherte beim kopfüber Eintauchen aus vier Metern Höhe in ein fliessendes Gewässer mit unbekannter Tiefe eingegangen war, kann nicht bloss von einer groben Fahrlässigkeit bei einer an sich ungefährlichen Handlung die Rede sein (vgl. RUMO-JUNGO, a.a.O., S. 313; vgl. E. 5.2 und 5.3). Ob dies Verletzungen nach sich zieht, hängt allein vom Zufall ab, nämlich davon, ob man eine genügend tiefe Stelle trifft oder nicht. Ist die Stelle seicht, was hier der Fall war, führt der Aufprall des Kopfes auf den Flussgrund zwingend zu schweren Verletzungen. Indem sich der Beschwerdegegner - ohne dass die konkrete Stelle des Flusses, insbesondere hinsichtlich Tiefe und Beschaffenheit des Grundes abgeklärt und bekannt war - fallen liess, handelte er vielmehr leichtsinnig und riskant, ja waghalsig. Bei einem Kopfsprung aus vier Metern Höhe in unbekannt tiefes Wasser kann die Gefahr nicht auf ein vernünftiges Mass reduziert werden. Das Vorgehen ist daher als absolutes Wagnis zu qualifizieren. Bei einem gewollten Fall aus vier Metern Höhe kopfüber in den Rhein wäre es unabdingbar gewesen, sich der genügenden Flusstiefe vorher zu vergewissern. Der Beschwerdegegner hat jedoch keinerlei Überlegungen zur Gefahrensituation angestellt. Er hätte nicht ohne weitere Vorkehrungen bei einem fliessenden Gewässer annehmen dürfen, das Wasser sei genügend tief. Es ist allgemein bekannt, dass der Wasserstand eines Flusses je nach Jahreszeit, Wetterlage in den Vortagen, Beschaffenheit des Grundes etc., stark variieren kann, was eine gleichbleibende Wassertiefe ausschliesst. Es ist ebenso allgemein bekannt, dass ein Kopfsprung in trübes oder unbekanntes (und daher allenfalls zu seichtes) Wasser grosse Gefahren mit sich bringt. So hält die Baderegel Nr. 4 der Schweizerischen Lebensrettungsgesellschaft SLRG fest: "Nicht in trübe oder unbekannte Gewässer springen! - Unbekanntes kann Gefahren bergen." In BGE 125 V 312 E. 2b hatte das Eidg. Versicherungsgericht zu beurteilen, ob das Canyoning ein Wagnis darstellt oder nicht und hielt in diesem Zusammenhang fest, dass es zu den elementaren Grundregeln gehört, auf Sprünge ins unbekannte Wasser zu verzichten. Dieses Wissen muss sich der Versicherte entgegenhalten lassen. Damit ist auch sein Einwand nicht stichhaltig, es handle sich um eine übliche Badestelle der Dorfjugend. Dass Badende einen Kopfsprung von gleicher Stelle an anderen Tagen schadlos überstanden haben, schliesst den Wagnischarakter nicht aus, da nicht von einer über Jahre gleichbleibenden Situation ausgegangen werden darf. Die einfache Prüfung der Wassertiefe hat er ohne nachvollziehbaren Grund - trotz des Wissens um die Gefährlichkeit eines Kopfsprungs in unbekannt tiefes Gewässer - nicht vorgenommen und ist somit ein Wagnis eingegangen, welches den Unfallversicherer zur Leistungskürzung berechtigt. |
7.3 Anzufügen bleibt, dass ein und dieselbe Handlung gleichzeitig ein Wagnis und ein schuldhaftes Verhalten darstellen kann. Die Begriffe des Wagnisses und der Grobfahrlässigkeit schliessen sich nicht aus. Es braucht jedoch nicht geprüft zu werden, ob der vorliegenden Handlung auch ein schuldhaftes Verhalten (vgl. E. 5.2.2) zugrunde liegt, da die Leistungskürzung wegen eines Wagnisses (Art. 39 UVG) derjenigen wegen Grobfahrlässigkeit (Art. 37 Abs. 2 UVG) vorgeht (BGE 134 V 340 E. 3.2.4; Urteil 8C_504/2007 vom 16. Juni 2008 E. 7.1).
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