BGE 139 V 82 |
12. Auszug aus dem Urteil der II. sozialrechtlichen Abteilung i.S. K. gegen CONCORDIA Schweizerische Kranken- und Unfallversicherung AG (Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten) |
9C_354/2012 vom 6. Februar 2013 |
Regeste |
Art. 26 Abs. 2 ATSG; Anspruch des Leistungserbringers auf Verzugszins. |
Sachverhalt |
A. Nachdem mit Urteil 9C_702/2010 vom 21. Dezember 2010 ein Anspruch ihres Ehemannes auf täglich 2,82 Stunden Pflege ab 9. Februar 2005 im Rahmen der obligatorischen Krankenpflegeversicherung feststand, bezahlte die CONCORDIA Schweizerische Kranken- und Unfallversicherung AG (nachfolgend: Concordia) K. als Erbringerin der entsprechenden Leistungen im Februar 2011 den Betrag von Fr. 351'638.-. Die Concordia weigerte sich indessen, auf diese Entschädigung den verlangten Verzugszins von 5 % seit 9. Februar 2005 zu entrichten. |
B. K. liess Klage beim Kantonalen Schiedsgericht für Streitigkeiten gemäss Art. 89 KVG des Kantons Glarus erheben mit dem Antrag, die Concordia sei zu verpflichten, folgende Verzugszinsen zu bezahlen: 5 % für den Betrag von Fr. 175'819.- vom 9. Februar 2005 bis 31. Dezember 2010 und 5 % für den Betrag von Fr. 351'638.- vom 1. Januar bis 20. Februar 2011. Das Schiedsgericht wies die Klage mit Entscheid vom 5. April 2012 ab. |
C. K. lässt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten führen und beantragen, der Entscheid vom 5. April 2012 sei aufzuheben und im Sinne der Erwägungen an das Schiedsgericht zurückzuweisen.
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Die Concordia und das Schiedsgericht schliessen auf Abweisung der Beschwerde. Das Bundesamt für Gesundheit verzichtet auf eine Vernehmlassung.
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Das Bundesgericht weist die Beschwerde ab.
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Aus den Erwägungen: |
Erwägung 3 |
Erwägung 3.1 |
3.1.2 Die Auslegung eines verwaltungsrechtlichen Vertrags erfolgt grundsätzlich wie jene von privatrechtlichen Verträgen. Mangels eines übereinstimmenden tatsächlichen Willens (vgl. Art. 18 OR) müssen allfällige Unklarheiten und Lücken nach dem Vertrauensprinzip ausgelegt oder gefüllt werden. Im Zweifelsfalle ist dem öffentlichen Interesse Vorrang einzuräumen und der Vertrag gesetzeskonform auszulegen (BGE 135 V 237 E. 3.6 S. 241 f.; Urteil 2C_258/2011 vom 30. August 2012 E. 4.1; HÄFELIN/MÜLLER/UHLMANN, a.a.O., S. 250 Rz. 1103 f.). |
Erwägung 3.2 |
Gemäss Art. 1 Abs. 1 KVG in Verbindung mit Art. 2 ATSG sind die Bestimmungen des ATSG auf die Krankenversicherung anwendbar, soweit das KVG nicht ausdrücklich eine Abweichung davon vorsieht. Sie finden nach Art. 1 Abs. 2 KVG keine Anwendung in folgenden Bereichen: (a) Zulassung und Ausschluss von Leistungserbringern (Art. 35-40 und 59); (b) Tarife, Preise und Globalbudget (Art. 43-55); (c) Ausrichtung der Prämienverbilligung nach den Artikeln 65, 65a und 66a sowie Beiträge des Bundes an die Kantone nach Artikel 66; (d) Streitigkeiten der Versicherer unter sich (Art. 87); (e) Verfahren vor dem kantonalen Schiedsgericht (Art. 89).
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3.2.2 Die Auslegung des Gesetzes ist auf die Regelungsabsicht des Gesetzgebers und die von ihm erkennbar getroffenen Wertentscheidungen auszurichten. Ausgangspunkt der Auslegung einer Norm bildet ihr Wortlaut. Vom daraus abgeleiteten Sinne ist jedoch abzuweichen, wenn triftige Gründe dafür bestehen, dass der Gesetzgeber diesen nicht gewollt haben kann (vgl. BGE 136 V 84 E. 4.3.2.1 S. 92). Solche Gründe können sich insbesondere aus der Entstehungsgeschichte der Norm, aus ihrem Zweck oder aus dem Zusammenhang mit anderen Vorschriften ergeben (BGE 135 IV 113 E. 2.4.2 S. 116; BGE 135 V 382 E. 11.4.1 S. 404). Insoweit wird vom historischen, teleologischen und systematischen Auslegungselement gesprochen. Bei der Auslegung einer Norm sind daher neben dem Wortlaut diese herkömmlichen Auslegungselemente zu berücksichtigen (BGE 135 V 319 E. 2.4 S. 321; BGE 134 III 273 E. 4 S. 277 mit Hinweisen). |
Das ATSG ist primär auf das Verhältnis Versicherte-Versicherer zugeschnitten, und mit Art. 1 Abs. 2 KVG sollten diejenigen Bereiche vom Geltungsbereich des ATSG ausgenommen werden, für welche das ATSG-Verfahren nicht geeignet ist (Bericht der Kommission des Nationalrates für soziale Sicherheit und Gesundheit vom 26. März 1999 "Parlamentarische Initiative Sozialversicherungsrecht"; BBl 1999 4673 Ziff. 62; BGE 130 V 215 E. 5.2 S. 221). Dementsprechend entschied das Eidg. Versicherungsgericht, Art. 26 Abs. 2 ATSG habe das Versicherungsverhältnis zum Gegenstand, weshalb die Bestimmung auf den Fall der Forderung eines Leistungserbringers nicht anwendbar sei (Urteil K 4/06 vom 15. November 2006 E. 2.2). Dem pflichtet auch die Lehre bei (UELI KIESER, ATSG-Kommentar, 2. Aufl. 2009, N. 16, 26 und 29 zu Art. 2 ATSG; derselbe, Bundesgesetz über den allgemeinen Teil des Sozialversicherungsrechts [ATSG], in: Soziale Sicherheit, SBVR Bd. XIV, 2. Aufl. 2007, S. 242 Rz. 16; EUGSTER, ebenda, S. 619 Rz. 666; derselbe, Bundesgesetz über die Krankenversicherung [KVG], 2010, N. 94 zu Art. 25a KVG; derselbe, ATSG und Krankenversicherung: Streifzug durch Art. 1-55 ATSG, SZS 2003 S. 225).
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Gründe für eine von der Rechtsprechung abweichende (vgl. BGE 136 III 6 E. 3 S. 8; BGE 135 I 79 E. 3 S. 82; BGE 134 V 72 E. 3.3 S. 76) Auslegung von Art. 1 Abs. 2 KVG sind nicht ersichtlich. Einerseits ist es Sache der am Tarifvertrag beteiligten Parteien, bei den Vertragsverhandlungen die (allenfalls fehlende) Verzugszinspflicht und deren wirtschaftliche Folgen zu berücksichtigen. Anderseits trifft die Auffassung der Beschwerdeführerin, wonach die versicherte Person für die von der Leistungserbringerin geforderten Verzugszinsen aufzukommen habe, nicht zu: Bei einem Tarifvertrag mit der Vereinbarung des Systems des "Tiers payant" (Art. 42 Abs. 2 KVG) wirdeine pauschale Schuldübernahme (vgl. Art. 176 Abs. 1 OR) des Versicherers stipuliert (EUGSTER, in: SBVR, a.a.O., S. 732 Rz. 986). Dadurch wird die versicherte Person von vornherein von der Schuld gegenüber der Leistungserbringerin befreit und eine damit zusammenhängende Verzugszinspflicht kann sie nicht treffen. Schliesslich ist es Sinn und Zweck von Art. 26 Abs. 2-4 ATSG, die versicherte Person vor den Folgen einer dem Versicherer anzulastenden erheblichen Leistungsverzögerung zu schützen (Botschaft vom 22. Juni2005 zur Änderung des Bundesgesetzes über die Invalidenversicherung [5. Revision], BBl 2005 4543 f. Ziff. 1.6.3.4) und nicht, wie geltend gemacht wird, eine Bereicherung des Krankenversicherers zu vermeiden. |
Erwägung 3.3 |
Gegen eine solche Auffassung spricht, dass andernfalls die Bedeutung von Art. 26 ATSG im Wesentlichen nur noch darin bestände, gewisse Forderungen ausdrücklich von der allgemeinen Verzugszinspflicht auszunehmen oder diese abzuschwächen, während der Grundsatz selber lediglich implizite neu statuiert worden wäre. Eine Verzugszinspflicht, wie sie im übrigen öffentlichen Recht die Regel ist (vgl. IMBODEN/RHINOW/KRÄHENMANN, Schweizerische Verwaltungsrechtsprechung, Ergänzungsband zur 5. und unveränderten 6. Aufl., 1990, S. 92; HÄFELIN/MÜLLER/UHLMANN, a.a.O., S. 175 Rz. 755 f.), lässt sich daher im Lichte der kontextuell massgeblichen Gesetzeslage nicht begründen.
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3.3.2 Soweit die Beschwerdeführerin eine Bereicherung der Concordia moniert, kann sie nichts für sich ableiten: Zwar gilt auch im Sozialversicherungsrecht analog zu den privatrechtlichen Regeln über die ungerechtfertigte Bereicherung (Art. 62 ff. OR) als allgemeiner Rechtsgrundsatz, dass Zuwendungen, die aus einem nicht verwirklichten oder nachträglich weggefallenen Grund erfolgen, zurückzuerstatten sind (BGE 124 II 570 E. 4b S. 578 f. mit Hinweisen; vgl. auch Art. 25 ATSG). Daraus lässt sich indessen kein Anspruch auf Verzugszins herleiten. Ausserdem ist namentlich nicht ersichtlich und wird auch nicht dargelegt, in welchem Umfang die Beschwerdeführerin zu Unrecht eine Zuwendung geleistet haben resp. entreichert sein (vgl. HERMANN SCHULIN, in: Basler Kommentar, Obligationenrecht, Bd. I, 5. Aufl. 2011, N. 8 zu Art. 62 OR) soll. Darauf ist nicht weiter einzugehen. |
3.4 Was das Vorliegen besonderer Umstände (vgl. BGE 131 V 358 E. 1.2 S. 359; Urteil K 4/06 vom 15. November 2006 E. 4.1) anbelangt, so hat die Vorinstanz festgestellt, es sei nicht allein der Concordia anzulasten, dass zwischen dem Begehren des Versicherten und der Bezahlung der Pflegekosten knapp sechs Jahre vergangen seien; zudem sei der anerkannte Pflegeaufwand von täglich 0,38 Stunden stets entschädigt worden. Diese Feststellungen, wie auch der daraus gezogene Schluss, die Beschwerdegegnerin habe sich somit weder trölerisch noch rechtsmissbräuchlich verhalten, sind nicht offensichtlich unrichtig und beruhen auch nicht auf einer Rechtsverletzung. Sie bleiben daher für das Bundesgericht verbindlich (nicht publizierte E. 1). Insbesondere ist es nicht grundsätzlich rechtsmissbräuchlich, wenn der Krankenversicherer in Bezug auf den Umfang des täglichen Pflegebedarfs und der daraus folgenden Leistungspflicht eine andere Meinung vertritt als die versicherte Person. Dies trifft erst recht auf den konkreten Fall zu, wo zuvor streitig war, ob täglich über bereits abgegoltene Pflegeleistungen von 3,5 Stunden hinaus weitere 6,66 oder lediglich 0,38 Stunden zusätzlich zu übernehmen seien (vgl. Urteil 9C_702/2010 vom 21. Dezember 2010). Es sind keine weiteren Umstände aktenkundig, die als besonders stossend erscheinen und daher eine Verzugszinspflicht nach sich ziehen könnten. Die Beschwerde ist unbegründet.
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