BGE 141 V 206 |
24. Auszug aus dem Urteil der II. sozialrechtlichen Abteilung i.S. Klinik A. AG gegen Mutuel Krankenversicherung AG (Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten) |
9C_96/2014 vom 25. März 2015 |
Regeste |
Art. 41 Abs. 1bis, Art. 44 Abs. 1 und Art. 49 Abs. 5 KVG; ausserkantonale Wahlbehandlung. |
Sachverhalt |
A. B. war im Rahmen der obligatorischen Krankenpflegeversicherung (nachfolgend: OKP) bei der Mutuel Krankenversicherung AG (nachfolgend: Krankenkasse) versichert und wohnte im Kanton Zürich, als sie vom 19. Januar bis 31. März 2012 in der allgemeinen Abteilung der im Kanton Thurgau gelegenen Klinik A. stationär behandelt wurde. Hierfür stellte die Klinik A. AG (nachfolgend: Klinik) der "Groupe Mutuel" für jeden Aufenthaltstag die "Tagestaxe Allg." von Fr. 369.- (unter Abzug des darin enthaltenen Kantonsanteils von 51 %) und zusätzlich die Differenz dieser Taxe zur "Tagestaxe AllgCH" von Fr. 590.-, mithin Fr. 221.-, in Rechnung. Die Krankenkasse stellte sich auf den Standpunkt, für die erfolgte Behandlung dürfe über die "Tagestaxe Allg." von Fr. 369.- hinaus keine Rechnung gestellt werden. |
B. Am 18. Juli 2012 erhob die Krankenkasse Klage mit dem Rechtsbegehren, es sei festzustellen, dass die Klinik auch für ausserkantonale Patienten den für die innerkantonalen Patienten gültigen Tarif, d.h. eine Tagespauschale von Fr. 369.-, anzuwenden habe und dass sie - allenfalls mit Ausnahme von ausgewiesenen Zusatzkosten - keine weiteren Beträge in Rechnung stellen dürfe. Die Klinik liess beantragen, auf die Klage sei nicht einzutreten, eventualiter sei sie abzuweisen.
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Das Verwaltungsgericht des Kantons Thurgau hiess die Klage mit Entscheid vom 11. Dezember 2013 in dem Sinne gut, als es feststellte, dass die Klinik für den Aufenthalt der B. aus der obligatorischen Krankenpflegeversicherung eine Tagespauschale von Fr. 369.-, ansonsten aber keine weiteren finanziellen Ansprüche geltend machen könne. |
C. Die Klinik lässt mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten beantragen, der Entscheid vom 11. Dezember 2013 sei aufzuheben und auf die Klage der Krankenkasse sei nicht einzutreten, eventualiter sei die Klage abzuweisen, subeventualiter sei die Sache zur Neubeurteilung an das kantonale Gericht zurückzuweisen.
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Die Krankenkasse und das Bundesamt für Gesundheit (BAG) schliessen auf Abweisung der Beschwerde. Die Klinik lässt dazu mit einer weiteren Eingabe Stellung nehmen.
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Das Bundesgericht weist die Beschwerde ab.
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Aus den Erwägungen: |
Erwägung 1 |
Erwägung 1.3 |
1.3.1 Es steht fest, dass es sich bei der streitbetroffenen Leistung um einen medizinisch notwendigen Aufenthalt in einem Spital (vgl. Art. 39 Abs. 1 KVG) entsprechend dem Standard der allgemeinen Abteilung (Art. 25 Abs. 2 lit. e KVG) handelt. Sodann ist unbestritten, dass es sich um eine sogenannte "ausserkantonale Wahlbehandlung" im Sinne von Art. 41 Abs. 1bis KVG handelt, da die Klinik zwar auf der Spitalliste des Kantons Thurgau (vgl. Art. 39 Abs. 1 lit. e KVG), nicht aber des Wohnkantons der Patientin aufgeführt ist, und zudem die ausserkantonale Hospitalisierung nicht medizinisch begründet war (vgl. Art. 41 Abs. 3 und 3bis KVG). Weiter ist anerkannt, dass im Tarifvertrag (vgl. Art. 46 KVG) vom 22. Dezember 2010 zwischen der Klinik einerseits und santésuisse anderseits für den fraglichen Zeitraum eine Tagesvollpauschale von Fr. 369.- vereinbart wurde. Sowohl die Höhe dieses Tarifs als auch die entsprechende Leistungspflicht der Krankenkasse im Rahmen der OKP sind unbestritten (vgl. E. 3.4). |
Aufgrund des Klage- resp. Beschwerdebegehrens war und ist einzig streitig, ob die Klinik zu Lasten der versicherten Person oder einer allfälligen Zusatzversicherung nach VVG (SR 221.229.1) über die "Tagestaxe Allg." von Fr. 369.- hinaus eine Rechnung stellen, d.h. ob sie in diesem Rahmen den höheren Tarif "AllgCH" von Fr. 590.- anwenden darf. Im Vordergrund stand und steht dabei die Frage, ob die ausserkantonale Wahlbehandlung eine Pflichtleistung der OKP darstellt.
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Ebenso ist die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten an die II. sozialrechtliche Abteilung des Bundesgerichts zulässig (Art. 82 lit. a BGG; Art. 35 lit. d des Reglements vom 20. November 2006 für das Bundesgericht [BGerR; SR 173.110.131]).
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Erwägung 2 |
Erwägung 2.1 |
Mit den Vergütungen nach Art. 49 Abs. 1 und 4 KVG (letzterer regelt die Abgrenzung des Spitaltarifs vom Pflegeheimtarif) sind alle Ansprüche des Spitals für die Leistungen nach diesem Gesetz abgegolten (Art. 49 Abs. 5 KVG). Damit im Einklang steht die Tarifschutzbestimmung von Art. 44 Abs. 1 Satz 1 KVG: Die Leistungserbringer müssen sich an die vertraglich oder behördlich festgelegten Tarife und Preise halten und dürfen für Leistungen nach diesem Gesetz keine weitergehenden Vergütungen berechnen.
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2.2 Die Vorinstanz ist der Auffassung, dass für den Aufenthalt in der allgemeinen Abteilung der Klinik nur die Kosten entsprechend der OKP verrechnet werden dürften, wofür eine Tagespauschale von Fr. 369.- vereinbart worden sei. Seit dem Systemwechsel in der Spitalfinanzierung per 1. Januar 2012 würden die Patienten über eine freie Wahl unter den Listenspitälern verfügen. Anders als früher sei es nach den geltenden KVG-Bestimmungen nicht mehr zulässig, bei ausserkantonalen Patienten für die Behandlung auf der allgemeinen Abteilung einen Zuschlag auf den im Tarifvertrag ausgehandelten pauschalen Tagessatz zu verrechnen. Somit könne auch für allfällige Zusatzleistungen kein Zusatzhonorar generiert werden. |
Erwägung 3 |
Dazu entschied das Bundesgericht, dass die ausserkantonale Wahlbehandlung keine Pflichtleistung der OKP war und daher weder dem KVG-Tarifrecht noch dem Tarifschutz unterstand. Versicherte hatten für eine solche Behandlung - im Sinne einer gesetzlichen Austauschbefugnis (BGE 126 III 345 E. 3c S. 351) - aber immerhin Anspruch auf Vergütung jener Kosten, die dem Krankenversicherer bei einer Pflichtleistung, d.h. bei einer Behandlung in einem Spital des Wohnkantons, angefallen wären. Eine zusätzliche, darüber hinausgehende Vergütung war somit zulässig und vom Patienten selber bzw. von einer abgeschlossenen Zusatzversicherung zu leisten (BGE 134 V 269 E. 2.5 S. 274 f.; SVR 2013 KV Nr. 11 S. 57, 9C_630/2012 E. 6; 2010 KV Nr. 13 S. 53, 9C_569/2009 E. 3.3; Urteil 9F_4/2010 vom 21. Juni 2010 E. 2; vgl. auch BEAT MEYER, Ausserkantonale Wahlbehandlung - Tarifschutz und Tarifgestaltung gemäss 3. KVG-Revision, SZS 2012 S. 391 ff.; GEBHARD EUGSTER, Krankenversicherung, in: Soziale Sicherheit, SBVR Bd. XIV, 2. Aufl. 2007, S. 692 f. Rz. 874 und S. 721 f. Rz. 956). Damit mussten sich Leistungserbringer bei ausserkantonaler Wahlbehandlung nicht an den KVG-Tarif, sei es ihres Standortkantons oder des Wohnkantons von Patienten, halten.
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Fraglich und zu prüfen ist, ob diese Rechtsprechung auch bei der aktuellen Rechtslage (E. 2.1) Bestand hat.
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3.2 Ausgangspunkt jeder Auslegung bildet der Wortlaut der massgeblichen Norm. Ist der Text nicht ganz klar und sind verschiedene Interpretationen möglich, so muss nach der wahren Tragweite der Bestimmung gesucht werden, wobei alle Auslegungselemente zu berücksichtigen sind (Methodenpluralismus). Dabei kommt es namentlich auf den Zweck der Regelung, die dem Text zugrunde liegenden Wertungen sowie auf den Sinnzusammenhang an, in dem die Norm steht. Die Entstehungsgeschichte ist zwar nicht unmittelbar entscheidend, dient aber als Hilfsmittel, um den Sinn der Norm zu erkennen. Namentlich zur Auslegung neuerer Texte, die noch auf wenig veränderte Umstände und ein kaum gewandeltes Rechtsverständnis treffen, kommt den Materialien eine besondere Bedeutung zu. Vom Wortlaut darf abgewichen werden, wenn triftige Gründe dafür bestehen, dass er nicht den wahren Sinn der Regelung wiedergibt. Sind mehrere Auslegungen möglich, ist jene zu wählen, die der Verfassung am besten entspricht (BGE 138 II 440 E. 13 S. 453, BGE 138 II 557 E. 7.1 S. 565 f.; BGE 138 IV 232 E. 3 S. 234 f.; BGE 138 V 17 E. 4.2 S. 20; BGE 137 III 217 E. 2.4.1 S. 221 f.). |
Erwägung 3.3 |
Ob die streitbetroffene Leistung in dem Sinn dem Tarifschutz untersteht, als über den Vertrags- resp. KVG-Tarif (vgl. Art. 46 und 47 KVG) hinaus keine Rechnung gestellt werden darf, lässt sich allein aus dem Wortlaut von Art. 41 Abs. 1bis KVG nicht abschliessend beantworten. Aus dem französischen und italienischen Wortlaut der Bestimmung ergibt sich nichts anderes. |
3.3.2 Mit der KVG-Revision zur Spitalfinanzierung wurde der Systemwechsel von der Objekt- zur Leistungsfinanzierung vollzogen. Die Neuregelung im Tarifbereich sollte zu einer Stärkung des Wettbewerbsgedankens führen (vgl. Botschaft vom 15. September 2004 betreffend die Änderung des Bundesgesetzes über die Krankenversicherung [Spitalfinanzierung], BBl 2004 5551, 5569 f. Ziff. 2.3, 5588 Ziff. 5.3). Durch die leistungsbezogenen Pauschalen werden grundsätzlich sämtliche Kosten (auch die Investitionskosten) abgegolten, soweit es sich nicht um Kosten für gemeinwirtschaftliche Leistungen handelt (vgl. Art. 49 Abs. 1, 3 und 5 KVG). Die Abgeltung der stationären Leistungen erfolgt nach einheitlichen Regeln (Art. 49a in Verbindung mit Art. 49 KVG), unabhängig davon, ob es sich um ein öffentliches oder ein privates Spital handelt. Weil die Pauschalen nicht kosten-, sondern leistungsbezogen festgelegt werden und auf einer Vollkostenrechnung beruhen, kann es keine unterschiedlichen Tarife für innerkantonale und ausserkantonale Versicherte mehr geben (vgl. Botschaft, a.a.O., 5569 f. Ziff. 2.3; GEBHARD EUGSTER, Rechtsprechung des Bundesgerichts zum KVG, 2010 [nachfolgend: KVG], N. 9 zu Art. 41 KVG; BVGE 2013/17 E. 2.4.2.2; 2013/8 E. 2.5.2).
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Im Kontext der neuen Spitalfinanzierung ist insbesondere zu berücksichtigen, dass der Gesetzgeber auch den interkantonalen Wettbewerb fördern wollte, welcher längerfristig zu einer Angleichung der Preise führen sollte. Um zu verhindern, dass sich die Preise nach oben anpassen, beziehungsweise um Druck auf Kantone mit (zu) hohen Spitalpreisen aufzubauen, wurde die Vergütung vorerst auf den Wohnkantonstarif beschränkt. Die freie Spitalwahl mit voller Kostenübernahme sollte erst später verwirklicht werden, wenn die beabsichtigte Angleichung der Preise stattgefunden hat (vgl. AB 2007 S 750 ff., siehe auch AB 2007 N 1770 ff.; Botschaft, a.a.O., 5569 f. Ziff. 2.3; BVGE 2013/17 E. 2.4.3).
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Der angestrebte interkantonale Wettbewerb spielt am besten, wenn die Versicherten von ihrer Wahlfreiheit - die zu verbessern ebenfalls Ziel der KVG-Revision war (vgl. MEYER, a.a.O., S. 400 f.) - möglichst weitgehend Gebrauch machen. Das ist bei ausserkantonalen Wahlbehandlungen am besten gewährleistet, wenn sie als Teil der Grundversorgung betrachtet werden und sich deren Kosten folglich nach den Tarifbestimmungen des KVG richten. Daran ändert nichts, dass die OKP und der Kanton lediglich den Referenztarif des Wohnkantons vergüten, wenn dieser kleiner ist als der KVG-Tarif des Spitals, und der Tarifschutz insofern reduziert ist (vgl. BGE 138 II 398 E. 2.3.2 S. 407). |
3.4 Sodann macht die Beschwerdeführerin geltend, die ausserkantonale Wahlbehandlung werde durch den Tarifvertrag vom 22. Dezember 2010 nicht abgedeckt. In der Tat ist sie vom Wortlaut von Art. 5 Abs. 2 (Geltungsbereich ab 1. Januar 2012) und Art. 6 (Pflichtleistungen) des Tarifvertrags nicht erfasst. Dieser Umstand genügt jedoch nicht, den Tarifschutz von vornherein zu versagen, zumal er auch im vertragslosen Zustand zu respektieren ist und der Leistungserbringer in einer solchen Situation nicht frei ist, das Honorar einseitig festzulegen (BGE 131 V 133 E. 6 S. 139; EUGSTER, KVG, N. 1 und 2 zu Art. 44 KVG). Die Klinik stellt nicht die Höhe des Vertragstarifs von Fr. 369.- pro Tag in Abrede und bestreitet auch nicht, dass dieser Tarif im Rahmen der OKP grundsätzlich anwendbar ist. Die Frage, ob auch die ausserkantonale Wahlbehandlung durch den genannten Tarifvertrag geregelt wird (zur Auslegung resp. Lückenfüllung nach dem Vertrauensprinzip vgl. BGE 139 V 82 E. 3.1 S. 83 f.) oder ob diesbezüglich ein vertragsloser Zustand herrscht (vgl. Art. 47 Abs. 2 KVG), muss an dieser Stelle nicht beantwortet werden; diesbezüglich fehlt es ohnehin an substanziierten Ausführungen der Beschwerdeführerin (vgl. zur Begründungs- und Rügepflicht Art. 42 Abs. 1 und 2 BGG; BGE 133 II 249 E. 1.4.1 S. 254). |
3.5 Schliesslich wird in der Beschwerde auch nicht (substanziiert) dargelegt, inwiefern "ausserkantonale" im Vergleich zu einheimischen Patienten von echten Mehrleistungen (vgl. BGE 135 V 443 E. 2.2 S. 446 f.; vgl. auch etwa SVR 2015 KV Nr. 2 S. 6, 9C_108/2014 E. 3.5) profitiert haben sollen. Somit braucht nicht geprüft zu werden, ob solche Mehrleistungen zu Unrecht über die Tagespauschale von Fr. 369.- abgegolten wurden. Die Beschwerde ist unbegründet.
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