BGE 141 V 473 |
53. Auszug aus dem Urteil der I. sozialrechtlichen Abteilung i.S. Familienausgleichskasse scienceindustries gegen A. (Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten) |
8C_611/2014 vom 6. Juli 2015 |
Regeste |
Art. 25 Abs. 5 AHVG; Art. 49ter Abs. 3 lit. a und b AHVV; Art. 3 Abs. 1 lit. b FamZG; Art. 1 Abs. 1 FamZV; Ausbildungsunterbruch. |
Sachverhalt |
A. Die Familienausgleichskasse scienceindustries (nachfolgend: FAK) richtete A. gestützt auf ihre Anstellung bei der B. AG für ihren Sohn C., geboren 1994, Kinder- und Ausbildungszulagen aus. C. bestand im Dezember 2013 die Matura und absolvierte im Januar und Februar 2014 im Hinblick auf das gewünschte Medizinstudium ein Pflegepraktikum. Von 10. März bis 11. Juli 2014 absolvierte er die Rekrutenschule und legte am 4. Juli 2014 die Prüfungen zum Numerus Clausus des Medizinstudiums ab. Mit Verfügung vom 4. Februar 2014, bestätigt mit Einspracheentscheid vom 11. März 2014, lehnte die FAK die Ausrichtung von Ausbildungszulagen nach dem 1. März 2014 ab. |
B. Das Versicherungsgericht des Kantons Aargau hiess die dagegen erhobene Beschwerde mit Entscheid vom 5. August 2014 gut, hob die Verfügung vom 4. Februar 2014 sowie den Einspracheentscheid vom 11. März 2014 auf und verpflichtete die FAK, A. für ihren Sohn C. ab März 2014 Ausbildungszulagen auszurichten. |
C. Die FAK führt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten mit dem Antrag, es sei der vorinstanzliche Entscheid aufzuheben und es seien die Verfügung vom 4. Februar 2014 sowie der Einspracheentscheid vom 11. März 2014 wiederherzustellen.
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A. enthält sich in ihrer Eingabe vom 23. Oktober 2014 eines Antrags und teilt mit, ihr Sohn habe die Zulassungsprüfung zum Medizinstudium nicht bestanden und deshalb am 15. September 2014 das Studium der Wirtschaftswissenschaften aufgenommen.
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D. Am 16. Januar 2015 forderte das Bundesgericht das Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV) zu einer Vernehmlassung auf, welche dieses am 20. Februar 2015 einreichte. Die FAK nahm mit Schreiben vom 10. März 2015 Stellung zur Eingabe des BSV. A. liess sich nicht mehr vernehmen.
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Das Bundesgericht heisst die Beschwerde gut.
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Aus den Erwägungen: |
3. Nach Art. 3 Abs. 1 lit. b des Bundesgesetzes vom 24. März 2006 über die Familienzulagen (Familienzulagengesetz, FamZG; SR 836.2) werden Ausbildungszulagen ab Ende des Monats, in welchem das Kind das 16. Altersjahr vollendet, bis zum Abschluss der Ausbildung ausgerichtet, längstens jedoch bis zum Ende des Monats, in welchem das Kind das 25. Altersjahr vollendet. Aus den Materialien zum FamZG ergeben sich keine Hinweise darauf, wie der Begriff Ausbildung zu verstehen ist (BGE 138 V 286 E. 4.1 S. 288). Art. 1 Abs. 1 der Verordnung vom 31. Oktober 2007 über die Familienzulagen (Familienzulagenverordnung, FamZV; SR 836.21) statuiert, dass ein Anspruch auf eine Ausbildungszulage für jene Kinder besteht, die eine Ausbildung im Sinne des Art. 25 Abs. 5 AHVG absolvieren. Art. 25 Abs. 5 Satz 2 AHVG beauftragt den Bundesrat, den Begriff der Ausbildung zu regeln, was dieser mit den auf den 1. Januar 2011 in Kraft getretenen Art. 49bis und 49ter der AHVV (SR 831.101) getan hat. Art. 49ter Abs. 3 AHVV lautet: |
Nicht als Unterbrechung im Sinne von Absatz 2 gelten die folgenden Zeiten, sofern die Ausbildung unmittelbar danach fortgesetzt wird:
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a. übliche unterrichtsfreie Zeiten und Ferien von längstens 4 Monaten;
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b. Militär- und Zivildienst von längstens 5 Monaten;
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c. gesundheits- oder schwangerschaftsbedingte Unterbrüche von längstens 12 Monaten.
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Das Bundesgericht hat in BGE 138 V 286 E. 4.2.2 festgehalten, dass bezüglich des Begriffs der Ausbildung sowie deren Unterbrechung und Beendigung auf die Gerichts- und Verwaltungspraxis sowie namentlich die Weisungen des BSV verwiesen werden kann.
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6. Wie die FAK zu Recht ausführt, ist bezüglich der Ausbildungszulagen zu berücksichtigen, dass sich mit den am 1. Januar 2011 in Kraft getretenen Art. 49bis f. AHVV die Rechtslage geändert hat, so dass nicht ohne Weiteres auf den im Jahr 2010 erschienenen Kommentar von KIESER/REICHMUTH abgestellt werden kann (vgl. dazu auch KIESER/REICHMUTH, Update zum Kommentar Bundesgesetz über die Familienzulagen, 2011/3, betr. N. 38-60 und 61-74 zu Art. 3 FamZG). Die von der Vorinstanz zitierte Stelle (KIESER/REICHMUTH, a.a.O., N. 61 zu Art. 3 FamZG) bezieht sich denn auch gerade auf eine Rechtslage, die sich zwischenzeitlich geändert hat, so dass die entsprechenden Aussagen (Andauern des Zulagenanspruchs bei Unterbrechung der Ausbildung bis zu einem Jahr) nicht mehr zutreffend sind. Dasselbe gilt für die Rechtsprechung, welche zum Teil durch die neuen Verordnungsnormen überholt ist. Letzteres gilt insbesondere für zeitlich bestimmte Voraussetzungen, welche in Widerspruch stehen zum nunmehr geltenden Recht. Dies trifft etwa auf den von der Vorinstanz erwähnten BGE 100 V 164 zu, aber auch auf SVR 2011 IV Nr. 45 S. 137, 9C_283/2010 und BGE 138 V 286 (8C_690/2011), soweit diese Aussagen machen zur Rechtslage vor dem 1. Januar 2011, welche mit der nunmehr geltenden nicht mehr in Einklang steht (in diesem Sinne auch MEYER/REICHMUTH, Bundesgesetz über die Invalidenversicherung [IVG], 3. Aufl. 2014, N. 5 zu Art. 35 IVG; vgl. auch MICHEL VALTERIO, Droit de l'assurance-vieillesse et survivants [AVS] et de l'assurance-invalidité [AI], 2011, S. 251 Rz. 853, wonach die frühere Rechtsprechung nicht mehr vollumfänglich massgebend ist). |
Der Begriff der "unterrichtsfreien Zeit" in Art. 49ter Abs. 3 lit. a AHVV ist nach dem klaren Wortlaut dahingehend zu verstehen, dass er jene Zeit des Jahres betrifft, in welchem kein Unterricht erfolgt - also bei den Hochschulen keine Vorlesungen stattfinden. Wenn dazu aber auf die formellen Daten des Semesters abgestellt würde, wie es das BSV vertritt, dann gäbe es gar keine "unterrichtsfreie Zeit" mehr, da dem formell am 31. Januar endenden Herbstsemester nahtlos das am 1. Februar beginnende Frühlingssemester bzw. dem formell am 31. Juli endenden Frühlingssemester nahtlos das am 1. August beginnende Herbstsemester folgt. Art. 49ter Abs. 3 lit. a AHVV wäre bei dieser Auffassung der Norm grösstenteils ohne Sinn und Zweck.
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Zudem erreicht in aller Regel in der Zeit vor Beginn der Vorlesungen - gerade bei Aufnahme eines neuen Studiums - der zeitliche Aufwand nicht das geforderte Ausmass von mindestens 20 Wochenstunden (vgl. dazu Rz. 3359 der Wegleitung des BSV über die Renten [RWL] in der Eidgenössischen Alters-, Hinterlassenen- und Invalidenversicherung in Verbindung mit Rz. 205 f. der Wegleitung zum Bundesgesetz über die Familienzulagen FamZG [FamZWL]), so dass in dieser Zeitspanne keine Ausbildung vorliegt.
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Erwägung 8 |
8.3 Das Bundesgericht kann Verordnungen des Bundesrates vorfrageweise auf ihre Gesetz- und Verfassungsmässigkeit prüfen. Bei unselbstständigen Verordnungen, die sich auf eine gesetzliche Delegation stützen, prüft es, ob sich der Bundesrat an die Grenzen der ihm im Gesetz eingeräumten Befugnisse gehalten hat. Soweit das Gesetz den Bundesrat nicht ermächtigt, von der Verfassung abzuweichen, befindet das Gericht auch über die Verfassungsmässigkeit der unselbstständigen Verordnung. Wird dem Bundesrat durch die gesetzliche Delegation ein sehr weiter Ermessensspielraum für die Regelung auf Verordnungsstufe eingeräumt, so ist dieser Spielraum nach Art. 190 BV (Fassung gemäss Justizreform, vormals Art. 191 BV) für das Bundesgericht verbindlich; es darf in diesem Falle bei der Überprüfung der Verordnung nicht sein eigenes Ermessen an die Stelle desjenigen des Bundesrates setzen, sondern es beschränkt sich auf die Prüfung, ob die Verordnung den Rahmen der dem Bundesrat im Gesetz delegierten Kompetenzen offensichtlich sprengt oder aus anderen Gründen gesetz- oder verfassungswidrig ist. Es kann dabei namentlich prüfen, ob sich eine Verordnungsbestimmung auf ernsthafte Gründe stützen lässt oder ob sie Art. 9 BV widerspricht, weil sie sinn- und zwecklos ist, rechtliche Unterscheidungen trifft, für die ein vernünftiger Grund in den tatsächlichen Verhältnissen nicht ersichtlich ist, oder Unterscheidungen unterlässt, die richtigerweise hätten getroffen werden müssen. Für die Zweckmässigkeit der angeordneten Massnahme trägt der Bundesrat die Verantwortung; es ist nicht Aufgabe des Bundesgerichts, sich zu deren wirtschaftlichen oder politischen Sachgerechtigkeit zu äussern (BGE 136 II 337 E. 5.1 S. 348; BGE 133 V 569 E. 5.1 S. 570; vgl. auch BGE 133 V 42 E. 3.1 S. 44). |
8.4 Dass eine kumulative Anwendung von lit. a und b von Art. 49ter Abs. 3 AHVV zulässig wäre, ist weder der Begründung im angefochtenen Entscheid zu entnehmen noch ergibt sich dies aus dem Verordnungstext. Vielmehr führt das BSV in den Erläuterungen vom 22. Oktober 2010 zu den vom Bundesrat neu geschaffenen Art. 49bis und 49ter AHVV aus, dass in Bezug auf die Leistung von Militär- und Zivildienst angesichts der finanziellen Abgeltungen für den geleisteten Dienst eine restriktivere Praxis gelte, sodass eine am Stück absolvierte Rekrutenschule nur noch ausnahmsweise als Ausbildungszeit gelte (vgl. www.bsv.admin.ch/themen/ahv/00016/index.html?lang=de). Es verweist dazu insbesondere auf die während absolvierten Dienstzeiten erhaltenen Sold- und Erwerbsersatzgelder, welche eine nicht unbeachtliche Höhe erreichen würden, so dass eine weitere Ausrichtung von Leistungen nicht gerechtfertigt sei. Zudem gelte die Zeit zwischen Absolvierung der gymnasialen Matura und Vorlesungsbeginn an der Universität nur noch dann als Ausbildungszeit, wenn diese nicht länger als vier Monate daure. Abschliessend hält das BSV fest, mit dieser Bestimmung (Art. 49ter Abs. 3 AHVV) sollten die "bezahlten" Ausbildungsunterbrüche auf die objektiv notwendigen eingegrenzt werden. Damit beruft sich die Exekutive auf einen ernsthaften und sachlichen Grund. Dass diese Regelung sinn- oder zwecklos ist oder dabei Unterscheidungen getroffen werden, für welche kein vernünftiger Grund vorliegt, ist weder ersichtlich noch wird Entsprechendes geltend gemacht (Art. 106 Abs. 2 BGG). So kann nicht gesagt werden, dass eine rechtsungleiche Behandlung vorliegt, indem Studierende, bei welchen mehrere Unterbrechungsgründe vorliegen, im Gegensatz zu jenen, bei welchen nur ein kurzer Unterbruch gegeben ist, nicht für die gesamte Zeit Zulagen ausgerichtet werden. Denn bei der Dauer des Unterbruchs handelt es sich um ein objektives Unterscheidungsmerkmal und damit um einen sachlichen Grund, weshalb weder eine Verletzung des Gleichbehandlungsgebots von Art. 8 Abs. 1 BV noch des Willkürverbots nach Art. 9 BV vorliegt. Vielmehr führt die kumulative Anwendung von Art. 49ter Abs. 3 lit. a und b AHVV zu einem willkürlichen Ergebnis, indem während einer doppelt so langen Zeit wie bei Berücksichtigung eines einzelnen Grundes ein Anspruch auf Ausbildungszulagen begründet werden könnte, obwohl in dieser Zeit nicht ein einziger Tag der Ausbildung gewidmet ist; inwiefern dadurch der Zweck der Ausbildungszulagen, nämlich die Förderung der Ausbildung durch einen teilweisen Beitrag an die Lebenshaltungskosten (vgl. Art. 2 FamZG) verwirklicht wird, ist nicht ersichtlich. Insofern liefe eine kumulative Berücksichtigung der Unterbrechungsgründe den Intentionen des Gesetz- und Verordnungsgebers zuwider. Zudem hätten die Familienausgleichskassen bei längeren Dienstzeiten stets zu prüfen, ob die ausbezahlten Gelder nicht den zulässigen Einkommensbetrag von Art. 49bis Abs. 3 AHVV überschreiten. Die vom Verordnungsgeber statuierte nicht kumulative Anwendung bewegt sich somit innerhalb des in der Delegationsnorm eröffneten grossen Gestaltungsspielraumes (vgl. E. 8.2) und ist deshalb im Rahmen der zulässigen Prüfung (vgl. E. 8.3) nicht zu beanstanden. Die FAK hat demnach zu Recht den Anspruch auf Ausbildungszulagen für die Zeit vom 1. März 2014 bis zur Aufnahme des Studiums verneint. Der kantonale Entscheid ist aufzuheben. |