BGE 142 V 419 |
47. Auszug aus dem Urteil der II. sozialrechtlichen Abteilung i.S. A. gegen Implenia Vorsorge und Mitb. (Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten) |
9C_704/2015 vom 8. August 2016 |
Regeste |
Art. 26 Abs. 1 und 2, Art. 34a Abs. 1 BVG; Art. 24 BVV 2; Art. 122 Abs. 1 und Art. 124 Abs. 1 ZGB; Eintritt des Vorsorgefalles Invalidität. |
Sachverhalt |
A. A. und D. heirateten am 6. März 1980 in Italien. D. arbeitete bei der F. AG im Tunnelbau und war seit 1. August 2001 bei der Implenia Vorsorge berufsvorsorgeversichert. Aufgrund eines Berufsunfalles im November 2001 bezog D. ab November 2005 eine Invalidenrente der Schweizerischen Unfallversicherungsanstalt (nachfolgend: Suva). Die IV-Stelle des Kantons Graubünden gewährte ihm mit Verfügung vom 29. September 2005 ab 1. November 2002 bis 31. Oktober 2005 eine ganze (Invaliditätsgrad: 100 %) und ab 1. November 2005 eine halbe Invalidenrente (Invaliditätsgrad: 54 %). Die Implenia Vorsorge richtete infolge Überentschädigung zu keinem Zeitpunkt Leistungen aus. Im Mai 2006 wurde die Ehe der A. und des D. geschieden (Urteil des Tribunale G. vom 22. Mai 2006). Am 10. Juni 2009 verstarb D. Die Nachklage der A. gegen die Erbengemeinschaft des D. sel. auf Ergänzung des Scheidungsurteils im Vorsorgepunkt hiess das Bezirksgericht E. mit Urteil vom 11. Juni 2014 gut, ordnete die hälftige Teilung der angesparten Austrittsleistung (Art. 122 Abs. 1 ZGB) an und überwies die Sache zur Durchführung des Vorsorgeausgleichs an das kantonale Berufsvorsorgegericht. |
B. Das Verwaltungsgericht des Kantons Graubünden hielt fest, beim verstorbenen D. sei der Vorsorgefall eingetreten, obschon dieser aufgrund einer Überentschädigung nie vorsorgerechtliche Invalidenleistungen bezogen habe. Gestützt darauf verweigerte es die Teilung des Vorsorgeguthabens, trat auf die Prozessüberweisung des Bezirksgerichts E. nicht ein (Dispositiv-Ziffer 1) und überwies die Sache an dieses zur Festsetzung einer angemessenen Entschädigung gemäss Art. 124 Abs. 1 ZGB (Dispositiv-Ziffer 2).
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C. A. lässt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten führen mit dem Rechtsbegehren, in Aufhebung der Dispositiv-Ziffern 1 und 2 des angefochtenen Entscheids sei die Implenia Vorsorge anzuweisen, vom Vorsorgeguthaben des D. sel. Fr. 42'578.75 zuzüglich Vergütungszins seit 22. Mai 2006 auf ihr Freizügigkeitskonto bei ihrer Bank auszuzahlen. Eventualiter sei die Angelegenheit zur korrekten Ermittlung der Freizügigkeitsleistung sowie anschliessender Überweisungsanordnung zuhanden der Implenia Vorsorge an die Vorinstanz zurückzuweisen. Sodann ersucht A. um unentgeltliche Rechtspflege.
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Die Implenia Vorsorge schliesst auf Abweisung der Beschwerde. Das Bundesamt für Sozialversicherungen verzichtet auf eine Vernehmlassung. A. lässt eine weitere Eingabe einreichen.
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Das Bundesgericht weist die Beschwerde ab.
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Aus den Erwägungen: |
2. Gehört ein Ehegatte oder gehören beide Ehegatten einer Einrichtung der beruflichen Vorsorge an und ist bei keinem Ehegatten ein Vorsorgefall eingetreten, so hat jeder Ehegatte Anspruch auf die Hälfte der nach dem Freizügigkeitsgesetz vom 17. Dezember 1993 (FZG; SR 831.42) für die Ehedauer zu ermittelnden Austrittsleistung des anderen Ehegatten (Art. 122 Abs. 1 ZGB). Ist hingegen bei einem oder bei beiden Ehegatten ein Vorsorgefall bereits eingetreten oder können aus anderen Gründen Ansprüche aus der beruflichen Vorsorge, die während der Dauer der Ehe erworben worden sind, nicht geteilt werden, so ist eine angemessene Entschädigung geschuldet (Art. 124 Abs. 1 ZGB). |
Die Beschwerdeführerin ist der Ansicht, dass der Vorsorgefall nicht eintrat, weil D. von der Implenia Vorsorge nie eine Invalidenrente ausgerichtet wurde. Sie rügt eine Rechtsverletzung (Art. 95 lit. a BGG) und verlangt die Teilung des Vorsorgeguthabens gemäss Art. 122 Abs. 1 ZGB.
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Erwägung 4 |
4.1 Es steht fest, dass die Ehe der Beschwerdeführerin und des D. am 22. Mai 2006 geschieden wurde, bevor Letzterer am 10. Juni 2009 verstarb. Ebenso ist erstellt, dass D. während der Ehe eine Invalidenrente der Invalidenversicherung (seit November 2002) sowie eine solche der Suva bezog (seit November 2005), ihm hingegen - bei grundsätzlich unbestrittenem Anspruch - wegen Überentschädigung nie Rentenleistungen aus der beruflichen Vorsorge ausbezahlt wurden. Zu prüfen ist, ob der Vorsorgefall Invalidität trotzdem eingetreten ist. |
Erwägung 4.3 |
Die Vorsorgeeinrichtung kann - und konnte seit jeher - in ihren reglementarischen Bestimmungen vorsehen, dass der Anspruch aufgeschoben wird, solange der Versicherte den vollen Lohn erhält (Art. 26 Abs. 2 BVG). Dabei hat ein allfälliger Rentenaufschub wegen Lohnfortzahlung des Arbeitgebers nicht die Entstehung des Anspruchs auf eine Invalidenrente nach Ablauf einer bestimmten Karenzzeit zum Gegenstand, sondern sieht einzig vor, dass die Vorsorgeeinrichtung die Erfüllung des Anspruchs aufschieben kann. Art. 26 Abs. 2 BVG ist eine Koordinationsnorm und will verhindern, dass der Versicherte nach Eintritt des Invaliditätsfalles wirtschaftlich besser gestellt wird, als wenn er weiterhin voll arbeitsfähig wäre (BGE 129 V 15 E. 5b S. 26). |
4.3.3 Mit anderen Worten stellt Art. 26 Abs. 2 BVG eine zeitliche Überentschädigungsregelung dar, wie sie Art. 24 BVV 2 als allgemeine Bestimmung bildet. Die gleiche Qualifikation im Sinne eines blossen Rentenaufschubs, losgelöst vom Anspruchsbeginn auf eine Invalidenrente, ist schon auf Grund der identischen Zielsetzung der beiden Bestimmungen - der Verhinderung eines ungerechtfertigten Vorteils (Art. 34a Abs. 1 BVG) - naheliegend. Der Anspruch auf eine BVG-Invalidenrente fällt bei einer solchen Konstellation nicht dahin, sondern die versicherte Person bleibt "Rentenbezügerin", obschon aufgrund der Überentschädigung keine Auszahlung erfolgt (SVR 2009 BVG Nr. 11 S. 34, 9C_404/2008 E. 4.2 mit Hinweis auf SVR 2007 BVG Nr. 35 S. 127, B 82/06 E. 2.2; vgl. auch BGE 140 V 130 E. 2.7 S. 134 f. bezüglich Zusammentreffen von Rentenleistungen der Invalidenversicherung mit solchen der Unfallversicherung). Als logische Konsequenz dieser - inter- und intra-sozialversicherungsrechtlichen - einheitlichen Betrachtungsweise ergibt sich, dass auch der Eintritt des Vorsorgefalles Invalidität nicht der allgemeinen Überentschädigungsregelung folgt, sondern sich nach dem Anspruch auf eine Invalidenrente richtet. Dies gilt in concreto umso mehr, als sich zu diesem Punkt reglementarisch nichts Abweichendes findet und die Beschwerdeführerin solches auch nicht behauptet. Im Übrigen hat bereits die Vorinstanz darauf verwiesen, dass die vorliegende Auffassung von der Lehre überwiegend geteilt wird (vgl. BAUMANN/LAUTERBURG, in: FammKomm Scheidung, Bd. I: ZGB, 2. Aufl. 2011, N. 49 Vorbem. zu Art. 122-124 ZGB S. 128; HANS-ULRICH STAUFFER, Berufliche Vorsorge, 2. Aufl. 2012, S. 374 Rz. 1020; UELI KIESER, Ehescheidung und Eintritt des Vorsorgefalles nach BVG, AJP 2001 S. 158 f.; BASILE CARDINAUX, Der Eintritt des Vorsorgefalls in der beruflichen Vorsorge, in: Soziale Sicherheit - Soziale Unsicherheit, Festschrift für Erwin Murer zum 65. Geburtstag, 2010, S. 141 f.; a.M. THOMAS GEISER, Zur Frage des massgeblichen Zeitpunkts beim Vorsorgeausgleich, FamPra.ch 2/2004 S. 312 f.). Soweit E. 6.3 des von der Beschwerdeführerin erwähnten Urteils 9C_899/2007 vom 28. März 2008 etwas Gegenteiliges zu entnehmen ist, hat das kantonale Berufsvorsorgegericht zu Recht vermerkt, dass es an einer Begründung für eine Abweichung vom Grundsatzentscheid (BGE 129 V 15 E. 5b S. 26; vgl. E. 4.3.2 Abs. 2 hiervor) bzw. für eine scheidungsrechtliche Sonderbetrachtung fehlt. Nach dem Gesagten kann an der zitierten Erwägung nicht festgehalten werden. |
4.4 Zusammengefasst ändert eine vollständige Kürzung eines BVG-Invalidenrentenanspruchs zufolge Überschreitens des mutmasslich entgangenen Verdienstes nichts am Eintritt des Vorsorgefalles Invalidität nach Massgabe der ersten Säule im Rahmen einer Scheidung. BGE 134 V 28 (E. 3.4.2 S. 32), der ohne Blick auf eine mögliche Überentschädigungskonstellation und Koordination mit anderen Sozialversicherungen erging (vgl. E. 4.3.1 hiervor), ist insoweit zu präzisieren. Dass D. im Juni 2009 verstarb, führt zu keinem anderen Ergebnis. Bezüglich der Frage, ob und inwieweit eine Teilung der für die Ehedauer zu ermittelnden Austrittsleistungen erfolgen kann, ist auf den Zeitpunkt der rechtskräftigen Scheidung im Scheidungspunkt abzustellen (Urteil 9C_163/2014 vom 4. April 2014 E. 2.2.2 f.; SVR 2014 BVG Nr. 5 S. 16, 9C_96/2013 E. 2.2). Der Vorsorgefall folgt diesem und ist nach verbindlicher Feststellung der Vorinstanz (vgl. nicht publ. E. 1 hiervor) - klar vor dem Scheidungsurteil des Tribunale G. vom 22. Mai 2006 - am 1. November 2002 eingetreten. Wohl bestand ab 1. November 2005 nurmehr eine Teilinvalidität. Auch dieser Umstand lässt jedoch eine Teilung gemäss Art. 122 ZGB nicht zu, wie das kantonale Gericht mit Blick auf die Rechtsprechung zutreffend dargelegt hat (vgl. BGE 134 V 384 E. 1.2 S. 384 mit Hinweisen); die Beschwerdeführerin stellt dies grundsätzlich nicht in Abrede. Der (ersatzweise) Vorsorgeausgleich auf dem Entschädigungsweg gemäss Art. 124 Abs. 1 ZGB fällt ausschliesslich in die Kompetenz des Scheidungsrichters, der über Höhe und Form des Ausgleichs zu befinden hat, wobei die Möglichkeit gemäss Art. 22b Abs. 1 FZG (Übertragung eines Teils der Austrittsleistung auf Anrechnung an die angemessene Entschädigung nach Art. 124 ZGB) nicht zwingend ist. Eine Überweisung an das kantonale Berufsvorsorgegericht zu diesem Zweck ist daher verfrüht. Die Beschwerde ist unbegründet. (...)
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