BGE 145 V 75 |
7. Auszug aus dem Urteil der I. sozialrechtlichen Abteilung i.S. A. gegen Schweizerische Unfallversicherungsanstalt (Suva) (Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten) |
8C_630/2018 vom 12. Februar 2019 |
Regeste |
Art. 20 Abs. 2 UVG; Art. 33 Abs. 1, Art. 33 Abs. 2 lit. a UVV; Art. 35 Abs. 1 IVG in Verbindung mit Art. 25 AHVG; Anrechnung der IV-Kinderrente bei der Komplementärrente. |
Sachverhalt |
Die Schweizerische Unfallversicherungsanstalt (Suva) sprach dem 1964 geborenen A. am 30. September 2003 eine Invalidenrente und am 5. Februar 2004 aufgrund der vorgesehenen Leistungen der Invalidenversicherung eine Komplementärrente zu. Mit Verfügung vom 18. Februar 2004 gewährte die IV-Stelle des Kantons Aargau A. ab dem 1. Mai 2000 eine ganze Invalidenrente, eine Zusatzrente für seine Ehegattin und Kinderrenten für die Kinder C. (geboren 1994) und D. (geboren 1997); ab 1. April 2002 kam eine Kinderrente für den 2002 geborenen Sohn E. dazu. Im August 2014 beendete C. ihre Lehre, weshalb die entsprechende IV-Kinderrente per 1. September 2014 eingestellt wurde; D. schloss seine Ausbildung Ende August 2015 ab, so dass auch diesbezüglich der Anspruch auf eine IV-Kinderrente endete. |
Am 26. August 2016 meldete sich C., welche im August 2016 eine Zweitausbildung begonnen hatte, zum Bezug einer Kinderrente an, die ihr die IV-Stelle mit Verfügung vom 29. August 2016 ab 1. August 2016 zusprach und direkt ausbezahlte. Die Suva kürzte die Komplementärrente von A. ab dem 1. August 2016 und verrechnete den zu viel überwiesenen Betrag mit der laufenden Rente (Verfügung vom 2. September 2016). A. erhob sowohl Beschwerde gegen die Verfügung der IV-Stelle vom 29. August 2016 als auch Einsprache gegen die Verfügung der Suva vom 2. September 2016. Das Versicherungsgericht des Kantons Aargau wies die Beschwerde gegen die Verfügung der IV-Stelle am 30. März 2017 ab, was vom Bundesgericht mit Urteil 9C_292/2017 vom 7. September 2017 (publiziert in BGE 143 V 305) bestätigt wurde.
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Mit Einspracheentscheid vom 22. Januar 2018 bestätigte die Suva ihre Verfügung vom 2. September 2016.
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Das Versicherungsgericht des Kantons Aargau wies die dagegen erhobene Beschwerde mit Entscheid vom 5. September 2018 ab.
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A. lässt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten führen und beantragen, der angefochtene Entscheid sei aufzuheben und die Suva habe ihm ab 1. August 2016 weiterhin die volle Komplementärrente unter Ausblendung der Kinderrente für die Tochter C. zu bezahlen.
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Die Suva verzichtet auf eine einlässliche Stellungnahme und enthält sich eines Antrags. Das Bundesamt für Gesundheit reicht keine Vernehmlassung ein.
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Das Bundesgericht weist die Beschwerde ab.
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(Zusammenfassung)
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Aus den Erwägungen: |
2. Streitig ist, ob die Vorinstanz Bundesrecht verletzte, indem sie die von der Suva verfügte Anpassung der Komplementärrente bestätigte. Die Suva hatte diese aufgrund der Neuausrichtung einer Kinderrente der IV an die mündige Tochter des Beschwerdeführers, die eine Zweitausbildung begonnen hatte, gekürzt. |
Erwägung 3 |
3.3 Die in Art. 20 Abs. 2 UVG normierte (uneingeschränkte) Anrechnung der AHV- und IV-Renten macht deutlich, dass der im sozialversicherungsrechtlichen Koordinationsrecht vorherrschende (sachliche und ereignisbezogene) Kongruenzgrundsatz bei der Komplementärrentenberechnung grundsätzlich keine Anwendung findet. Art. 32 UVV sieht Ausnahmen davon vor und regelt für Sonderfälle die Beachtung des sachlichen und ereignisbezogenen Kongruenzgrundsatzes. Letzterer ist nur für diejenigen Tatbestände zu beachten, für die der Verordnungsgeber - in Abweichung vom gesetzlichen Grundsatz nach Art. 20 Abs. 2 UVG - in Art. 32 UVV eine Sonderregelung normiert hat (PHILIPP GEERTSEN, in: Kommentar zum Schweizerischen Sozialversicherungsrecht, Bundesgesetz über die Unfallversicherung [UVG], 2018, N. 11 zu Art. 20 UVG). Es ist rechtsprechungsgemäss nicht Sache des Gerichts, den im Gesetz verankerten Grundsatz der vollen Anrechenbarkeit von Renten der AHV und der IV durch die abweichende Normierung einer Vielzahl von Sonderfällen auszuhöhlen (BGE 139 V 473 E. 5.5 S. 481 mit Hinweisen). |
3.5 In BGE 143 V 305 legte das Bundesgericht dar, dass auch eine Zweitausbildung bei abgeschlossener Erstausbildung unter den Begriff der Ausbildung gemäss Art. 49bis AHVV (SR 831.101) falle und daher einen Anspruch auf eine Kinderrente der Invalidenversicherung begründe (BGE 143 V 305 E. 3 S. 307). Im Weiteren hielt es fest, der Kinderrentenanspruch sei nicht von einer zivilrechtlichen Unterhaltspflicht abhängig (BGE 143 V 305 E. 4 S. 310) und die Kinderrente könne direkt dem volljährigen Kind ausbezahlt werden (BGE 143 V 305 E. 5 S. 311). Abschliessend wies es darauf hin, dass die Komplementärrente des Versicherten aufgrund der an dessen Tochter ausbezahlten Kinderrente gekürzt werde, was unbillig erscheinen möge, jedoch keine vom Gesetz abweichende Behandlung rechtfertige. Es stelle sich lediglich die Frage, ob im Rahmen der Berechnung der Komplementärrente allenfalls eine Lösung im Sinne des Versicherten möglich wäre. Dies könne allerdings im invalidenversicherungsrechtlichen Verfahren nicht beantwortet werden (BGE 143 V 305 E. 6 S. 312). |
Erwägung 4 |
4.2 Der Beschwerdeführer bringt insbesondere vor, es stehe fest, dass seine Tochter ihm gegenüber zivilrechtlich keinen Anspruch auf einen Unterhaltsbeitrag habe. Ihr sozialversicherungsrechtlicher Anspruch laufe einer zivilrechtlichen Anspruchsbeurteilung diametral entgegen, weshalb die Kongruenz zu verneinen sei. Die Kinderrente für volljährige Kinder diene der Förderung der beruflichen Ausbildung. Es dürfe nicht koordiniert werden, wenn diese Zielsetzung diametral der familienrechtlichen Unterstützungspflichtregelung entgegenstehe. Es liege eine Verordnungslücke vor, welche durch eine Ausnahmeregelung zu füllen sei. Hinzu komme, dass der seit 1. Januar 2011 revidierte Art. 71ter Abs. 3 AHVV es entgegen der bisherigen bundesgerichtlichen Rechtsprechung ermögliche, die Kinderrente direkt an das volljährige Kind auszurichten. Durch die betreffende Änderung sei die für ihn unbillige Situation geschaffen worden, dass er durch die Reduktion seines Rentenanspruchs indirekt Unterhaltsansprüche seiner volljährigen Tochter befriedigen müsse, für welche zivilrechtlich keine Grundlage bestehe. Diese für ihn unbillige Situation zwinge zu einer richterlichen Entscheidung praeter legem, bis der Bundesrat die UVV insoweit abändere, als entweder die Kinderrente bei Direktauszahlung an ein volljähriges Kind bei der Komplementärrentenberechnung unberücksichtigt bleibe oder indem die Direktauszahlung an das rentenberechtigte Kind nur dann ermöglicht werde, wenn eine familienrechtliche Unterhaltspflicht seitens des (Stamm-)Rentenberechtigten bestehe. |
Erwägung 5 |
Die Vorinstanz hat dazu zutreffend ausgeführt, der Auslegung von Art. 20 Abs. 2 UVG durch den Beschwerdeführer könne nicht gefolgt werden, zumal sich - neben dem unbestrittenen Kindesverhältnis und dem eindeutigen Wortlaut - auch aus der Systematik des Gesetzes und der dazugehörenden Verordnung (Art. 31 Abs. 1 und Art. 33 Abs. 2 lit. a UVV) ergebe, dass auch erwachsene Kinder, die eine Kinderrente bezögen, unter diesen Begriff fielen. Zudem habe das Bundesgericht klargestellt, dass Kinderrenten nicht gleichbedeutend seien mit Unterhaltsverpflichtungen. Es sei nicht ersichtlich, weshalb dies im Bereich der obligatorischen Unfallversicherung anders sein sollte.
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Der Beschwerdeführer setzt sich mit diesen zutreffenden vorinstanzlichen Ausführungen nicht auseinander, weshalb darauf nicht weiter einzugehen ist.
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5.2.2 Das Sozialversicherungsrecht kennt bei der Festsetzung seiner Leistungen keine Bestimmung zur Koordination mit dem Unterhaltsrecht. Die Kinderrenten in der IV (und der AHV) werden schematisch festgesetzt (vgl. immerhin Art. 8 FamZG). Die Frage, wie hoch der Unterhaltsbedarf des Kindes ist, spielt dabei ebenso wenig eine Rolle wie die Frage, ob der unterhaltspflichtige Elternteil mit den ihm verbleibenden Leistungen seinen eigenen Unterhaltsbedarf decken kann (MARKUS KRAPF, Praktische Probleme bei der Koordination von Unterhaltsbeiträgen mit den Kinderrenten der IV und der beruflichen Vorsorge, in: Kaleidoskop des Familien- und Erbrechts, Liber amicarum für Alexandra Rumo-Jungo, 2014, S. 221 ff., 224). Das Bundesgericht hat in BGE 143 V 305 zur Frage, ob der Kinderrentenanspruch von einer zivilrechtlichen Unterhaltspflicht abhängig sei, Folgendes ausgeführt: |
Die Kinderrente soll für den Unterhalt des Kindes verwendet werden. Dies ist jedoch nicht gleichbedeutend mit einer Unterhaltspflicht im zivilrechtlichen Sinne. Denn das Gesetz verlangt nach Art. 25 AHVG in Verbindung mit Art. 35 Abs. 1 IVG als Anspruchsvoraussetzung neben dem Eintreten des Versicherungsfalles bei der versicherten Person einzig das Kindesverhältnis zum anspruchsbegründenden Kind. Der Gesetzgeber hat anlässlich der 6. AHV-Revision, mit welcher die Altersgrenze für den Rentenanspruch vom vollendeten 20. auf das vollendete 25. Altersjahr heraufgesetzt wurde, davon abgesehen, den Anspruch der Waisenrente mit der Voraussetzung zu verbinden, dass die elterliche Unterhaltspflicht bei Eintreten des Versicherungsfalles weiterbesteht (BGE 143 V 305 E. 4.2 S. 310 mit Hinweisen). Eine analoge Anwendung der Unterhaltspraxis nach ZGB wäre denn auch nicht sachgerecht. Beim zivilrechtlichen Mündigenunterhalt ist die Zumutbarkeit nach den gesamten Umständen zu prüfen. Diese verlangt unter anderem Rücksichtnahme auf die wirtschaftliche Leistungskraft der Eltern. Erst nach Abwägung der finanziellen Möglichkeiten des Pflichtigen mit den Ausbildungsplänen und -wünschen des Kindes und dessen Fähigkeiten (sowie allfälligen weiteren Faktoren) lässt sich beurteilen, was in der konkreten Situation angemessen ist. Dieses Kriterium der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit des Vaters oder der Mutter spielt im Anwendungsbereich von Art. 35 IVG in Verbindung mit Art. 25 AHVG offensichtlich keine Rolle. Die wirtschaftlichen Verhältnisse des Kindes sind einzig bei der Abgrenzung der Ausbildung von der Erwerbstätigkeit von Bedeutung (vgl. Art. 49bis Abs. 3 AHVV und BGE 142 V 226; BGE 143 V 305 E. 4.3 S. 311 mit Hinweisen). Bei der Kinderrente handelt es sich um einen vom Zivilrecht losgelösten Anspruch mit eigenen Voraussetzungen. Sind diese erfüllt, vermag daran nichts zu ändern, dass ein volljähriges Kind in Zweitausbildung ohne invalide Eltern allenfalls keinen Unterhalt im Sinne des Zivilrechts erhält. Es bleibt im Übrigen auf den umgekehrten Fall hinzuweisen, wonach aufgrund der Vollendung des 25. Altersjahres nur noch der familienrechtliche Unterhaltsanspruch in Frage kommt (BGE 143 V 305 E. 4.4 S. 311 mit Hinweisen).
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Diese Ausführungen gelten auch im Bereich der obligatorischen Unfallversicherung, wo es um die Koordination von Invalidenrenten der Unfallversicherung mit Renten der Alters- und Hinterlassenenversicherung sowie der Invalidenversicherung geht. Es besteht aufgrund der dargelegten Unterschiede zwischen dem Kinderrentenanspruch und der zivilrechtlichen Unterhaltspflicht kein Anlass, bei der Festsetzung der Komplementärrente nach Art. 20 Abs. 2 UVG die Berücksichtigung einer Kinderrente der IV (oder der AHV) von einer zivilrechtlichen Unterhaltspflicht abhängig zu machen. |
5.2.4 Demnach lässt die gesetzliche Regelung eine Lösung, wie sie vom Beschwerdeführer beantragt wird, nicht zu. Hinzu kommt, dass Regelungen, die zwar bezogen auf einen Einzelfall und dessen konkrete Umstände nachvollziehbar erscheinen, häufig die Gefahr neuer Ungereimtheiten und Ungerechtigkeiten bergen (BGE 121 V 137 E. 5c S. 148; GEERTSEN, a.a.O., 2011, S. 97). Angesichts des dem Bundesrat zustehenden weiten Ermessensspielraumes ist es daher nicht Sache des Gerichts, den im Gesetz verankerten Grundsatz der vollen Anrechenbarkeit von AHV- und IV-Renten durch die abweichende Normierung einer Vielzahl von Sonderfällen auszuhöhlen, sondern allenfalls des Gesetz- oder Verordnungsgebers, eine andere Regelung zu treffen (BGE 139 V 473 E. 5.5 S. 481; BGE 130 V 39 E. 4.3 S. 48; FRÉSARD, a.a.O., S. 292 f.). |
Aus den in E. 5.2.2 und 5.2.3 dargelegten Gründen ist die von THOMAS GÄCHTER (Rechtsprechung des Bundesgerichts im Bereich der Invalidenversicherung, SZS 2018 S. 437 f.) vorgeschlagene Lösung zumindest auf dem Weg der Rechtsprechung nicht realisierbar. Denn das Abhängigmachen der Drittauszahlung von einem zivilrechtlichen Unterhaltsanspruch widerspricht nicht nur Sinn und Zweck der sozialversicherungsrechtlichen Kinderrente, sondern auch den Wertungen des Gesetz- und Verordnungsgebers.
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