BGE 147 V 55 |
5. Auszug aus dem Urteil der I. sozialrechtlichen Abteilung i.S. Schweizerische Unfallversicherungsanstalt (Suva) gegen A. (Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten) |
8C_72/2020 vom 26. August 2020 |
Regeste |
Art. 51 Abs. 2 UVV; Anmeldung bei einer anderen Sozialversicherung. |
Sachverhalt |
A.a A., geboren 1977, war ab 1. Dezember 2005 bei der B. AG angestellt und in dieser Eigenschaft bei der Schweizerischen Unfallversicherungsanstalt (Suva) gegen die Folgen von Unfällen versichert. Am 9. Dezember 2010 erlitt er einen Arbeitsunfall, als er den Abfall beim Einzug einer Maschine entfernen wollte, die Einzugswalze seinen Arbeitshandschuh erfasste und seine linke Hand in die Einzugswalze riss. (...) Der Kreisarzt, Facharzt für orthopädische Chirurgie und Traumatologie, Suva, attestierte ihm am 7. März 2013 eine zumutbare volle Arbeitsfähigkeit in einer adaptierten Tätigkeit und hielt einen psychisch auffälligen Zustand fest. Nachdem die Suva A. am 4. April 2011, am 11. Mai 2011 und am 21. Juli 2011 zur Anmeldung bei der Invalidenversicherung aufgefordert hatte, kam er dem am 23. August 2011 nach. Die IV-Stelle des Kantons Thurgau verneinte am 6. August 2014 einen Anspruch von A. auf berufliche Massnahmen und auf eine Invalidenrente, da sich dieser der angeordneten psychiatrischen Begutachtung nicht unterzogen hatte. Diese Verfügung erwuchs unangefochten in Rechtskraft. (...) Mit Verfügung vom 11. Dezember 2014 sprach die Suva A. ab 1. November 2011 eine Invalidenrente bei einem Invaliditätsgrad von 100 % sowie eine Integritätsentschädigung bei einer Integritätseinbusse aus somatischen Gründen von 30 % zu. Am 9. November 2015 verfügte sie eine Integritätsentschädigung bei einer Integritätseinbusse von 25 % aus psychischen Gründen. Beide Verfügungen erwuchsen unangefochten in Rechtskraft. |
A.b Mit Verfügung vom 22. November 2018 berechnete die Suva die Invalidenrente von A. unter Hinweis auf die infolge Verletzung der Mitwirkungspflicht im Rahmen des invalidenversicherungsrechtlichen Verfahrens neu als Komplementärrente. Nachdem A. dagegen hatte Einsprache erheben lassen, kam die Suva am 1. Februar 2019 auf ihre Verfügung zurück und ersetzte sie mit der Anweisung an A., sich bei der Invalidenversicherung bis zum 31. März 2019 anzumelden sowie seinen Mitwirkungspflichten, namentlich im Rahmen von Abklärungsmassnahmen, nachzukommen; im Unterlassungsfall werde die Rente als Komplementärrente berechnet. (...) Mit Verfügung vom 1. April 2019 richtete die Suva ihre Rente ab 1. April 2019 als Komplementärrente aus. Mit Einspracheentscheid vom 15. Juli 2019 (...) hielt sie an ihrer Verfügung vom 1. April 2019 fest.
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B. Das Verwaltungsgericht des Kantons Thurgau hiess die dagegen erhobene Beschwerde mit Entscheid vom 11. Dezember 2019 gut, hob den Einspracheentscheid vom 15. Juli 2019 auf und wies die von A. beantragte Ausrichtung eines Verzugszinses ab.
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C. Die Suva führt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten mit dem Antrag, es seien der vorinstanzliche Entscheid aufzuheben und der Einspracheentscheid vom 15. Juli 2019 zu bestätigen.
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Die Vorinstanz schliesst auf Abweisung der Beschwerde. A. lässt die Abweisung der Beschwerde beantragen; zudem ersucht er um unentgeltliche Rechtspflege. Das Bundesamt für Gesundheit verzichtet auf eine Stellungnahme.
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(Auszug)
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Aus den Erwägungen: |
4. Die Vorinstanz erwog, hinsichtlich der Wiedererwägung nach Art. 53 Abs. 2 ATSG begründe die Suva die geltend gemachte zweifellose Unrichtigkeit der Verfügung mit der damaligen Nichtanwendung von Art. 51 Abs. 2 UVV. Dem könne nicht gefolgt werden. Der Versicherte habe sich 2011 auf Aufforderung der Suva hin bei der Invalidenversicherung angemeldet. Die IV-Stelle habe wegen Verletzung der Mitwirkungspflicht im Rahmen der angeordneten psychiatrischen Abklärung den Anspruch auf berufliche Massnahmen und auf eine Invalidenrente verneint. Die Suva habe erst über den Rentenanspruch verfügt, nachdem die IV-Stelle ihre Leistungspflicht verneint habe. Somit habe zu keinem Zeitpunkt eine Konstellation vorgelegen, welche die Ausrichtung einer Komplementärrente zur Folge gehabt hätte, da zu keinem Zeitpunkt ein Rentenanspruch der Invalidenversicherung mit der unfallversicherungsrechtlichen Invalidenrente zusammengetroffen sei. Es könne auf Grund der Aktenlage nicht ohne Weiteres davon ausgegangen werden, dass die IV-Stelle dem Versicherten eine ganze Rente zugesprochen hätte, wenn er seiner Mitwirkungspflicht nachgekommen wäre und sich der von der IV-Stelle für notwendig erachteten psychiatrischen Begutachtung unterzogen hätte. Auch sei der Wiedererwägungsgrund der fehlenden Adäquanzprüfung nicht gegeben, da die Suva diese implizit bejaht habe. Dazu verwies die Vorinstanz auf die Beurteilungen des Dr. med. C. vom 18. März 2014 und vom 23. September 2014, gemäss welchen ein schwerer Unfall gegeben sei. Daraus schloss sie, dass es für das Vorliegen der Adäquanz bloss eines der Kriterien bedürfe, was angesichts der dramatischen Begleitumstände des Unfallgeschehens gegeben sei. Zusammenfassend sei festzuhalten, dass die Suva die Rentenzusprechung gemäss Verfügung vom 11. Dezember 2014 zu Unrecht abgeändert habe, und der Einspracheentscheid vom 15. Juli 2019 aufzuheben sei. Abschliessend verneinte das kantonale Gericht den Anspruch des Versicherten auf einen Verzugszins. |
"Der leistungspflichtige Versicherer kann das Mass seiner Leistungen von der Anmeldung des Falles bei anderen Sozialversicherungen abhängig machen."
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"L'assureur tenu de fournir une prestation peut faire dépendre l'ampleur de celle-ci du fait que l'assuré communique ou non son cas à d'autres assurances sociales."
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"L'assicuratore tenuto a fornire prestazioni può subordinarne l'entità alla notifica del caso, da parte dell'assicurato, ad altre assicurazioni sociali."
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Das Bundesgericht hat sich zu diesen beiden Fragen - soweit ersichtlich - bis anhin nicht geäussert. Sofern es zu Art. 51 Abs. 2 UVV Ausführungen gemacht hat, ergeben sich immerhin Hinweise auf sein Verständnis der Norm. In SVR 2009 UV Nr. 55 S. 194, 8C_607/2008 E. 2.7 führte es aus, soweit die Beschwerdeführerin geltend mache, sie hätte auf die Invalidenrente verzichten können, um dadurch bei der Suva der Komplementärrentenberechnung zu entgehen, hätten in diesem Falle die beanspruchbaren Leistungen im Rahmen einer Leistungskoordination angerechnet werden dürfen. Im nicht publizierten Urteil K 57/98 vom 16. Februar 1999 E. 4b hielt das damalige Eidg. Versicherungsgericht (EVG) fest, einzelne Sozialversicherungszweige würden das Mass ihrer Leistungen von der Anmeldung bei andern Sozialversicherungen abhängig machen (Art. 51 Abs. 2 UVV) oder Leistungen anderer Sozialversicherungen, auf welche die versicherte Person trotz Anspruch verzichtet habe, bei der Überversicherung anrechnen (Art. 72 Abs. 4 des Bundesgesetzes vom 19. Juni 1992 über die Militärversicherung [MVG; SR 833.1]); diesen Bestimmungen sei gemeinsam, dass nicht nur effektiv bezogene, sondern auch solche Leistungen anderer Sozialversicherer berücksichtigt würden, die rechtlich zwar bestünden, aus irgendeinem Grund aber nicht zur Ausrichtung gelangten.
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Diese Urteile indizieren, dass - ungeachtet davon, ob der andere Sozialversicherungszweig Leistungen auch tatsächlich erbringt - diese (mutmasslichen) Ansprüche der versicherten Person angerechnet werden können, wenn sie es unterlässt, sich beim anderen Sozialversicherungszweig anzumelden und ihren Pflichten nachzukommen. Eine direkte Antwort auf die beiden Fragen ergibt sich daraus aber (noch) nicht. In der Folge ist demnach anhand der übrigen Auslegungselemente zu ermitteln, wie es sich damit verhält.
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5.4 Da es sich um eine Norm auf Stufe Verordnung handelt, sind die Materialien dazu spärlich. Immerhin wurde anlässlich der Sitzung der Kommission zur Vorbereitung der Verordnung über die obligatorische Unfallversicherung vom 13./14. August 1980 zum damaligen Art. 45 festgehalten, die von der Suva vorgeschlagene Ergänzung des Artikels entspreche Art. 17 Abs. 3 der Verordnung III vom 15. Januar 1965 über die Krankenversicherung betreffend die Leistungen der vom Bund anerkannten Krankenkassen und Rückversicherungsverbände (VO III; in Kraft von 1. Januar 1965 bis 31. Dezember 1995; AS 1965 41 und AS 1995 3867) und habe sich in der Krankenversicherung bestens bewährt. In der Folge wurde dieser Absatz in den Verordnungsentwurf aufgenommen (S. 20). Anlässlich der weiteren Sitzungen wurde diese mittlerweilen im Entwurf als Art. 49 Abs. 2 geführte Bestimmung von der Kommission nicht mehr diskutiert (Protokoll der Sitzung der Kommission zur Vorbereitung der Verordnung über die Unfallversicherung vom 29./30. April und 5. Mai 1981, S. 68) resp. nur noch redaktionell überarbeitet (Ersetzung des Begriffs "Sozialversicherer" durch "Sozialversicherungen"; Protokoll der Kommission zur Vorbereitung der Verordnung über die Unfallversicherung vom 29./30. März 1982, S. 28). |
In EVGE 1966 S. 24 führte das EVG aus, die vom Bundesamt für Sozialversicherungen vorgeschlagene Lösung würde Art. 17 Abs. 3 VO III widersprechen; diese Norm zeige gerade auf, dass das positive Recht keinen Verzicht auf eine direkte Anmeldung des Krankenkassenpatienten bei der Invalidenversicherung zulasse. In RKUV 1984 Nr. K 574 S. 84 kam es zum Schluss, der Rückforderungsanspruch der Krankenkasse sei berechtigt, da der Rückzug der Anmeldung bei der Invalidenversicherung durch die versicherte Person zu Unrecht erfolgt und daher mit einer unterlassenen Anmeldung gleichzustellen sei und angesichts der zu erwartenden halben Invalidenrente einem Leistungsverzicht gleichkomme. Weiter hielt es fest, die massgebende Bestimmung zur Anmeldepflicht bei der Invalidenversicherung könne nicht anders verstanden werden, als dass von der versicherten Person nicht nur die rechtzeitige Anmeldung verlangt werde, sondern dass diese auch bis zum Entscheid der Verwaltung über den Leistungsanspruch aufrecht erhalten bleibe und dass darauf nicht nachträglich verzichtet werde. In RKUV 1984 Nr. K 575 S. 89 führte das EVG aus, die Krankenkasse könne sich nur auf die Anmeldepflicht bei der Invalidenversicherung berufen, wenn auch begründete Aussicht auf Leistungen der Invalidenversicherung, z.B. medizinische und berufliche Massnahmen oder eine Invalidenrente, bestehe. Diese Entscheide, die sich auf Art. 17 Abs. 3 VO III beziehen, der Grundlage für den hier strittigen Art. 51 Abs. 2 UVV war, zeigen, dass die versicherte Person nicht bloss zur Anmeldung verpflichtet ist, sondern auch nichts unternehmen darf, was der Realisierung ihres Anspruchs bei der anderen Sozialversicherung entgegenstehen könnte. Allerdings ist die Anwendung der Bestimmung auf Fälle beschränkt, bei welchen mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit von einem bestehenden Anspruch ausgegangen werden kann. |
Erwägung 5.6 |
5.6.1 Von der Gesetzessystematik und dem Sinn und Zweck her ist mit der Suva festzuhalten, dass sich der Umfang von Art. 51 Abs. 2 UVV nicht auf die blosse Anmeldung beim Sozialversicherer beschränken kann, sondern dass damit auch die Pflicht zur Erfüllung der mit der Anmeldung zusammenhängenden Mitwirkung einhergeht. Denn wenn es bloss um die Anmeldung ginge, wäre Art. 51 Abs. 2 UVV obsolet. Die Frage, ob dem Unfallversicherer ein eigenes Anmelderecht zusteht, soweit er durch die Verweigerung von Versicherungsleistungen berührt ist und ein schutzwürdiges Interesse an der Gewährung der Leistungen hat, kann vorliegend offenbleiben. Dasselbe gilt für die Frage, ob er ein Anmelderecht gestützt auf die Regelung im einzelnen Versicherungszweig hat, hier Art. 66 Abs. 1 IVV, wonach zur Geltendmachung eines Anspruchs auch Behörden und Stellen befugt sind, welche die versicherte Person regelmässig unterstützen oder betreuen, wie etwa der Hausarzt (Urteil 9C_61/2011 vom 4. Mai 2011 E. 2.4) oder die Sozialhilfebehörden (Urteil 8C_905/2014 vom 23. Juli 2015 E. 2.2 mit Hinweisen). Denn nach BGE 133 V 188 E. 4.2 S. 191 deckt sich das Beschwerderecht mit der Parteistellung im Verwaltungsverfahren, so dass der leistungspflichtige Unfallversicherer nicht nur bezüglich einer Verfügung der IV-Stelle beschwerdelegitimiert ist, sondern damit auch Parteistellung im invalidenversicherungsrechtlichen Verfahren hat, was folglich ein Anmelderecht einschliesst (vgl. dazu auch FRANZISKA MARTHA BETSCHART, in: Basler Kommentar, Allgemeiner Teil des Sozialversicherungsrechts, 2020, N. 17 zu Art. 34 ATSG). |
5.6.2 Eine Anmeldepflicht der versicherten Person nach Art. 51 Abs. 2 UVV wäre zudem völlig sinn- und zwecklos, wenn letztere nicht auch verpflichtet wäre, zur Feststellung, ob dieser andere Sozialversicherungszweig ebenfalls leistungspflichtig ist, beizutragen. Ebenso wie die Mitwirkungspflicht in Zusammenhang mit der nach Art. 21 Abs. 4 ATSG angeordneten Durchführung einer zumutbaren Therapie nicht mit bloss einer einmaligen Konsultation eines entsprechenden Facharztes erfüllt wird (vgl. SVR 2008 IV Nr. 7 S. 19, I 824/06 E. 3.3.2), ist der Pflicht zur Geltendmachung von Leistungen bei einem anderen Sozialversicherungszweig nicht mit der blossen Anmeldung Genüge getan, sondern verlangt auch die Mitwirkung zur Feststellung, ob ein (allfälliger) Anspruch besteht. Im Übrigen ist auf BGE 140 V 267 hinzuweisen, wo das Bundesgericht in E. 5.2.2 festgehalten hat, dass der im Rahmen des invalidenversicherungsrechtlichen Verfahrens erfolgten Verletzung der Mitwirkungspflicht auch im Bereich der Ergänzungsleistungen Rechnung zu tragen ist, indem zur Ermittlung des Anspruchs auf Ergänzungsleistungen auf das nach Durchführung der konkret verweigerten Eingliederungsmassnahmen erzielbare Einkommen abgestellt wird. Dabei hielt das Bundesgericht explizit fest, dass die fehlende Kooperation damit doppelt - invalidenversicherungs- und ergänzungsleistungsrechtlich - berücksichtigt werde, sei in Anbetracht der Abhängigkeit der Ergänzungsleistungen von der Invalidenversicherung systemimmanent; anders zu entscheiden hiesse, dass sich die versicherte Person für die invalidenversicherungsrechtlichen Folgen ihrer Widersetzlichkeit mittels Ergänzungsleistungen schadlos halten könnte. |
5.8 Nach dem Gesagten war die Suva berechtigt, den Versicherten zur Anmeldung bei der Invalidenversicherung zu verpflichten. Sie hat auch das Mahn- und Bedenkzeitverfahren korrekt durchgeführt, so dass sie befugt war, die angedrohte Rechtsfolge zu verfügen. Soweit der Versicherte geltend macht, es sei nicht zulässig, in dieser Konstellation seine Rente zu kürzen, ist er darauf hinzuweisen, dass ein Sozialversicherer bei Nichtbefolgen der Mitwirkungspflicht nach Durchführung des Mahn- und Bedenkzeitverfahrens berechtigt ist, seine Leistungen für die Dauer der Verletzung der Mitwirkungspflicht komplett einzustellen (BGE 139 V 585). Folglich muss es erst recht zulässig sein, die Leistungen während dieser Zeit bloss zu reduzieren. |