BGE 147 V 187 |
21. Auszug aus dem Urteil der II. sozialrechtlichen Abteilung i.S. SWICA Krankenversicherung AG gegen A. (Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten) |
9C_388/2020 vom 3. März 2021 |
Regeste |
Art. 27 und 31 Abs. 1 lit. a KVG; Art. 19a Abs. 1 KLV; Sanierung einer nach Vollendung des 20. Altersjahrs erfolgten prothetischen Versorgung eines zahnmedizinischen Geburtsgebrechens. |
Sachverhalt |
A. Die 1972 geborene A. ist bei der SWICA Krankenversicherung AG (fortan: SWICA) obligatorisch krankenversichert. Am 27. Dezember 2017 stellte die behandelnde Zahnärztin Dr. med. dent. B. aufgrund einer "Atrophie des zahnlosen Alveolarkammes im Oberkiefer und Unterkiefer bei Zustand nach multiplen Nichtanlagen mit Beckenkammaugmentationen und anschliessender prothetischer Versorgung" Antrag auf Kostengutsprache für zwei neue Hybridprothesen, stegretiniert auf den bestehenden Implantaten im Ober- und Unterkiefer, im Betrag von Fr. 23'404.60. Die SWICA lehnte es mit Verfügung vom 13. Juni 2019 ab, aus der obligatorischen Krankenpflegeversicherung (OKP) Leistungen für die geplante zahnärztliche Behandlung zu erbringen, da weder ein Geburtsgebrechen noch dessen Behandlung bereits in der Jugend der Versicherten nachgewiesen sei. Daran hielt sie mit Einspracheentscheid vom 21. August 2019 fest. |
B. Die hiergegen erhobene Beschwerde hiess das Sozialversicherungsgericht des Kantons Basel-Stadt mit Entscheid vom 16. Dezember 2019 gut. Es hob den Einspracheentscheid vom 21. August 2019 auf und verpflichtete die SWICA, die Kosten der Zahnbehandlung auf der Grundlage des Kostenvoranschlags vom 27. November 2017 (recte: 27. Dezember 2017) zu übernehmen.
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C. Die SWICA führt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten. Sie beantragt, es sei der vorinstanzliche Entscheid vom 16. Dezember 2019 aufzuheben und ihr Einspracheentscheid vom 21. August 2019 zu bestätigen. Eventualiter sei die Sache zur Vornahme weiterer medizinischer Abklärungen an die Vorinstanz zurückzuweisen. |
A., das Sozialversicherungsgericht Basel-Stadt sowie das Bundesamt für Gesundheit (BAG) schliessen auf Abweisung der Beschwerde.
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Das Bundesgericht weist die Beschwerde ab.
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Aus den Erwägungen: |
Erwägung 4 |
(...)
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4.4 Zu beurteilen ist - insoweit unbestritten - nicht die Kostenübernahme für die Erstbehandlung des Geburtsgebrechens. Nach Feststellung der Vorinstanz erfolgte bereits in den Jahren 2000 bis 2004 in Deutschland eine umfangreiche Behandlung, nämlich eine Kieferkammaugmentation nach Beckenspanentnahme sowohl im Ober- als auch im Unterkiefer mit anschliessender Versorgung durch Prothesen. Strittig ist die Kostenübernahme für die Sanierung dieser zwischenzeitlich abgenutzten prothetischen Versorgung. Es ist deshalb zu prüfen, ob - mit der Beschwerdeführerin - eine Leistungspflicht aus der OKP für zahnmedizinische Geburtsgebrechen auch für Folgebehandlungen entfällt, wenn deren Erstversorgung zwar erfolgt ist, jedoch (ohne ersichtlichen medizinischen Grund) erst nach dem 20. Altersjahr. Offenbleiben kann demgegenüber, ob in gewisen Konstellationen gar die Kosten für eine Erstversorgung nach vollendetem 20. Altersjahr durch die OKP zu übernehmen wären, wie dies das BAG mit Verweis auf die aus seiner Sicht allein massgebliche medizinisch begründete Notwendigkeit ausführt (vgl. auch unten E. 5.2). |
Erwägung 5 |
5.2 Ob dies eine Leistungspflicht der OKP für eine nicht allein aus medizinischen Gründen erst nach Vollendung des 20. Lebensjahrs erfolgende Erstbehandlung in jedem Fall (statt nur regelmässig) ausschliesst, braucht hier mangels Entscheidwesentlichkeit (oben E. 4.4) nicht näher erörtert zu werden (kritisch bezüglich eines absoluten Leistungsausschlusses GEBHARD EUGSTER, Krankenversicherung, in: Soziale Sicherheit, SBVR Bd. XIV, 3. Aufl. 2016, S. 560 Rz. 492; WEBER/GASSMANN, in: Basler Kommentar, Krankenversicherungsgesetz/Krankenversicherungsaufsichtsgesetz, 2020, N. 34 zu Art. 31 KVG). Die am Recht stehende Beschwerdegegnerin leidet überwiegend wahrscheinlich am Geburtsgebrechen der "multiplen Nichtanlagen" (nicht publ. E. 3.3), wobei im konkreten Einzelfall (mit bloss vier von 32 bleibenden Zähnen) zweifelsohne eine schwere Erkrankung des Kausystems vorliegt (vgl. - ebenfalls bezüglich multipler Nichtanlagen - implizit auch Entscheide des Sozialversicherungsgerichts Zürich KV.2005.00019 vom 21. September 2005 sowie KV.2018.00021 vom 23. Dezember 2019). Diese ist zudem ohne Weiteres als nicht vermeidbar zu bezeichnen. Damit dient die strittige Folgebehandlung grundsätzlich der Behandlung einer schweren, nicht vermeidbaren Erkrankung des Kausystems im Sinne von Art. 31 Abs. 1 lit. a KVG. Sie ist zudem aus medizinischer Sicht unbestritten zufolge Abnutzung der ursprünglichen, mittlerweile ca. 20-jährigen, prothetischen Versorgung notwendig. |
5.3.1 Fest steht: Bei initial durch die Invalidenversicherung übernommener Behandlung hätte die Trägerin der OKP die notwendigen erneuten Behandlungen, etwa bei Abnutzung oder Spätfolgen, als Pflichtleistungen zu übernehmen (vgl. etwa Urteil 9C_223/2009 vom 16. April 2010 E. 2.2 und 4.2; Urteil des Eidgenössischen Versicherungsgerichts K 48/03 vom 3. Juni 2004 E. 3.2 f. und 5.3). Ebenso kann rechtsprechungsgemäss Leistungen der OKP nach Art. 31 Abs. 1 lit. a KVG beanspruchen, wer - ohne dass ein Geburtsgebrechen vorläge - an einer schweren, nicht vermeidbaren Erkrankung des Kausystems leidet, etwa wegen extremer Atrophie des Kieferknochens Knochenaufbau und Implantate benötigt (vgl. SVR 2008 KV Nr. 3 S. 8, 9C_50/2007 E. 5.2.1 i.f. mit Hinweis; es handelt sich um eine Osteopathie i.S.v. Art. 17 lit. c Ziff. 3 KLV, sofern die Atrophie nicht allein Folge eines Zahnverlusts ist). Dies gilt grundsätzlich unabhängig davon, ob es um eine Erst- oder Folgebehandlung geht oder vom Zeitpunkt, in dem eine Erstbehandlung erfolgt ist. Vorbehalten bleibt in beiden geschilderten Fallkonstellationen selbstredend die Prüfung der Kriterien der Wirksamkeit, Zweckmässigkeit und Wirtschaftlichkeit gemäss Art. 32 KVG. Zu beachten gilt es überdies den allgemeinen Grundsatz der Schadenminderungspflicht (vgl. etwa BGE 130 V 299 E. 6.2.2.2 S. 307; Urteil 9C_560/ 2014 vom 3. November 2014 E. 5.3; je mit Hinweisen). |
5.3.2 Dass Personen mit zahnmedizinischen Geburtsgebrechen schlechter gestellt werden sollen als solche mit grundsätzlich vergleichbaren, später auftretenden schweren Erkrankungen des Kausystems, ergibt sich weder aus dem Gesetzeswortlaut der Art. 27 und 31 Abs. 1 lit. a KVG, noch aus den Materialien (Botschaft vom 6. November 1991 über die Revision der Krankenversicherung, BBl 1992 I 93 ff., ad Art. 21 [S. 62 f.] und 25 [S. 65 f.]; AB 1992 S 1300 ff.; AB 1993 N 1842 ff.), ebenso wenig wie aus dem Wortlaut von Art. 19a Abs. 1 lit. a KLV und dessen Entstehungsgeschichte (vgl. Schreiben der Schweizerischen Zahnärzte-Gesellschaft SSO an das Bundesamt für Sozialversicherungen [BSV] vom 18. April und 5. Juli 1996 sowie Protokoll der Eidgenössischen Fachkommission für allgemeine Leistungen der Krankenversicherung [ELK] zur Sitzung vom 29. August 1996). Dergleichen wäre auch nicht einsichtig, wollte der Gesetzgeber mit Art. 27 KVG doch gerade die OKP hinsichtlich der Geburtsgebrechen zur Leistung verpflichten, wo keine Deckung durch die Invalidenversicherung besteht (Botschaft, a.a.O.; vgl. ausserdem HARDY LANDOLT, in: Basler Kommentar, Krankenversicherungsgesetz/Krankenversicherungsaufsichtsgesetz, 2020, N. 4 ff. zu Art. 27 KVG). Mit dem BAG (nicht publ. E. 4.3) sind sodann keine Gründe ersichtlich, die Trägerin der OKP aus ihrer Leistungspflicht zu entlassen allein aufgrund einer verspätet vorgenommenen Erstbehandlung, wo diese Verspätung für sie weder zu höheren Folgekosten führt noch von ihr die Übernahme der Erstbehandlung verlangt wird. Dies gilt umso mehr, als es bei der Kostentragung für Folgebehandlungen - anders als bei der Erstbehandlung (vgl. dazu E. 5.1 hiervor) - nicht darum gehen kann, unter dem Gesichtspunkt der Wirksamkeit Anreize für eine Erstbehandlung im medizinisch richtigen Zeitpunkt zu setzen. |
5.3.3 Nach dem Gesagten lässt sich aus Art. 19a Abs. 1 KLV sowie der hierzu ergangenen Rechtsprechung nicht ableiten, dass eine Leistungspflicht der OKP ohne Weiteres auch für Folgebehandlungen entfällt, wenn die Versicherte ihr Geburtsgebrechen ohne ersichtlichen medizinischen Grund erst nach Vollendung des 20. Lebensjahrs angemessen hat versorgen lassen. Im Gegenteil: Hätte die Folgebehandlung auch bei Erstversorgung vor dem 20. Altersjahr (oder aus medizinischen Gründen erst nach diesem Zeitpunkt) überwiegend wahrscheinlich nach dem 20. Lebensjahr - und mithin zu Lasten der OKP - erfolgen müssen, handelt es sich um eine Behandlung, die im Sinne von Art. 19a Abs. 1 KLV nach dem 20. Lebensjahr (medizinisch) notwendig ist. Dass dies hier der Fall ist, ist - zu Recht - nicht umstritten (vgl. bereits oben E. 4.1). In casu nicht entscheidend ist angesichts des Gesagten, inwieweit eine Behandlung des Geburtsgebrechens der gehäuften Nichtanlagen (Ziff. 206 des Anhangs zur Verordnung vom 9. Dezember 1985 über Geburtsgebrechen [GgV; SR 831.232.21]) im Fall der Versicherten überhaupt vor Ende des 20. Altersjahres hätte abgeschlossen werden können, was nicht ohne Weiteres angenommen werden kann (vgl. aus zahnärztlicher Sicht GEBAUER/GNOINSKI, Zahnmedizinische Geburtsgebrechen in der Invaliden- und Krankenversicherung, Abgrenzungsfragen, in: Der Zahnarztpatient - sozialversicherungs- und sozialhilferechtliche Fragen, 2008, S. 49 ff., 59). Weiterungen dazu erübrigen sich, ebenso wie zur Frage, inwiefern eine zumindest ansatzweise Behandlung des Geburtsgebrechens bereits vor dem 20. Altersjahr der Versicherten in der Türkei stattgefunden hat.
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