BGE 147 V 312 |
35. Auszug aus dem Urteil der II. sozialrechtlichen Abteilung i.S. A. gegen Sozialversicherungsanstalt des Kantons St. Gallen, EL-Durchführungsstelle (Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten) |
9C_215/2020 vom 28. Mai 2021 |
Regeste |
Art. 14 Abs. 1 lit. b ELG; Art. 13 Abs. 1 der st. gallischen Verordnung über die Vergütung von Krankheits- und Behinderungskosten bei Ergänzungsleistungen; Art. 8 Abs. 1 und Art. 13 Abs. 1 BV; Krankheits- und Behinderungskosten. |
vormalige Regelung in der ELKV keine Übernahme von Kosten für die Betreuung eines gesunden Kindes in einer Tagesstruktur vorsieht, ist gesetzeskonform (E. 6.2). |
Dies führt weder zu einer Ungleichbehandlung mit Kindern, die dauerhaft fremdplatziert sind (E. 6.3), noch verstösst eine solche Bestimmung grundsätzlich gegen das Recht auf Achtung des Familienlebens (E. 6.4). |
Sachverhalt |
A.a Der 1982 geborenen A., die an einer bipolaren affektiven Störung leidet, sprach die IV-Stelle des Kantons St. Gallen mit Verfügung vom 10. Februar 2015 ab 1. Mai 2010 eine ganze Rente zu. Am 22. Mai 2015 meldete sich die Versicherte bei der EL-Durchführungsstelle der Sozialversicherungsanstalt des Kantons St. Gallen (SVA) zum Bezug von Ergänzungsleistungen an. Zudem hatte die Beiständin des am 30. Juni 2012 geborenen Sohnes der Versicherten die SVA mit Brief vom 4. Mai 2015 ersucht, die behinderungsbedingten Kosten für die Fremdbetreuung des Kindes, namentlich die Kosten für die Kinderkrippe sowie die Aufenthalte in der Pflegefamilie bei den Ergänzungsleistungen anzurechnen. Mit Verfügung vom 20. Februar 2016 sprach die SVA A. rückwirkend ab 1. August 2010 - mit Unterbrüchen wegen Einnahmenüberschüssen - (jährliche) Ergänzungsleistungen zu. |
A.b Am 6. Juni 2016 informierte die Versicherte die SVA, dass sie wegen den Betreuungskosten für ihr Kind einen finanziellen Engpass auf sich zukommen sehe und fragte, wer für diese Kosten aufkäme. Zudem stellte sie mit Schreiben vom 11. November 2016 ein "Anpassungsgesuch" zur Überprüfung, ob diese Aufwendungen als Behinderungskosten einzustufen seien. Mit Verfügung vom 30. Dezember 2016 bzw. Einspracheentscheid vom 20. März 2017 lehnte die SVA eine Kostenübernahme für die Betreuung des Sohnes der Versicherten unter Art. 10 ELG (SR 831.30) (jährliche Ergänzungsleistung) ab. Über die Krankheitskosten werde separat verfügt. Die SVA entschied alsdann betreffend die Krankheits- und Behinderungskosten, dass sie die Auslagen für die Kinderkrippe des Vereins X., abzüglich der Verpflegungskosten, von Januar bis Mai 2017 übernehme.
|
A.c Das Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen trat mit Entscheid vom 28. August 2018 auf die Beschwerde gegen den Einspracheentscheid vom 20. März 2017 nicht ein. Es wies aber in seinen Erwägungen darauf hin, das Gesuch der Versicherten um Übernahme der Kosten für die Kinderkrippe und Pflegefamilie rückwirkend ab Juni 2012 sei weiterhin unbehandelt.
|
A.d Mit Verfügung vom 14. November 2018 lehnte die Verwaltung die Übernahme der Kosten des Vereins X. von Juni 2012 bis Oktober 2018 ab, weil es sich bei den Betreuungskosten für ein Kind nicht um Krankheits- und Behinderungskosten handle. Daran hielt die SVA mit Einspracheentscheid vom 25. Februar 2019 fest.
|
B. Die dagegen erhobene Beschwerde wies das Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen mit Entscheid vom 12. Februar 2020 ab.
|
C. A. lässt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten führen und beantragen, in Aufhebung des kantonalen Entscheids sei festzustellen, die Kosten für die Kinderkrippe von Juni 2012 bis Oktober 2018 müssten von der SVA im Rahmen der Ergänzungsleistungen übernommen werden. Der Begründung der Beschwerde ist zudem zu entnehmen, dass sie um Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege, Einsicht in die Akten der Verwaltung und Vorinstanz sowie um Anordnung eines zweiten Schriftenwechsels ersucht.
|
Die SVA verweist in ihrer Vernehmlassung auf den Einspracheentscheid vom 25. Februar 2019 sowie ihre vorinstanzliche Beschwerdeantwort und lässt damit sinngemäss auf Abweisung der Beschwerde schliessen. Das Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen lässt sich dahingehend vernehmen, dass es an den Schlussfolgerungen im angefochtenen Entscheid festhält. Das Bundesamt für Sozialversicherungen verzichtet hingegen auf eine Stellungnahme. |
A. fordert mit Eingabe vom 15. Februar 2021 die Gutheissung der mit Beschwerde gestellten Anträge.
|
Das Bundesgericht weist die Beschwerde ab.
|
Aus den Erwägungen: |
Erwägung 4 |
Erwägung 4.3 |
4.3.2 Nach Art. 4bis des st. gallischen Ergänzungsleistungsgesetzes vom 22. September 1991 (ELG/SG; sGS 351.5) beschränkt sich der Anspruch auf Vergütung der ausgewiesenen Krankheits- und Behinderungskosten nach Art. 14 Abs. 1 Bst. a bis g des Bundesgesetzes über Ergänzungsleistungen auf die im Rahmen einer wirtschaftlichen und zweckmässigen Leistungserbringung erforderlichen Ausgaben, soweit diese nicht Versicherer oder Dritte decken (Abs. 1). Pflichtleistungen, die von Versicherern der obligatorischen Sozialversicherung angerechnet wurden, gelten als wirtschaftlich und zweckmässig. Kosten, die den Leistungskatalog einer obligatorischen Sozialversicherung übersteigen, werden in der Regel nicht vergütet (Abs. 2). Kosten für Leistungen, die ausserhalb des Geltungsbereichs der obligatorischen Sozialversicherung erbracht wurden, werden ausnahmsweise vergütet, wenn die medizinische Notwendigkeit, die Wirtschaftlichkeit und Zweckmässigkeit nachgewiesen sind (Abs. 3). Als Höchstbetrag gelten die in Art. 14 Abs. 3 bis 5 des Bundesgesetzes über Ergänzungsleistungen festgelegten Ansätze (Abs. 4). Die Regierung regelt die Einzelheiten durch Verordnung (Abs. 5). |
Nach Art. 2 Abs. 1 Bst. b des st. gallischen Gesetzes vom 13. Februar 2011 über die Pflegefinanzierung (PFG; sGS 331.2) sind Leistungserbringer Tages- und Nachtstrukturen, soweit sie nach Art. 38 des Bundesgesetzes über die Krankenversicherung vom 18. März 1994 zugelassen sind. Art. 1 der st. gallischen Verordnung vom 14. Dezember 2010 über die Zulassung von Tages- und Nachtstrukturen (sGS 331.22) bestimmt zudem, dass Tages- und Nachtstrukturen als Leistungserbringer nach Art. 2 Abs. 1 Bst. b PFG zugelassen werden, wenn sie die in Art. 39 Abs. 1 Bst. a bis c des Bundesgesetzes über die Krankenversicherung vom 18. März 1994 geltenden Voraussetzungen erfüllen. Mit anderen Worten ausgedrückt, müssen solche Einrichtungen dem Spitalbegriff im Sinne des KVG genügen.
|
Erwägung 5 |
5.1 Die Vorinstanz hielt mit Verweis auf ihren (früheren) Entscheid vom 28. August 2018 fest, Art. 14 Abs. 1 lit. b ELG und die kantonale Ausführungsgesetzgebung sähen keine Vergütung von Kinderkrippenkosten vor. Der Gesetzgeber habe mit der aktuell gültigen Regelung in Kauf genommen, dass in Einzelfällen eine existenzgefährdende Leistungslücke im EL-Recht bestehe. Das müsse als qualifiziertes Schweigen des Gesetzgebers interpretiert werden, sodass keine ausfüllungsbedürftige Lücke vorliege. |
Erwägung 6 |
6.1 Das Bundesgericht hat zu aArt. 3d Abs. 1 ELG, der bis zum 31. Dezember 2007 gültig war, ausgeführt, der Gesetzgeber habe die Krankheits- und Behinderungskosten detailliert aufgezählt, die Bezügern einer Ergänzungsleistung vergütet würden. Der Konkretisierungsgrad lasse darauf schliessen, dass der Gesetzgeber die Kosten im Einzelnen bestimmen wollte. Die Aufzählung sei abschliessend. Zusätzliche, vom Gesetz nicht genannte Kosten könnten nicht übernommen werden ( BGE 129 V 378 E. 3.1). Die Aufzählung in Art. 14 Abs. 1 ELG, welche die bisherige Regelung weiterführt, ist somit ebenfalls abschliessend (vgl. Urteil 9C_84/2009 vom 10. August 2009 E. 4.4 in fine; vgl. auch Urteil 9C_125/2019 vom 11. Juni 2019 E. 4.1). Diese vom Gesetzgeber getroffene Entscheidung ist zu respektieren (Art. 190 BV). Es ist also nicht möglich, auf dem Weg der Interpretation eine Lücke im Katalog der zu vergütenden Leistungen zu "entdecken" und dadurch zu füllen, dass eine nicht aufgelistete Art von Krankheits- und Behinderungskosten als ebenfalls vergütungsfähig erklärt wird (JÖHL/USINGER-EGGER, Ergänzungsleistungen zur AHV/IV, in: Soziale Sicherheit, SBVR Bd. XIV, 3. Aufl. 2016, S. 1929 Rz. 244). Entgegen der Beschwerde ist somit das Vorliegen einer ausfüllungsbedürftigen Lücke betreffend Art. 14 Abs. 1 ELG zu verneinen. Die Beschwerdeführerin kann zudem nichts aus dem - hier nicht anwendbaren - ab 1. Januar 2021 gültigen Recht ableiten. |
6.3.1 Die Grundrechte richten sich in erster Linie als Abwehrrechte gegen den Staat und geben nur ausnahmsweise und punktuell verfassungsunmittelbare Leistungsansprüche. Namentlich liegt keine Verletzung von Grundrechten darin, dass die Sozialversicherung nicht alle durch die Behinderung verursachten Kosten übernimmt. Aus den Grundrechten kann in der Regel kein direkter Anspruch auf positive staatliche Leistungen abgeleitet werden. Bei der Auslegung sozialversicherungsrechtlicher Leistungsnormen sowie bei der Ermessenshandhabung ist jedoch den Grundrechten und verfassungsmässigen Grundsätzen Rechnung zu tragen, soweit dies im Rahmen von Art. 190 BV, wonach Bundesgesetze und Völkerrecht für das Bundesgericht und die anderen rechtsanwendenden Behörden massgebend sind, möglich ist ( BGE 138 I 225 E. 3.5 mit Hinweisen; vgl. auch BGE 140 I 77 E. 5.3). |
Erwägung 6.3.3 |
6.3.3.1 Bei Kindern, die dauerhaft fremdplatziert sind, findet - auch wenn sie keinen eigenen EL-Anspruch haben ( BGE 141 V 155 E. 3) - eine separate Berechnung statt (Art. 9 Abs. 5 lit. a ELG i.V.m. Art. 7 Abs. 1 lit. c ELV). Bei ihnen werden gemäss Art. 10 Abs. 2 Satz 1 ELG für das Heim die Tagestaxen als Ausgaben anerkannt. Diese Bestimmung verpflichtet die Kantone aber nicht, die Tagestaxen bei anderen Einrichtungen als Pflegeheimen nach Art. 39 Abs. 3 KVG so festzusetzen, dass die EL-Bezüger - in der Regel - keine Sozialhilfe beziehen müssen ( BGE 143 V 9 E. 6.2 mit Hinweis auf BGE 138 II 191 E. 5.5.4). Das Ziel, eine durch einen Pflegeheimaufenthalt bewirkte Sozialhilfeabhängigkeit zu verhindern, kann somit nicht gleichgesetzt werden mit jenem, eine solche für alle invaliden Personen zu vermeiden ( BGE 138 I 225 E. 3.6.2). Entsprechend gelten Taxen für Institutionen, die nicht unter Art. 39 Abs. 3 KVG fallen, erst dann nicht als existenzsichernd im EL-rechtlichen Sinne, wenn die Beträge für den allgemeinen Lebensbedarf nach Art. 10 Abs. 1 lit. a Ziff. 1 ELG, für den höchstmöglichen Mietzins nach Art. 10 Abs. 1 lit. b Ziff. 1 ELG und für die anerkannten Ausgaben von Art. 10 Abs. 3 ELG durch die anrechenbaren Einnahmen nicht gedeckt sind (Art. 13 Abs. 2 ELG; BGE 143 V 9 E. 6.1; vgl. auch Urteile 9C_237/2020 vom 6. November 2020 E. 3.3 und 9C_884/ 2018 vom 1. Mai 2019 E. 7.3).
|
6.3.3.2 Bei der Beschwerdeführerin wurden keine Ausgaben für die zeitweise Fremdbetreuung ihres Kindes berücksichtigt. Bei ihr und ihrem Sohn ist aber ebenfalls gewährleistet, dass die Kosten für den allgemeinen Lebensbedarf (Art. 10 Abs. 1 lit. a ELG), für den Mietzins einer Wohnung und die damit zusammenhängenden Nebenkosten (maximal bis zum Höchstbetrag; Art. 10 Abs. 1 lit. b ELG) sowie die weiteren Ausgaben im Sinne von Art. 10 Abs. 3 ELG gedeckt sind. Zudem wird von Gesetzes wegen auch bei EL-Bezügern mit im Heim lebenden Kindern eine Sozialhilfeabhängigkeit nicht generell ausgeschlossen (vgl. E. 6.3.3.1 hiervor) und diesfalls werden die mit der jährlichen Ergänzungsleistung nicht gedeckten externen Kinderbetreuungskosten ebenfalls nicht als Krankheits- und Behinderungskosten nach Art. 14 Abs. 1 ELG sowie den Ausführungsbestimmungen des Kantons St. Gallen vergütet (vgl. Urteil 9C_237/ 2020 vom 6. November 2020 E. 3.2, den Kanton St. Gallen betreffend, mit Hinweisen). Es ist somit nicht ersichtlich, inwiefern die Beschwerdeführerin in einer gegen Art. 8 Abs. 1 BV verstossenden Weise ungleich behandelt wird im Vergleich zu Ergänzungsleistungsbezügern mit in einem Heim lebendem Kind. Die Beschwerdeführerin kann daher keinen Leistungsanspruch aus dem Gleichbehandlungsgebot herleiten und es hat bei der vom Gesetzgeber angelegten Ordnung sein Bewenden, dass durch die Ergänzungsleistungen nicht in jedem Einzelfall alle zur Deckung des Existenzbedarfs unausweichlich nötigen Leistungen vergütet werden (vgl. JÖHL/ USINGER-EGGER, a.a.O., S. 1930 Rz. 245). |
Das Recht auf Achtung des Familienlebens wird auch durch Art. 8 EMRK und Art. 13 Abs. 1 BV geschützt.
|
6.4.2 Ein staatlicher Eingriff in das Familienleben ist wegen der finanziellen Verhältnisse der Beschwerdeführerin nicht erfolgt und auch der angefochtene Entscheid bewirkt keinen Zwang, den Sohn in institutionelle Pflege zu geben. Zudem ist nicht ersichtlich, inwiefern die Gefahr einer Trennung der Beschwerdeführerin von ihrem Sohn besteht, wenn ein Anspruch auf Ergänzungsleistungen für die hier strittigen Kinderbetreuungskosten abgelehnt wird. Dies legt die Beschwerdeführerin auch nicht substanziiert dar. Es kann auf die Akten verwiesen werden, aus denen hervorgeht, dass die Beschwerdeführerin in der Vergangenheit vom Sozialamt - zumindest bevorschussend - finanzielle Hilfe zur Bezahlung der Kinderkrippe erhalten hat, sofern sie dazu nicht in der Lage war. Im Umstand, dass die Beschwerdeführerin und ihr Sohn allenfalls Sozialhilfe beziehen und auf dem sozialrechtlichen Existenzminimum leben müssen, ist keine Verletzung von Grundrechten zu erblicken. Diese geben nämlich keinen Anspruch, dass sämtliche behinderungsbedingten Kosten von der Sozialversicherung gedeckt werden ( BGE 138 I 225 E. 3.8.2). |