![]() ![]() | |||
| |||
Bearbeitung, zuletzt am 15.03.2020, durch: Sabiha Akagündüz, A. Tschentscher | |||
![]() | ![]() |
15. Auszug aus dem Urteil der I. öffentlichrechtlichen Abteilung |
vom 17. März 1993 |
i.S. H. c. Staatsanwaltschaft und Strafgericht des Kantons Zug |
(staatsrechtliche Beschwerde) | |
Regeste |
Persönliche Freiheit, § 59 KV/ZG und Art. 6 Ziff. 1 EMRK: Ausschluss der Öffentlichkeit von der Verhandlung im Strafverfahren. |
1. Der Angeschuldigte kann sich für ein Begehren um Ausschluss der Öffentlichkeit von der Verhandlung im Strafverfahren grundsätzlich auf die persönliche Freiheit berufen (E. 2b). |
2. Bedeutung und Tragweite des Grundsatzes der Öffentlichkeit von Gerichtsverhandlungen (E. 4a). |
3. Abwägung der Interessen für und gegen die Zulassung der Öffentlichkeit (E. 4b-4f). | |
![]() | |
A.- Das Strafgericht des Kantons Zug hat den wegen Diebstahls, Hausfriedensbruchs, Sachbeschädigung und weiterer Delikte angeklagten H. zur persönlichen Befragung und Hauptverhandlung vorgeladen. In der Folge ersuchte H. das Strafgericht darum, es sei die Öffentlichkeit von der Hauptverhandlung auszuschliessen, es sei sein Name auf der Sitzungsliste nicht zu veröffentlichen und eventualiter sei die Verhandlung auf einen späteren Termin zu verschieben. Zur Begründung führte er im wesentlichen aus, er habe die ihm vorgeworfenen Delikte vor rund fünf Jahren und noch im Alter von 18 bzw. 19 Jahren begangen. Mit seinen bald 24 Jahren sei er heute vollkommen resozialisiert und als Journalist im Berufsleben integriert. Durch die Sitzungsliste und die Öffentlichkeit erfahre seine heutige Arbeitgeberin von seinen bisher nicht bekanntgegebenen Jugendsünden. Er müsse daher mit einer Entlassung rechnen und könnte dann ![]() ![]() | 1 |
Das Strafgericht wies die Ersuchen ab. Es begründete seinen Entscheid damit, dass nach Kantonsverfassung und Gerichtsorganisationsgesetz die Öffentlichkeit im Strafverfahren nur bei Verletzung von Sitte und Anstand und bei überwiegenden schützenswerten Interessen insbesondere des Opfers ausgeschlossen werde. Die beruflichen Nachteile, die sich im vorliegenden Fall von andern Angeschuldigten kaum unterschieden, vermöchten den Ausschluss der Öffentlichkeit angesichts der Schwere der Vorwürfe nicht zu rechtfertigen.
| 2 |
Gegen diesen Entscheid hat H. beim Bundesgericht staatsrechtliche Beschwerde erhoben und eine Verletzung von Art. 4 BV und der persönlichen Freiheit geltend gemacht. Das Bundesgericht weist die Beschwerde im Sinne der Erwägungen ab.
| 3 |
Auszug aus den Erwägungen: | |
Auszug aus den Erwägungen:
| 4 |
Erwägung 2 | |
5 | |
a) Der Beschwerdeführer macht nicht geltend, § 59 der Kantonsverfassung des Kantons Zug (KV) oder Art. 6 Ziff. 1 EMRK seien wegen der Zulassung der Öffentlichkeit verletzt. § 59 KV sieht die Öffentlichkeit der Verhandlungen vor dem Kantons-, dem Straf- und dem Obergericht vor und überlässt die Umschreibung der Ausnahmen dem einfachen Gesetzesrecht. Art. 6 Ziff. 1 EMRK verlangt im Grundsatz die Öffentlichkeit von Gerichtsverhandlungen in zivil- und strafrechtlichen Angelegenheiten und umschreibt die Ausnahmen von der Öffentlichkeit. Da der Grundsatz der Öffentlichkeit nicht nur den Prozessbeteiligten eine korrekte und gesetzmässige Behandlung garantieren, sondern ebenso der Allgemeinheit das Mitverfolgen von Prozessen und damit eine Kontrolle der Justiz ermöglichen will (unten E. 4a), kann sich der einzelne nicht im Sinne eines verfassungsmässigen Rechts auf die Ausnahmen berufen und gestützt darauf den Ausschluss der Öffentlichkeit verlangen. Es kann daher - was in der bisherigen Rechtsprechung noch offengelassen worden ist (vgl. BGE 117 Ia 388 f.) - aus den Ausnahmen von der Öffentlichkeit kein Recht auf Nichtöffentlichkeit abgeleitet werden ![]() ![]() | 6 |
7 | |
Das ungeschriebene Verfassungsrecht der persönlichen Freiheit schützt nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung als zentrales Freiheitsrecht und verfassungsrechtlicher Leitgrundsatz nicht nur die Bewegungsfreiheit und die körperliche Integrität, sondern darüber hinaus alle Freiheiten, die elementare Erscheinungen der Persönlichkeitsentfaltung bilden (BGE 115 Ia 246, mit Hinweisen). - Nach der Rechtsprechung gehört zum Schutzbereich der persönlichen Freiheit auch der Anspruch auf persönliche Geheimsphäre (BGE 109 Ia 279, mit Hinweisen). In bezug auf den guten Ruf hat das Bundesgericht vorerst angenommen, das öffentliche Verlesen einer Anklageschrift, in der auch Anschuldigungen gegen einen Verstorbenen enthalten waren, berühre weder diesen noch dessen Angehörige in ihrer persönlichen Freiheit (BGE 104 Ia 39 E. 5). Später hat es in der Veröffentlichung der Namen von fruchtlos gepfändeten Schuldnern im Amtsblatt einen Eingriff in dieses verfassungsmässige Recht erblickt (BGE 107 Ia 55 E. 3). In einem weitern Fall hat es bei der Übernahme von Strafakten von einem Strafverfahren in diejenigen ![]() ![]() | 8 |
Im vorliegenden Fall geht es um die Befragung des Beschwerdeführers in der Hauptverhandlung des gegen ihn geführten Strafverfahrens. Es werden dabei Angaben zu den persönlichen Verhältnissen und dem Vorleben erfragt und die dem Beschwerdeführer vorgeworfenen Delikte im einzelnen erörtert. Aufgrund der Öffentlichkeit ist es möglich, dass all diese Informationen eine weitere Verbreitung in der Allgemeinheit finden, dass der Betroffene in einem negativen Bild festgehalten wird (vgl. BGE 113 Ia 10 f.) und dass sich diese Informationen in verschiedener Hinsicht negativ auf seine gesamten persönlichen Verhältnisse auswirken. Angesichts dieser Lage wird der Beschwerdeführer durch die Verfahrensöffentlichkeit tatsächlich in seinem Verfassungsrecht auf persönliche Freiheit betroffen. Das Bundesgericht hat denn auch schon im Jahre 1985 die Verweigerung des Ausschlusses der Öffentlichkeit ohne weitere Diskussion unter dem Gesichtswinkel der persönlichen Freiheit geprüft (nicht veröffentlichtes Urteil vom 8. Mai 1985 i.S. S.). Und in ähnlicher Weise hat die Europäische Menschenrechtskommission die Bekanntmachung von Vorstrafen anlässlich eines öffentlichen Verfahrens unter dem Gesichtswinkel von Art. 8 EMRK betrachtet (DR 14, 228 (232 f.)).
| 9 |
Demnach kann sich der Beschwerdeführer für sein Ersuchen um Ausschluss der Öffentlichkeit auf die persönliche Freiheit berufen und im vorliegenden Fall eine entsprechende Verfassungsverletzung geltend machen. Diesen Schutz können nicht nur Opfer von Straftaten in Anspruch nehmen (vgl. dazu das Bundesgesetz über die Hilfe an Opfer von Straftaten, SR 312.5), sondern wie im vorliegenden Fall grundsätzlich auch der Beschwerdeführer in der Stellung als Angeschuldigter (vgl. BGE 108 Ia 93 f. zum Schutze von jugendlichen Tätern).
| 10 |
11 | |
Der Beschwerdeführer erhebt keine eigentliche Rechtsverzögerungsbeschwerde und beanstandet die Verfahrensdauer nicht in eigenständiger Weise. Eine Rechtsverzögerungsbeschwerde bedürfte der (materiellen) Ausschöpfung des kantonalen Instanzenzuges ![]() ![]() | 12 |
Soweit der Rüge der Verfahrensverschleppung indessen lediglich Hilfsfunktion im Zusammenhang mit der Verletzung der persönlichen Freiheit zukommt, kann sie bei der Beurteilung der Hauptfrage und bei der Interessenabwägung mitberücksichtigt werden.
| 13 |
Erwägung 3 | |
14 | |
Die Kantonsverfassung Zug bestimmt in § 59, dass die Verhandlungen vor dem Kantons-, Straf- und Obergericht öffentlich und mündlich sind und dass das Gesetz die Ausnahmen umschreibe. In Ausführung dieser Grundsätze sieht das Gesetz des Kantons Zug über die Organisation der Gerichtsbehörden (Gerichtsorganisationsgesetz, GOG) in § 69 vor, dass die Partei- und Beweisverhandlung sowie die Eröffnung des Urteils beim Kantons-, Straf- und Obergericht öffentlich sind; in Fällen jedoch, in denen durch die öffentliche Verhandlung Sitte und Anstand verletzt würden, kann die Öffentlichkeit ausgeschlossen werden, namentlich bei Verhandlungen über Sittlichkeitsvergehen und in Ehescheidungs- und Vaterschaftsprozessen.
| 15 |
Im vorliegenden Fall durfte das Strafgericht ohne Willkür annehmen, dass das den Beschwerdeführer betreffende Verfahren Sitte und Anstand nicht verletze, es sich auch nicht um ein Sittlichkeits- oder Familienrechtsverfahren handle und demnach kein gesetzlicher Grund für den Ausschluss der Öffentlichkeit gegeben sei. Wie dargelegt, kann der Beschwerdeführer aus den in der Kantonsverfassung enthaltenen Ausnahmen nichts direkt zu seinen Gunsten ableiten. Die Anwendung des kantonalen Rechts kann daher unter diesem Gesichtswinkel nicht beanstandet werden.
| 16 |
Erwägung 4 | |
4.- Für die Beurteilung des vorliegenden Falles ist vom Grundsatz der Öffentlichkeit der Hauptverhandlung auszugehen, wie er sich ![]() ![]() | 17 |
18 | |
Die Konvention selber sieht Ausnahmen von der Öffentlichkeit vor im Interesse der Sittlichkeit, der öffentlichen Ordnung oder der nationalen Sicherheit oder wenn die Interessen von Jugendlichen, der ![]() ![]() | 19 |
20 | |
Beim streitigen Strafverfahren stehen nun allerdings keine Tatumstände in Frage, die den Beschwerdeführer in spezifischer Weise in seiner Persönlichkeitssphäre betreffen. Es kann insbesondere nicht gesagt werden, dass etwa die Motive, der Hergang und die Begleitumstände der Delikte besondere Geheimnisse berühren, die vor der Öffentlichkeit auszubreiten dem Beschwerdeführer nicht zuzumuten wären; ebensowenig handelt es sich um Intimitäten oder abnorme Charaktereigenschaften, an deren Geheimhaltung ein gewisses Interesse bestehen kann (vgl. zur Frage der Einschränkung der Akteneinsicht in einem Strafverfahren aus solchen Gründen das Urteil vom 27. März 1991, in: ZBl 92/1991 S. 551 f. E. 7). Es geht dem Beschwerdeführer vielmehr darum, ganz allgemein zu verhindern, dass die ihm vorgeworfenen Delikte und die befürchtete Verurteilung ![]() ![]() | 21 |
22 | |
bb) Es ist verständlich, dass sich der Beschwerdeführer auf sein jugendliches Alter beruft, hat er die ersten Delikte doch nur wenige Monate nach Vollendung des 18. Lebensjahres begangen. Er gilt somit nur knapp nicht mehr als Jugendlicher im Sinne von Art. 89 StGB und kommt wegen weniger Monate nicht mehr in den Genuss des nach § 63 Abs. 1 der Strafprozessordnung des Kantons Zug (StPO) unter Ausschluss der Öffentlichkeit durchgeführten Jugendgerichtsverfahrens. Es kann angeführt werden - auch wenn sich der Beschwerdeführer nicht darauf berufen kann -, dass andere Kantone die Grenze für das Jugendstrafverfahren und damit den Ausschluss der Öffentlichkeit erst beim vollendeten 20. Lebensjahr ziehen (vgl. BGE 108 Ia 90 zu § 372 der Strafprozessordnung des Kantons Zürich). Als junger Erwachsener im Sinne von Art. 100 StGB ist auch nach Art. 1 der Verordnung 1 zum StGB das Verfahren im vorliegenden Fall nicht hinter verschlossenen Türen durchzuführen. Junge Erwachsene lassen sich in ihrer Entwicklung zumeist noch wesentlich beeinflussen und können ihre gesamte Persönlichkeit noch leichter entwickeln. Diesem Umstand trägt die neuere Rechtsprechung vermehrt Rechnung (vgl. BGE 118 IV 351), und er kann grundsätzlich auch bei der Frage des Ausschlusses bzw. der Zulassung der Öffentlichkeit mitberücksichtigt werden.
| 23 |
Den Akten kann entnommen werden, dass der Beschwerdeführer seine deliktischen Handlungen nach seiner Verhaftung aufgegeben und sich seither in eindrücklicher Art und Weise aufgefangen hat; er hat seine Lehre erfolgreich abgeschlossen und ist heute im Berufsleben als Journalist integriert. Die Schutzaufseherin bestätigt in ihren ![]() ![]() | 24 |
Besonderes Gewicht legt der Beschwerdeführer auf die Verfahrensdauer und die schleppende Untersuchungsführung: Er hat die Straftaten im Alter von ca. 18 1/4 bis zu seiner Verhaftung im Alter von 19 1/4 Jahren ausgeführt; aufgrund seiner Geständnisse waren die Ermittlungen weitgehend abgeschlossen, als er etwas über 19 1/2 Jahre alt war; hierauf dauerte es gute drei Jahre, bis er im Alter von 23 Jahren vom Verhöramt des Kantons Zug nochmals einvernommen worden ist; darauf folgten dann die Anklageschrift und die Aufforderung zur umstrittenen Hauptverhandlung, welche kurz vor dem 24. Geburtstag hätte stattfinden sollen. - Es ist dem Beschwerdeführer einzuräumen, dass das bisherige Verfahren lang dauerte; insbesondere der Umstand, dass es zwischen dem Abschluss der Ermittlungen und dem untersuchungsrichterlichen Verhör während mehr als drei Jahren ruhte, ist in der Tat aussergewöhnlich und unter dem Gesichtswinkel der Verfahrensbeschleunigung kaum zu rechtfertigen. - Bei objektiver Betrachtung kann nun nicht gesagt werden, das öffentliche Interesse an der Zulassung der Öffentlichkeit sei nur schon deshalb gering, weil die zur Beurteilung anstehenden Straftaten Jahre zurückliegen; auch in solchen Fällen soll das Prozessgeschehen grundsätzlich noch mitverfolgt werden können. Aus der Sicht des jugendlichen Beschwerdeführers aber ist belastend, dass nach einer längeren Periode, während der er sich aufgefangen und ![]() ![]() | 25 |
cc) Es kann zum vornherein nicht angenommen werden, dass sich die Straftaten und die allfällige Verurteilung auf die Dauer verheimlichen lassen. Eine nur indirekte und möglicherweise verfälschte Kenntnisnahme könnte sich auf den Beschwerdeführer ebensosehr negativ auswirken. Demgegenüber ist mit der Offenheit des Verfahrens möglicherweise die Chance verknüpft, dass auch die positiven Seiten bekannt und weiterverbreitet werden, insbesondere dass es sich um weit zurückliegende "Jugendsünden" handelt, dass sich der Beschwerdeführer in der Untersuchung wohl verhielt und sogar mehr zugestand, als ihm hätte nachgewiesen werden können, und dass er sich in der Zwischenzeit aufgefangen, von jenen Vorkommnissen distanziert und seinen Weg in Gesellschaft und Beruf gefunden hat.
| 26 |
27 | |
28 | |
f) Die Abweisung der Beschwerde kann indessen nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Möglichkeit negativer Auswirkungen infolge Publikumsöffentlichkeit und Gerichtsberichterstattung bestehenbleibt. Diese ist unter dem Gesichtswinkel der Resozialisierung ![]() ![]() ![]() | 29 |
© 1994-2020 Das Fallrecht (DFR). |