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Bearbeitung, zuletzt am 15.03.2020, durch: Rainer M. Christmann, A. Tschentscher | |||
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2. Das Tatbestandsmerkmal der schweren sittlichen Gefährdung von Verbrecher-Comics kann nicht mit dem Hinweis darauf verneint werden, daß das Maß der von ihnen ausgehenden Jugendgefährdung nicht größer sei als der ungünstige Einfluß anderer moderner Mittel der Massenunterhaltung (z.B. schlechter Filme) und daß von ihnen keine schädliche Dauerwirkung zu befürchten sei, weil sie nur in einer gewissen Alters- und Entwicklungsstufe gelesen würden. |
3. Das Merkmal der Offensichtlichkeit bedeutet, daß die von der Schrift ausgehende sittliche Gefährdung der Jugend jedem einsichtigen, für Erziehung und Schutz der Jugend aufgeschlossenen Menschen ohne besondere Mühe erkennbar sein muß. |
Gesetz über die Verbreitung jugendgefährdender Schriften vom 9. Juni 1953 (BGBl I S 377) §§ 1, 6, 21 |
1. Strafsenat |
Urteil |
vom 14. Juli 1955 g.M. |
- 1 StR 172/55 - |
I. Landgericht München II |
Gründe: | |
Dem Angeklagten, der einen der größten Zeitschriftenvertriebe in G.-P. unterhält, lag nach dem Eröffnungsbeschluß zur Last, in fünf selbständigen Fällen fahrlässig von einer Verkaufsstelle aus, die von Kunden nicht betreten zu werden pflegt, Schriften, die Jugendliche offensichtlich sittlich schwer gefährden, vertrieben und zugleich in vier dieser Fälle die Schriften zum Zwecke der geschäftlichen Werbung im Schaufenster ausgehängt zu haben (§§ 6 Abs. 1, 4 Abs. 1, 5 Abs. 2, 21 Abs. 1 Satz 2 des Gesetzes über die Verbreitung jugendgefährdender Schriften vom 9. Juni 1953 - im folgenden als "Ges." bezeichnet). Bei den Schriften handelt es sich um Jugendhefte mit Abenteurergeschichten in Form von bunten Bildreihen, die an Stelle eines zusammenhängenden Begleittextes sog. Sprech- oder Gedankenfahnen aufweisen, deren Inhalt sich meist auf die Wiedergabe von kurzen Ausrufen, von Angst- und Schreckenslauten oder von Gedanken und Empfindungen einer der dargestellten Personen beschränkt (sog. Comic-Strips oder Stripes, Comic Books). Der Angeklagte ist freigesprochen worden.
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Das Landgericht ist in Übereinstimmung mit den Gutachten der Sachverständigen zu dem Ergebnis gekommen, daß die Hefte Nr 2/54, 3/54 und 4/54 der Bildserien-Jugendzeitschrift "Tom Mix" und das Heft Nr 72 der 2. Piccolo-Bildserie "El Bravo - Das rote Haus" im Sinne des § 1 Ges. Jugendliche sittlich gefährden, weil sie eine "Fülle von Gewalttaten mit einem erheblichen Grad von Primitivität, Roheit und Gemeinheit" (wie Fesselungsszenen, grausame Handlungen gegen eine Frau, ![]() ![]() | 3 |
Im Gegensatz zu den Gutachten der Sachverständigen verneint das Landgericht indes die schwere sittliche Jugendgefährdung und die Offensichtlichkeit dieser Gefährdung, - zwei Tatbestandsmerkmale, bei deren Vorliegen die Schriften den in den §§ 3 - 5 Ges. aufgestellten Werbe- und Vertriebsbeschränkungen unterworfen sind, ohne daß es einer Aufnahme in die Liste der jugendgefährdeten Schriften und einer entsprechenden Bekanntmachung bedarf (§ 6 Abs. 1, vgl. §§ 1, 11 ff., 19 Ges.). Die Erwägungen, mit denen die Strafkammer ihre Auffassung begründet hat, unterliegen jedoch, wie die Revision zutreffend rügt, rechtlichen Bedenken.
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1. Zum Tatbestandsmerkmal der schweren sittlichen Gefährdung (vgl. dazu das Urteil des 5. Strafsenats BGHSt 8, 125)
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a) Ob Schriften im Sinne der §§ 1, 6 Ges. geeignet sind, Jugendliche, sittlich zu gefährden, ist, wie sich aus Inhalt- und ![]() ![]() | 6 |
b) Von dieser Begriffsbestimmung aus ist es aus Rechtsgründen nicht zu beanstanden, daß das Landgericht ausführt, die Bildstreifenhefte seien nicht ohne Rücksicht auf ihren bildlichen oder textlichen Inhalt allein deshalb als schwer jugendgefährdend im Sinne des § 6 Ges. anzusehen, weil sie wegen ihrer Geistlosigkeit, Geschmacklosigkeit und Plattheit die Entwicklung des Gefühls der Jugendlichen für das ästhetisch Schöne erheblich gefährdeten und weil diese bedauerliche Wirkung auch die sittliche Entwicklung der Jugendlichen ungünstig beeinflussen könnte. Denn eine geistige Verarmung braucht, wie die Strafkammer ohne Rechtsirrtum darlegt, noch nicht zu einer sittlichen Entartung zu führen. Der Begriff der sittlichen Gefährdung steht dem der gesundheitlichen Gefährdung des ![]() ![]() | 7 |
c) Rechtlichen Bedenken begegnet aber die Meinung des Landgerichts, die den Gegenstand dieses Verfahrens bildenden Schriften "Tom Mix" und "EI Bravo" könnten auch unter Berücksichtigung ihres in Roheiten und Gewalttaten bestehenden Inhalts deshalb nicht als sittlich schwer jugendgefährdend bezeichnet werden, weil das Maß der von ihnen ausgehenden sittlichen Gefährdung nicht größer sei als der ungünstige Einfluß, den zahllose andere auf dem Markte befindlichen Druckschriften ähnlicher Art und die "übrigen, teilweise wirtschaftlich und soziologisch bedingten negativen Zeiterscheinungen, sowie Wildwest- und Kriminalfilm, Illustrierte mit oft sehr offenherzigen Frauenabbildungen" auf Jugendliche ausübten; ![]() ![]() | 8 |
Bei dem Hinweis auf die schädlichen Wirkungen anderer fragwürdiger Druckerzeugnisse, schlechter Filme und sonstiger unerfreulicher Erscheinungen der heutigen Zeit verkennt die Strafkammer, daß die Schwere der von einer Schrift oder Schriftenreihe ausgehenden sittlichen Gefährdung nicht danach beurteilt werden kann und darf, ob noch andere verderbliche Einflüsse derselben oder ähnlichen Art vorhanden sind oder nicht. Ebenso wie der sittliche Unwert einer Schrift um nichts dadurch vermindert wiord, daß noch zahlreiche andere minderwertige Schriften im Handel sind, kann auch die der Schrift innewohnende Gefährlichkeit für die Jugend nicht deshalb geringer bewertet werden, weil die Jugendlichen durch diese anderen Schriften oder sonstigen Einflüsse in ihrer sittlichen Entwicklung möglicherweise in gleichem Maße gefährdet werden. Der Vergleich mit schlechten Filmen oder andwren Mitteln der heutigen Massenunterhaltung fällt im übrigen schon deshalb zuungunsten der sog. Verbrecher-Comics aus, weil der Jugendliche die Bildstreifenhefte jederzeit zur Hand hat und immer wieder betrachten kann und weil es ihm die Billigkeit der Hefte und die vielen Tauschgelegenheiten ermöglichen, in kurzer Zeit eine Vielzahl von gleichartigen Bilddarstellungen mit einer Vielfalt von verbrecherischen Handlungen auf sich einwirken zu lassen.
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Das Landgericht meint ferner, daß Schriften der genannten Art keine schädliche Dauerwirkung auslösten, weil sie von jungen Menschen erfahrungsgemäß nur in einem bestimmten Alter gelesen würden. Damit übersieht es zwei Gesichtspunkte: Nämlich erstens, daß junge Menschen gerade in den Lebensjahren, in denen sie die Bildstreifenhefte am meisten lesen, Gefahr laufen, in den die Phantasie aufreizenden Bildern die Wiedergabe wirklicher Geschehnisse zu sehen und sich, teilweise sogar in einer unmittelbare Tatstimmung erzeugenden Weise, weit ![]() ![]() | 10 |
Schließlich darf auch nicht außer Acht gelassen werden, daß die Bildstreifenhefte infolge ihres häufigen Erscheinens, ihrer großen Verbreitung und der ihnen eigenen starken Anziehungs- und Gewöhnungskraft von den jugendlichen in Massen "verschlungen" werden (vgl. die Entscheidung der Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Schriften vom 9. Juli 1954, abgedruckt im Zentralblatt für Jugendrecht und Jugendwohlfahrt 1954 S. 242 f.). Das hat notwendig eine Vertiefung der durch die Hefte vermittelten Eindrücke zur Folge.
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Die Frage, ob Schriften Jugendliche sittlich schwer gefährden, ist auch nicht danach zu beurteilen, ob bei der Mehrzahl der Jugendlichen schwere Schädigungen festzustellen sind oder ob bisher nur ein geringer Teil der Jugendlichen durch schlechtes Schrifttum zum strafbaren Verhalten veranlaßt worden ist. Die Voraussetzungen des § 6 Ges. können nicht mit dem Hinweis darauf verneint werden, daß nur eine verhältnismäßig geringe Zahl ohnehin anfälliger junger Menschen den schädlichen Einflüssen jugendgefährdenden Schrifttums erliege. Entscheidend ist allein, ob eine Schrift oder Schriftenreihe die Bereitschaft junger Menschen zu strafbaren Handlungen oder zu anderen Verfehlungen erzeugt oder ![]() ![]() | 12 |
2. Zum Merkmal der Offensichtlichkeit der schweren sittlichen Gefährdung
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Das Landgericht hat die Freisprechung des Angeklagten auch darauf gestützt, daß die im Eröffnungsbeschluß und im Nachtragsbeschluß aufgeführten Schriften Jugendliche keinesfalls offensichtlich schwer gefährdeten. Die Begründung, die es hierfür gibt, ist schon deshalb nicht frei von rechtlichen Bedenken, weil auch hier der unter 1 c abgelehnte Gedanke verwertet ist, daß man davon ausgehen könne, der durchschnittliche Jugendliche werde derartige Schriften ohne bleibenden sittlichen Schaden lesen oder betrachten und in absehbarer Zeit davon ablassen, ohne einer dauernden Sucht zu verfallen. Im übrigen ist bei der Auslegung jenes Tatbestandsmerkmals vom Wortsinn auszugehen, wonach "offensichtlich" ist, was klar zutage liegt und deshalb für jedermann ohne besondere Mühe erkennbar ist (vgl. Becker-Seidel, Erläuterungsbuch zum Ges. 1953 Anm. 1 zu § 6; Riedel, Erläuterungsbuch zum Ges. 1953 Anm. 2 zu § 6; Potrykus, Kommentar zu den Bundesgesetzen zum Schutz der Jugend in der Öffentlichkeit und über die Verbreitung jugendgefährdender Schriften 1954 S 210). Dabei bedarf jedoch der Begriff "jedermann" insofern einer gewissen Einschränkung, als nicht, wie das Landgericht meint, das Urteil des beliebigen Durchschnittsbürgers\'ab maßgebend sein muß, sondern das Urteil des für Jugenderziehung und Jugendschutz aufgeschlossenen Lesers, der die Wirkungen guten und ![]() ![]() | 14 |
3. Zum inneren Tatbestand
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Die Fehler, die bei der Auslegung des äußeren Tatbestandes des § 6 Ges. begangen sind, zwingen zur Aufhebung des angefochtenen Urteils, obwohl die Strafkammer hilfsweise festgestellt hat, daß dem Angeklagten auch keine Fahrlässigkeit nachzuweisen sei. Es ist nicht auszuschließen, daß die Rechtsirrtümer, die die äußere Tatseite betreffen, die Beurteilung des inneren Tatbestands beeinflußt haben.
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Im übrigen halten auch die Ausführungen, mit denen das Landgericht fahrlässiges Handeln des Angeklagten verneint hat, der rechtlichen Nachprüfung nicht stand. So ist es ohne nähere Begründung nicht verständlich, warum der Angeklagte, wenn er unwiderlegbar die in Frage stehenden Bildstreifenhefte nach der Anlieferung auf ihren Inhalt durchgesehen hat, nicht erkennen konnte und mußte, daß diese bildlichen Darstellungen eine "Fülle von Gewalttaten mit einem erheblichen Grade von Primitivität, Roheit und Gemeinheit" enthielten und deshalb in hohem Maße geeignet waren, auf junge Menschen verrohend und verbrechenfördernd zu wirken. Zu dieser Erkenntnis bedurfte es weder einer "erheblichen Sachkenntnis auf ![]() ![]() | 17 |
Zu der Pflicht des Angeklagten als Zeitschriftenhändlers, die von ihm zum Weiterverkauf bezogenen Jugendzeitschriften daraufhin zu prüfen, ob sie Jugendliche sittlich schwer gefährden, ist im übrigen folgendes zu bemerken: Der Angeklagte durfte sich nicht darauf beschränken, die Schriften daraufhin durchzusehen, ob sie unzüchtige Bilder enthielten; er mußte unter der Geltung des Ges. auch darauf achten, ob die Schriften jugendliche in anderer Weise sittlich schwer gefährden konnten. Diese Pflicht lag ihm besonders bei Bildstreifenheften ob, die, wie allgemein bekannt ist, zu einem großen Teil Gewalttaten und Roheitsakte bildlich darstellen. Angesichts der großen Bedeutung, die dem Schutz der Jugend vor verderblichem Schrifttum zukommt, muß von einem verantwortungsbewußten Zeitschriftenhändler ferner verlangt werden, daß er Schriften, deren einwandfreien Inhalt er nicht wegen des anerkannten Rufs des Verlags oder auf Grund sonstiger, ihm bekannter Umstände ohne weiteres voraussetzen kann, nicht nur oberflächlich "durchblättert", sondern mit der dem Anliegen des Jugendschutzes gebührenden Sorgfalt durchsieht (vgl. RGSt 37, 315 [317]). Diese Forderung muß besonders dann erhoben werden, wenn eine Schriftenreihe für die Jugend bestimmt ist und von dieser in Massen gekauft wird, keinen erzieherischen oder anderen anerkennenswerten Zweck verfolgt ![]() ![]() | 18 |
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