BVerfGE 95, 189 - Steiner | |||
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Bearbeitung, zuletzt am 24.03.2022, durch: A. Tschentscher | |||
Beschluß |
des Ersten Senats vom 5. Februar 1997 |
-- 1 BvR 2306, 2314/96 -- |
in den Verfahren über die Verfassungsbeschwerden 1. des Herrn Dr. F... ... |
Entscheidungsformel: |
Die Selbstablehnung des Richters Steiner wird für begründet erklärt. |
Gründe: | |
I. | |
1. Die Beschwerdeführer sind Ärzte, der Beschwerdeführer zu 1) ist Arzt für Gynäkologie und Geburtshilfe. Sie wenden sich mit ihren Verfassungsbeschwerden unmittelbar gegen Vorschriften des bayerischen Gesetzes über ergänzende Regelungen zum Schwangerschaftskonfliktgesetz und zur Ausführung des Gesetzes zur Hilfe für Frauen bei Schwangerschaftsabbrüchen in besonderen Fällen (Bayerisches Schwangerenhilfeergänzungsgesetz - BaySchwHEG) vom 9. August 1996 (BayGVBl. S. 328). Nach den angegriffenen Vorschriften ist unter anderem eine Erlaubnis für Arztpraxen und private Krankenhäuser, die Schwangerschaftsabbrüche durchführen, erforderlich (Art. 2 i.V.m. Art. 3 Abs. 1, Art. 1 Abs. 2 BaySchwHEG). Gemäß Art. 5 Abs. 1 des Gesetzes dürfen Schwangerschaftsabbrüche grundsätzlich nur von Fachärzten für Frauenheilkunde und Geburtshilfe vorgenommen werden. Die Einnahmen aus den in der Einrichtung je Kalenderjahr vorgenommenen Schwangerschaftsabbrüchen, für deren Vornahme die Einrichtung einen Zahlungsanspruch gegen die Schwangere selbst hat oder die nach dem Gesetz zur Hilfe für Frauen bei Schwangerschaftsabbrüchen in besonderen Fällen vom 21. August 1995 (BGBl. I S. 1054) abgerechnet werden, dürfen ein Viertel der aus der gesamten Tätigkeit der Einrichtung erzielten Einnahmen nicht übersteigen (Art. 5 Abs. 2 BaySchwHEG). Durch Art. 11 Nr. 1 BaySchwHEG wurde das bayerische Gesetz über die Berufsausübung, die Berufsvertretungen und die Berufsgerichtsbarkeit der Ärzte, Zahnärzte, Tierärzte und Apotheker (Heilberufe-Kammergesetz - HKaG) geändert. Nach dem neugefaßten Art. 18 Abs. 2 HKaG müssen Ärzte ihre Mitwirkung an einem Abbruch einer Schwangerschaft unter anderem ablehnen, wenn die Frau die Beweggründe für ihr Verlangen nach Abbruch der Schwangerschaft nicht dargelegt hat.
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2. Bundesverfassungsrichter Steiner hat den Senat gebeten, ihn gemäß § 19 Abs. 3 BVerfGG von einer Mitwirkung an der Entscheidung über die Verfassungsbeschwerden zu entbinden. Er sei in den Normenkontrollverfahren, über die das Bundesverfassungsgericht mit Urteil vom 28. Mai 1993 (BVerfGE 88, 203) entschieden habe, Verfahrensbevollmächtigter der Bayerischen Staatsregierung als Antragstellerin gewesen. In diesen Verfahren und in engem Zusammenhang mit ihnen habe er schriftlich und mündlich die Auffassung vertreten, daß der Staat mit einer gesetzlichen Regelung, die die Vornahme von Schwangerschaftsabbrüchen Fachärzten für Frauenheilkunde und Geburtshilfe vorbehält, seiner grundgesetzlichen Schutzpflicht gegenüber der Frau und gegenüber dem ungeborenen Leben nachkomme. Weiter habe er in einer gesetzlichen Regelung; die den Anteil der Schwangerschaftsabbrüche an der Gesamtheit der individuellen ärztlichen Tätigkeit begrenzt, einen wirksamen Beitrag zum Lebensschutz gesehen. Die mit den Verfassungsbeschwerden angegriffenen Vorschriften stimmten in der Sache mit diesen Vorstellungen überein. Daraus könnten sich Zweifel an seiner Unbefangenheit ergeben.
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Der Beschwerdeführer zu 1) hat erklärt, weder er noch seine Prozeßbevollmächtigte hätten Einwände gegen die Mitwirkung des Richters Steiner gehabt. Es stehe ihnen jedoch nicht zu, sich über die von ihm geäußerten Zweifel an seiner Unbefangenheit hinwegzusetzen. Der Beschwerdeführer zu 2) unterstützt die Bitte des Richters. Er ist der Auffassung, bei einer Mitwirkung könnte sich Unbeteiligten der Eindruck aufdrängen, daß der Richter nicht unbefangen sei.
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II. | |
1. Bei der Erklärung des Richters Steiner handelt es sich um eine Selbstablehnung im Sinne des § 19 Abs. 3 BVerfGG. Diese Regelung setzt nicht voraus, daß der Richter sich selbst für befangen hält. Es genügt, daß er Umstände anzeigt, die Anlaß geben, eine Entscheidung über die Besorgnis seiner Befangenheit zu treffen (vgl. BVerfGE 88, 1 [3]). Die Erklärung läßt erkennen, daß der Richter eine Senatsentscheidung über die Besorgnis seiner Befangenheit für erforderlich hält. Die mitgeteilten Umstände geben hierzu auch objektiv Anlaß.
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2. Die Selbstablehnung ist begründet.
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a) Besorgnis der Befangenheit besteht, wenn ein am Verfahren Beteiligter bei vernünftiger Würdigung aller Umstände Anlaß hat, an der Unvoreingenommenheit des Richters zu zweifeln (BVerfGE 82, 30 [38]; stRspr). Zwar können wissenschaftliche Äußerungen zu einer für das Verfahren bedeutsamen Rechtsfrage für sich genommen kein Befangenheitsgrund sein Anlaß zu Zweifeln an der Unvoreingenommenheit des Richters für die Verfahrensbeteiligten kann jedoch bestehen, wenn die wissenschaftliche oder berufliche Tätigkeit die Unterstützung eines Verfahrensbeteiligten bezweckte. Dies hat der Senat für die Übernahme eines Auftrags zur Erstattung eines Rechtsgutachtens bereits entschieden (BVerfGE 88, 1 [4]). Gleiches gilt, wenn ein Richter Äußerungen zu verfassungsrechtlichen Fragen als Bevollmächtigter eines an einem früheren Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht Beteiligten abgegeben hat und der in dem früheren Verfahren verfolgte Rechtsstandpunkt auch in anhängigen Verfahren von wesentlicher Bedeutung ist.
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b) Ein solcher Fall ist hier gegeben. Richter Steiner war in den Normenkontrollverfahren zur verfassungsrechtlichen Prüfung der den Schwangerschaftsabbruch regelnden Vorschriften, die zur Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 28. Mai 1993 (BVerfGE 88, 203) führten, für die Bayerische Staatsregierung als Bevollmächtigter tätig. Die Bayerische Staatsregierung hielt die damalige Regelung über Schwangerschaftsabbrüche unter anderem deshalb für verfassungswidrig, weil sie den verfassungsrechtlichen Anforderungen an einen wirksamen Schutz des ungeborenen Lebens nicht genüge, und den Gesetzgeber für verpflichtet, eine Nachbesserung vorzunehmen (vgl. BVerfGE 88, 203 [231 f.]. Auch der Richter selbst hat nach eigener Einschätzung mit seinen damaligen Äußerungen beabsichtigt, entsprechende gesetzgeberische Aktivitäten anzustoßen. Der Bundesgesetzgeber ist dem allerdings im Schwangeren- und Familienhilfeänderungsgesetz - SFHÄndG - vom 21. August 1995 [BGBl. I S. 1050] nicht gefolgt. Die mit den Verfassungsbeschwerden angegriffenen Vorschriften des Bayerischen Schwangerenhilfeergänzungsgesetzes sollen nach der Begründung des Gesetzentwurfs der Bayerischen Staatsregierung - auch - dazu dienen, Regelungsaufträge des Bundesverfassungsgerichts zu erfüllen, derer sich der Bundesgesetzgeber nicht angenommen habe [vgl. LTDrucks 13/4961, S. 1, 11]. Die Vorschriften entsprechen der damals von Richter Steiner geäußerten Auffassung. Unter diesen Umständen ist die Besorgnis, daß er die hier streitigen Rechtsfragen nicht mehr offen und unbefangen beurteilen werde, nachvollziehbar.
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Seidl, Grimm, Kühling, Seibert, Jaeger, Haas, Hömig | |
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