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Bearbeitung, zuletzt am 15.03.2020, durch: Philippe Dietschi | |||
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23. Auszug aus dem Urteil der I. sozialrechtlichen Abteilung i.S. EXFOUR Familienausgleichskasse und Mitb. gegen Kanton Luzern (Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten) |
8C_366/2008 vom 1. April 2009 | |
Regeste |
Art. 3 Abs. 2 und Art. 17 Abs. 2 lit. k FamZG; § 18 des Gesetzes des Kantons Luzern vom 8. September 2008 über die Familienzulagen (FamZG/LU); Lastenausgleich. Die Beiträge, welche gestützt auf Art. 11 ff. FamZG erhoben werden, dürfen nicht dazu dienen, auf kantonalem Recht beruhende Familienzulagen für (nichtlandwirtschaftliche) Selbstständigerwerbende im Rahmen eines allfälligen Lastenausgleichs nach Art. 17 Abs. 2 lit. k FamZG mitzufinanzieren (E. 6). |
Art. 5 Abs. 2 BV; Art. 17 Abs. 2 lit. f und k FamZG; § 20 Abs. 4 Satz 2 des Gesetzes des Kantons Luzern vom 8. September 2008 über die Familienzulagen (FamZG/LU); administrative Massnahme. Die Kantone können Massnahmen bei nicht rechtzeitiger Einreichung der erforderlichen Angaben für einen allfälligen Lastenausgleich nach Art. 17 Abs. 2 lit. k FamZG vorsehen; sie sind dabei nicht an die Mahn- und Verzugszinsordnung der AHV gebunden. Der Zuschlag von 50 % gemäss § 20 Abs. 4 FamZG/LU ist nicht verhältnismässig im Sinne von Art. 5 Abs. 2 BV (E. 7). | |
Sachverhalt | |
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Aus den Erwägungen: | |
5. Das angefochtene kantonale Familienzulagengesetz (Gesetz vom 8. September 2008 über die Familienzulagen [FamZG/LU; SRL 885]) stützt sich auf das Bundesgesetz vom 24. März 2006 über die ![]() ![]() | 2 |
Als Ausfluss von Art. 191 BV kann das Bundesgericht einen kantonalen Hoheitsakt nicht aufheben, soweit dessen Inhalt durch ein Bundesgesetz vorgegeben bzw. abgedeckt ist, namentlich dann nicht, wenn der Bundesgesetzgeber eine Materie an die Kantone delegiert und ihnen vorgegeben hat, wie sie diese zu regeln haben. Der Zusammenhang zwischen der kantonalen und der bundesgesetzlichen Regelung muss dabei zwingend oder zumindest sehr eng sein. Soweit die Kantone frei sind, eigene Regelungen zu schaffen, unterliegt das kantonale Recht uneingeschränkt der Verfassungsgerichtsbarkeit, selbst wenn es gleich lautet wie parallele Regelungen im Bundesrecht (BGE 130 I 26 E. 2.2.2 S. 33 mit Hinweisen).
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Erwägung 6.2 | |
6.2.1 Das Bundesgesetz über die Familienzulagen geht auf die parlamentarische Initiative Fankhauser zurück, welche für jedes Kind eine Kinderzulage und einen gesamtschweizerischen Lastenausgleich forderte (vgl. etwa Bericht der Kommission für soziale ![]() ![]() | 6 |
6.2.2 Die Einführung eines kantonalen Lastenausgleichs widerspricht Art. 15 FamZG nicht. Diese Norm berechtigt die Familienausgleichskassen, die Familienzulagen zuzusprechen und auszurichten, die Beiträge im Rahmen der kantonalen Ordnung festzusetzen und zu erheben sowie Verfügungen und Einspracheentscheide zu erlassen. Die Einzelheiten der mit Art. 15 FamZG den Familienausgleichskassen zugewiesenen Aufgaben regelt der Kanton gestützt auf Art. 17 FamZG (vgl. dazu AB 2005 S 720). Entgegen der in den Beschwerden zum Ausdruck kommenden Selbsteinschätzung vertreten die Verbandsfamilienausgleichskassen weder die Berufsverbände noch die Arbeitgeber und verfolgen auch nicht deren Interessen. Obwohl sie von Berufsverbänden gegründet wurden, sind sie von diesen losgelöste und unabhängige Sozialversicherungsträger und keine privaten Unternehmen (vgl. dazu HELEN MONIOUDIS, Die Organisation ausgewählter Sozialversicherungszweige und die rechtliche Stellung der Sozialversicherungsträger, 2003, S. 179). Die Familienzulagen gemäss FamZG sind denn auch nicht (mehr) eine blosse Lohnzulage, sondern - vergleichbar mit der obligatorischen beruflichen Unfallversicherung (Art. 91 Abs. 1 UVG [SR 832.20]) - ein fast ausschliesslich (vgl. Art. 17 Abs. 2 lit. j FamZG) von Arbeitgeberseite finanzierter Bundessozialversicherungszweig. So unterstellt Art. 1 FamZG die Familienzulagen dem ATSG (SR 830.1; vgl. dazu auch KIESER/SANER, Bundesgesetz über die Familienzulagen [FamZG] - Eine kritische Würdigung, SZS 2007 S. 419). Im Rahmen der parlamentarischen Beratungen wurde auch auf den durch das FamZG veränderten Charakter der Familienzulagen hingewiesen (vgl. etwa AB 2005 S 722). Aufgabe der ![]() ![]() | 7 |
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6.2.4 Schliesslich können die Beschwerdeführer auch aus einem Vergleich mit der Regelung im Rahmen der AHV nichts zu ihren Gunsten ableiten, kennt doch diese nicht nur einen kantonalen, sondern einen gesamtschweizerischen Lastenausgleich, welcher über den ![]() ![]() | 9 |
Erwägung 6.3 | |
6.3.1 Der ursprüngliche Entwurf zum Bundesgesetz über die Familienzulagen erfasste - dem Leitsatz der Parlamentarischen Initiative (Ein Kind, eine Zulage) folgend - auch die Selbstständigerwerbenden (Bericht, BBl 1999 3234 Ziff. 22 zu Art. 17 ff. E-FamZG, und Zusatzbericht, BBl 2004 6906 Ziff. 3.2.3.1). Auf Bestreben des ![]() ![]() | 10 |
Gemäss Art. 3 Abs. 2 FamZG können die Kantone höhere Kinder- und Ausbildungszulagen sowie Geburts- und Adoptionszulagen vorsehen; auf diese Zulagen finden ebenfalls die Bestimmungen des FamZG Anwendung. Andere als die genannten Leistungen müssen ausserhalb dieser Familienzulagenordnung geregelt und finanziert werden (vgl. auch Zusatzbericht, BBl 2004 6902 Ziff. 3.2.2, und AB 2005 S 714).
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6.3.2 Nach dem Gesagten können die Kantone Familienzulagen für Selbstständigerwerbende vorsehen. Da die Selbstständigerwerbenden jedoch nicht dem FamZG unterstellt sind, handelt es sich bei ihrem Anspruch auf Familienzulagen um rein kantonales Sozialversicherungsrecht, welcher ausserhalb der Familienzulagenordnung gemäss FamZG zu regeln und zu finanzieren ist (vgl. dazu auch Protokoll der Kommission für soziale Sicherheit und Gesundheit des Ständerates vom 23. Januar 2006, S. 8; AB 2006 S 99 sowie Erläuternder Bericht des EDI zum Entwurf der FamZV, S. 16). Da die Selbstständigerwerbenden somit nicht Teil der Solidargemeinschaft im Rahmen des FamZG und des darauf beruhenden kantonalen Rechts sind, können sie auch nicht in den Lastenausgleich im Sinne von Art. 17 Abs. 2 lit. k FamZG miteinbezogen werden. Demnach dürfen - entgegen den Absichten des Kantons Luzern (vgl. Botschaft des Regierungsrates an den Kantonsrat vom 22. April 2008 zum Entwurf eines neuen Gesetzes über die Familienzulagen, S. 15, sowie explizit in § 20 Abs. 2 FamZG/LU) - die gestützt auf das FamZG und das darauf beruhende kantonale Recht bei den Arbeitgebern erhobenen Beiträge nicht über den Lastenausgleich zur Finanzierung der Familienzulagen für Selbstständigerwerbende verwendet werden. Diese von den Arbeitgebern auf der AHV-pflichtigen Lohnsumme ihrer Arbeitnehmenden erhobenen Beiträge dürfen nur zur Finanzierung der im FamZG vorgesehenen Leistungen an Arbeitnehmende eingesetzt werden. Art. 17 Abs. 2 lit. k FamZG ist keine gesetzliche Grundlage für den Lastenausgleich zwischen bundesrechtlich vorgesehenen Zulagen im Rahmen des Systems des FamZG und auf bloss kantonalem Recht beruhenden Zulagen für Selbstständigerwerbende, welche ausserhalb dieses Systems stehen. Somit ist die in § 18 erwähnte, vom Regierungsrat vorgesehene und vom Kantonsrat mit § 19 ff. FamZG/LU festgesetzte ![]() ![]() | 12 |
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Erwägung 6.4 | |
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6.4.2 § 18 FamZG/LU steht zwar bei einer Umsetzung im Sinne des Regierungs- und Kantonsrates nicht in Einklang mit dem Bundesrecht, doch ist eine bundesrechtskonforme Auslegung in dem Sinne möglich, als der Kanton Luzern den in § 19 ff. FamZG/LU ![]() ![]() | 15 |
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Erwägung 7.2 | |
7.2.1 Nach Art. 17 Abs. 2 lit. f FamZG regeln die Kantone die Aufgaben und Pflichten der Familienausgleichskassen und ![]() ![]() | 18 |
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7.3.2 Die Verhältnismässigkeit nach Art. 5 Abs. 2 BV ist kein verfassungsmässiges Recht, sondern lediglich ein verfassungsmässiges Prinzip. Es kann auch bezüglich kantonalem Recht selbstständig geltend gemacht werden. Ausserhalb von Grundrechtseingriffen erfolgt vor Bundesgericht im Rahmen von Art. 95 lit. a BGG jedoch lediglich eine Prüfung auf Willkür (BGE 134 I 153 E. 4 S. 156, Urteile 2C_81/2008 vom 21. November 2008 E. 5.1 und 2C_444/2007 vom 4. April 2008 E. 2.2). Das Bundesgericht auferlegt sich nach ständiger Praxis bei der abstrakten Normenkontrolle aus föderalistischen Gründen im Rahmen der Kognition eine gewisse Zurückhaltung (AEMISEGGER/SCHERRER, a.a.O., N. 66 zu Art. 82 BGG).
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7.3.4 Die Beschwerdeführer bestreiten nicht, dass der kantonale Gesetzgeber ein Verfahren bei nicht rechtzeitiger Mitteilung der für den Lastenausgleich notwendigen Angaben festlegen muss. Die strittige Regelung ist somit erforderlich. Die Verwendung der Vorjahreszahlen sowie der Zuschlag von 50 % sind auch geeignet, die Familienausgleichskassen anzuhalten, diese Angaben rechtzeitig zu liefern. Hingegen steht der Zuschlag von 50 % in einem Missverhältnis zu den übrigen zu berücksichtigenden Interessen. Einerseits stellt dieser Zuschlag von 50 % bei der AHV-pflichtigen Lohnsumme keine Entschädigung für die durch die nicht rechtzeitige Einreichung der Angaben entstandenen Umtriebe, sondern de facto eine Busse dar. Denn nach allgemeiner Lebenserfahrung ist es nicht möglich, dass sich die AHV-pflichtige Lohnsumme einer ![]() ![]() | 23 |
Dieses Missverhältnis der Regelung zeigt sich auch bei Betrachtung der masslichen Auswirkungen: Gemäss dem in der Botschaft des Regierungsrates vom 22. April 2008 auf S. 21 dargelegten Modell für den Lastenausgleich bewegen sich bei Zugrundelegung der Zahlen von 2006 die von den Familienausgleichskassen geschuldeten Ausgleichszahlungen zwischen Fr. 27'731.- und Fr. 930'600.-; erhöht sich nun für die Ermittlung des individuellen Risikosatzes das Total der AHV-pflichtigen Lohnsumme um 50 %, ergibt sich bei gleich bleibendem Total der ausgerichteten Zulagen eine um diese 50 % höhere geschuldete Ausgleichszahlung. Das kann bei Ausgleichszahlungen im genannten Rahmen einen fünf- oder sechsstelligen Betrag ausmachen. Derartige Beträge stehen jedoch in einem krassen Missverhältnis zu den infolge der verspäteten Mitteilung entstandenen Umtriebe. Andererseits werden die Zahlen des Lastenausgleichs auch bei Nachlieferung der nötigen Daten nicht nachträglich angepasst, so dass der für das jeweilige Jahr geltende, infolge des fiktiven Zuschlags von 50 % bei der AHV-pflichtigen Lohnsumme verzerrte und damit verfälschte Lastenausgleich weiter bestehen bleibt.
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Weiter fällt auf, dass § 20 Abs. 4 Satz 2 FamZG/LU keinerlei Ausnahmen zulässt und keine dem Einzelfall angepasste Handhabung erlaubt. Daran ändert auch der Umstand nichts, dass die Verwendung der Vorjahreszahlen mit einem Zuschlag von 50 % bei der AHV-pflichtigen Lohnsumme jeweils nur für ein Jahr gilt. Ebenso unbehelflich ist die Berufung auf den analogen Zuschlag von 50 % in Art. 14bis Abs. 1 AHVG; denn dort wird mit diesem Zuschlag ein strafrechtlich relevantes Verhalten (Schwarzarbeit) sanktioniert (vgl. Art. 14bis Abs. 2 AHVG), welches keineswegs vergleichbar ist mit der hier strittigen unterlassenen rechtzeitigen Einreichung notwendiger Angaben.
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Ein Blick in andere kantonale Regelungen zeigt, dass die übrigen Kantone, welche einen kantonalen Lastenausgleich kennen, keine speziellen Massnahmen zur Sicherstellung der rechtzeitigen Mitteilung zur Durchführung des Lastenausgleichs vorsehen. Einzig im Kanton Solothurn wird auf die nicht rechtzeitige Einreichung der erforderlichen Angaben Bezug genommen, spezielle Massnahmen gegenüber der fehlbaren Familienausgleichskasse werden indessen ![]() ![]() | 26 |
Nach dem Gesagten ist der Zuschlag von 50 % zur AHV-pflichtigen Lohnsumme in § 20 Abs. 4 Satz 2 FamZG/LU nicht verhältnismässig im Sinne von Art. 5 Abs. 2 BV. Seine Anwendung ist für die Durchsetzung des gewünschten Erfolges nicht nötig, führt zu einem verzerrten Ergebnis, wirkt sich auf die Rechtsunterworfenen völlig unverhältnismässig aus und ist daher willkürlich.
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7.4 Wie bereits in E. 6.4 dargelegt, erfolgt eine Aufhebung einer kantonalen Norm im Rahmen der abstrakten Normenkontrolle nur, wenn eine rechtskonforme Auslegung schlicht nicht möglich ist. Im hier zu beurteilenden Fall ist angesichts des eindeutigen Wortlauts, welcher keinen Spielraum für mildere Massnahmen belässt, keine bundesrechtskonforme Auslegung möglich. § 20 Abs. 4 Satz 2 FamZG/LU ist demnach aufzuheben, soweit er einen Zuschlag von 50 % zur AHV-pflichtigen Lohnsumme vorsieht. ![]() | 28 |
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