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Bearbeitung, zuletzt am 15.03.2020, durch: Rainer M. Christmann, A. Tschentscher | |||
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AusIG § 10 Abs. 1 Nr. 2; AufenthG/EWG § 12 Abs. 1, 3, 4; StGB § 56 Abs. 1; EWGV Art. 48 Abs. 3 |
Urteil |
des 1. Senats vom 27. Oktober 1978 |
-- BVerwG 1 C 91.76 -- |
I. Verwaltungsgericht München |
II. Verwaltungsgerichtshof München | |
Der im Jahre 1932 geborene Kläger ist italienischer Staatsangehöriger. Er ist mit einer Italienerin verheiratet und hat vier zwischen 1956 und 1974 geborene Kinder. Er kam im Jahre 1962 in die Bundesrepublik Deutschland. Seine Familie folgte ihm alsbald. Ihm wurde die Aufenthaltserlaubnis erteilt und in der Folgezeit verlängert. Der Kläger steht in einem Beschäftigungsverhältnis. Auch seine Ehefrau ist als Arbeitnehmerin berufstätig.
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Im Jahre 1966 wurde der Kläger wegen Verbrechens der Unzucht mit einem Kind angeklagt. Das Jugendschöffengericht sprach ihn 1967 aus Mangel an Beweisen frei. Ein Ermittlungsverfahren wegen Unzucht mit einem Kind stellte die Staatsanwaltschaft im November 1968 ein, weil keine konkreten Beweise vorlagen. Das Amtsgericht M. verurteilte den Kläger 1973 wegen eines Verbrechens der versuchten Unzucht mit einem Kind zu einer Freiheitsstrafe von sechs Monaten. Die Strafe wurde zur Bewährung ausgesetzt. Zum Strafausspruch führte das Amtsgericht aus: Zugunsten des Klägers habe es berücksichtigt, daß er mit Ausnahme einer Verurteilung wegen eines Verkehrsdelikts bisher nicht bestraft worden sei und im übrigen ein geordnetes Leben mit seiner Familie führe. Erschwerend sei ins Gewicht gefallen, daß die Tat an einem Platz verübt worden sei, in dessen Nähe sich mehrere Kinder befunden hätten. Danach sei eine Freiheitsstrafe von sechs Monaten schuldangemessen, zumal eine nachhaltige Schädigung des betroffenen Kindes nicht eingetreten sei. Die Strafe habe zur Bewährung ausgesetzt werden können, weil zu erwarten sei, daß der Kläger sich schon die Verurteilung zur Warnung dienen lassen und künftig auch ohne die Einwirkung des Strafvollzugs Straftaten nicht mehr begehen werde.
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Im Oktober 1973 wies das Landratsamt M. den Kläger aus der Bundesrepublik Deutschland aus, weil zu befürchten sei, daß der Kläger ![]() ![]() | 3 |
Die Behörden hätten ihre Entscheidung auf spezialpräventive Erwägungen gestützt. Daran seien sie nicht durch die Aussetzung der Strafe zur Bewährung gehindert gewesen. Die Ausweisung sei eine Maßnahme der Gefahrenabwehr. Sie habe einen anderen Zweck als eine gerichtliche Strafe und deren Aussetzung zur Bewährung. Nach § 10 Abs. 1 Nr. 2 des Ausländergesetzes stelle der wegen eines Vergehens oder Verbrechens bestrafte Ausländer eine abstrakte Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung dar. Die Ausweisung sei aber nur zulässig, wenn eine konkrete Gefahr weiterer Störungen vorliege. Beide Gefahrenbegriffe stellten die gleichen Anforderungen an die Wahrscheinlichkeit des Eintritts einer Störung. Bezüglich des Grades der Wahrscheinlichkeit sei jedoch nach dem jeweils auf dem Spiele stehenden Schutzgut zu differenzieren. Im Falle des Klägers gehe es um die öffentliche Sittlichkeit und den Schutz der Jugend. Dabei handele es sich um Güter von hohem Range. An den Nachweis weiterer Störungen dürften keine zu hohen Anforderungen gestellt werden. Der in Frage kommende Täterkreis neige erfahrungsgemäß zu Rückfällen. Die Aussetzung der Strafe zur Bewährung, die in erster Linie der erzieherischen Einwirkung auf den Verurteilten diene, bedeute nicht, daß die von diesem ausgehende Gefahr behoben sei.
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Die Revision des Klägers hatte Erfolg.
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Aus den Gründen: | |
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Auf den Kläger findet außerdem das Gesetz über Einreise und Aufenthalt von Staatsangehörigen der Mitgliedstaaten der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (AufenthG/EWG) vom 22. Juli 1969 (BGBl. I S. 927) Anwendung. Gemäß § 1 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG/EWG wird ihm Freizügigkeit nach diesem Gesetz gewährt. Das führt zu einer Einschränkung der Ausweisungsermächtigung des § 10 Abs. 1 Nr. 2 AusIG. Nach § 12 Abs. 1 AufenthG/EWG ist eine Ausweisung nur aus Gründen der öffentlichen Sicherheit oder Ordnung oder dann zulässig, wenn die Anwesenheit des Ausländers sonstige erhebliche Belange der Bundesrepublik Deutschland beeinträchtigt. Die Tatsache einer strafgerichtlichen Verurteilung genügt für sich allein nicht, eine Ausweisung zu begründen (§ 12 Abs. 4 AufenthG/EWG). Der Ausländer muß durch sein persönliches Verhalten zu der Ausweisung Anlaß geben, es sei denn, es handelt sich um eine zum Schutz der öffentlichen Gesundheit getroffene Maßnahme, was hier jedoch nicht der Fall ist (§ 12 Abs. 3 AufenthG/EWG).
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Die Vorschriften des AufenthG/EWG sind zur Durchführung der aufenthaltsrechtlichen Bestimmungen der Europäischen Gemeinschaften erlassen worden, insbesondere zur Durchführung des Art. 48 Abs. 3 des Vertrages zur Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft vom 25. März 1957 (BGBl. II S. 753, 766) - EWGV -, nach dem Einschränkungen der Freizügigkeit aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit gerechtfertigt sein müssen. Sie sind folglich im Sinne der entsprechenden gemeinschaftsrechtlichen Bestimmungen und der dazu ergangenen Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften - EuGH - auszulegen. Danach sind die Ausnahmen von dem Grundsatz der Freizügigkeit eng zu verstehen. Bei jeder Beschränkung der Freizügigkeit haben die Ausländerbehörden "die besondere Rechtsstellung der dem Gemeinschaftsrecht unterliegenden Personen und die entscheidende Bedeutung des Grundsatzes der Freizügigkeit zu berücksichtigen" (EuGH, Urteil vom 27. Oktober 1977, SIg. 1977, 1999 = NJW 1978, 479). Eine Beschränkung der Freizügigkeit setzt im Falle einer ![]() ![]() | 8 |
Danach ist in Fällen wie dem vorliegenden für eine Ausweisung eine konkrete Gefahr neuer Störungen der öffentlichen Sicherheit oder Ordnung durch den Ausländer erforderlich. Die Rechtsprechung des EuGH, nach der eine strafgerichtliche Verurteilung nur insoweit berücksichtigt werden darf, als sich aus ihr eine gegenwärtige Gefährdung der öffentlichen Ordnung ergibt, besagt zwar nicht, daß eine "gegenwärtige Gefahr" im Sinne des deutschen Polizeirechts vorliegen müßte, die voraussetzt, daß der Eintritt des Schadens sofort und fast mit Gewißheit zu erwarten ist (BVerwGE 45, 51 [58]). Es ist aber eine nach Maßgabe des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes zu beurteilende und deswegen nach dem Ausmaß des möglichen Schadens zu differenzierende (BVerwGE 45, 51 [611; 47, 32 [40]) hinreichende Wahrscheinlichkeit zu verlangen, daß der Ausländer künftig die öffentliche Sicherheit oder Ordnung stören wird. An die Wahrscheinlichkeit dürfen nach der dargelegten Rechtsprechung im Hinblick auf die Bedeutung des Grundsatzes der Freizügigkeit keine zu geringen Anforderungen gestellt werden. Das Erfordernis der schweren Gefährdung bezieht sich auch auf das Maß der Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts. Ob eine Wiederholungsgefahr in diesem Sinne besteht, kann grundsätzlich ![]() ![]() | 9 |
Für diese ausländerbehördliche Prüfung ist vor allem eine etwaige strafrichterliche Entscheidung über die Strafaussetzung zur Bewährung von Bedeutung. Nach der Rechtsprechung des Senats zu § 10 Abs. 1 Nr. 2 AusIG, die insoweit auf die nach § 12 AufenthG/EWG zu beurteiIenden Ausweisungen grundsätzlich anwendbar ist, besteht allerdings für die Ausländerbehörde unbeschadet dessen, daß sie in der Regel von der Richtigkeit der strafrichterlichen Entscheidung ausgehen darf, keine rechtliche Bindung an die tatsächlichen Feststellungen und an die Beurteilungen des Strafrichters (BVerwGE 35, 291 [294]; 48, 299 [301]; Beschluß vom 2. März 1978 - BVerwG 1 B 64.78 - Buchholz 402.24 § 10 AusIG Nr. 50 = DÖV 1978, 450). Das gilt auch bezüglich der Entscheidung über die Strafaussetzung zur Bewährung (Beschluß vom 29. Juli 1977 - BVerwG 1 B 137.77 - Buchholz aa0, Nr. 45 = NJW 1977, 2037 = DÖV 1978, 179). Trotzdem ist diese für die Ausländerbehörde von tatsächlichem Gewicht. Sie stellt eine wesentliche Entscheidungsgrundlage für die Beurteilung der Wiederholungsgefahr und damit zugleich für die Erforderlichkeit der Ausweisung dar. Die Ausländerbehörde wird zwar berücksichtigen, daß dem Strafrecht und dem Ausländerrecht weitgehend unterschiedliche Gesetzeszwecke zugrunde liegen. Sie muß aber der sachkundigen strafrichterlichen Prognose bei ihrer Beurteilung der Wiederholungsgefahr wesentliche Bedeutung beimessen und wird von ihr grundsätzlich nur bei Vorliegen überzeugender Gründe abweichen (Beschluß vom 29. Juli 1977 - BVerwG 1 B 137.77 - [aaO]). Solche können z. B. dann gegeben sein, wenn der Ausländerbehörde umfassenderes Tatsachenmaterial zur Verfügung steht, das genügend zuverlässig eine andere Einschätzung der Wiederholungsgefahr erlaubt.
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Somit kann dem Berufungsgericht nicht ohne weiteres darin gefolgt werden, daß die Strafaussetzung zur Bewährung kein Anzeichen für das Fehlen einer Wiederholungsgefahr sei. Die Strafaussetzung zur Bewährung kann ergeben, daß eine die Ausweisung rechtfertigende Wiederholungsgefahr nicht vorliegt, braucht es aber nicht.
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Daß bestimmte Deliktsgruppen eher Rückfälle nahelegen als andere und daß dies vor allem bei Sexualdelikten Erwachsener der Fall sein mag, steht dem Ausgeführten ebenfalls nicht entgegen. Solche Deliktsgruppen ![]() ![]() | 13 |
Von der Regel, daß die begründete Erwartung künftiger Straflosigkeit im Sinne des § 56 Abs. 1 StGB mit einer die Ausweisung nach § 12 AufenthG/EWG rechtfertigenden Wiederholungsgefahr nicht vereinbar ist, lassen sich jedoch Ausnahmen nicht ausschließen. Sie kommen vor allem dann in Betracht, wenn wegen der Schwere des möglichen Schadens die ausländerbehördliche Maßnahme geringere Anforderungen an die Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts voraussetzt. Wenn unter solchen Umständen Strafaussetzung überhaupt gewährt werden sollte, kann im Einzelfall trotzdem eine die Ausweisung zulassende Wiederholungsgefahr zu bejahen sein. Das kann vor allem bei Verurteilungen wegen Gewalttaten der Fall sein (Beschluß vom 13. Mai 1974 - BVerwG 1 B 87.73 - Buchholz, aa0, Nr. 35).
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Nach diesen Grundsätzen haben die angefochtenen Entscheidungen keinen Bestand. Das Berufungsgericht hat nicht genügend berücksichtigt, daß die Ermächtigung des § 12 AufenthG/EWG zur Einschränkung der Freizügigkeit eng auszulegen ist. Es hat bei der Beurteilung der Wiederholungsgefahr einen zu geringen Grad der Wahrscheinlichkeit genügen lassen. Eine im dargelegten Sinne hinreichend schwere Gefährdung der öffentlichen Sicherheit oder Ordnung liegt nicht vor.
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Der Schutz von Kindern vor Sexualdelikten ist zwar eine wichtige Aufgabe der Gemeinschaft. Das hat das Berufungsgericht zu Recht betont. Die Gefahr solcher Straftaten berührt ein Grundinteresse der Gesellschaft. Eine hinreichend schwere Gefährdung, die eine Ausweisung rechtfertigt, ist aber nicht gegeben. Nach dem festgestellten Sachverhalt ist nicht genügend wahrscheinlich, daß der Kläger erneut ein Sittlichkeitsdelikt begeht. Das Strafgericht hat aufgrund mündlicher Verhandlung in Anwendung des § 23 Abs. 1 StGB in der Fassung des 1. StRG vom 25. Juni 1969 (BGBl. 1 S. 645) eine begründete Erwartung künftiger Straf ![]() ![]() ![]() | 16 |
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