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Informationen zum Dokument  BGE 116 Ia 90  Materielle Begründung
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Regeste
Sachverhalt
Aus der Erwägungen:
2. Der Beschwerdeführer macht geltend, der Kantonsgerichtsau ...
Bearbeitung, zuletzt am 15.03.2020, durch: DFR-Server (automatisch)  
 
17. Auszug aus dem Urteil der I. öffentlichrechtlichen Abteilung vom 29. August 1990 i.S. X. gegen Kreispräsident Trin, Staatsanwaltschaft des Kantons Graubünden und Kantonsgericht (Ausschuss) von Graubünden (staatsrechtliche Beschwerde)
 
 
Regeste
 
Art. 4 BV; Willkür.  
2. a) Allein durch eine polizeiliche Einvernahme wird noch kein (Straf)prozessrechtsverhältnis begründet. Es ist daher willkürlich, davon auszugehen, der polizeilich Einvernommene habe mit der Zustellung von Gerichtsurkunden rechnen müssen (E. 2c/aa).  
b) Hingegen entsteht mit der Mitteilung der Eröffnung einer Strafuntersuchung an den Angeschuldigten diesem gegenüber ein (Straf)prozessrechtsverhältnis, welches eine Empfangspflicht für dieses betreffende Gerichtsurkunden begründet (E. 2c/bb).  
 
Sachverhalt
 
BGE 116 Ia, 90 (91)Nachdem der Eigentümer eines in der Gemeinde Trin gelegenen Maiensässes am 17. Juni 1988 gegen X. wegen unbewilligten Aufenthalts in dem auf dem Maiensäss gelegenen Stall Strafantrag gestellt hatte, versuchten die zuständigen Ermittlungsbehörden X. zur Sache einzuvernehmen. Zustellversuche an dessen Adresse in Domat/Ems blieben indessen erfolglos. Erst am 24. August 1988 konnten zwei Kantonspolizisten X. auf der Alp Stätz einvernehmen.
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In der Folge sprach der Kreispräsident Trin X. mit Strafmandat vom 30. Dezember 1988 der Sachbeschädigung sowie des Hausfriedensbruchs für schuldig und bestrafte ihn dafür mit vierzehn Tagen Gefängnis. Nachdem Zustellversuche zunächst mit eingeschriebener Post und anschliessend durch die Kantonspolizei in Domat/Ems erfolglos blieben, wurde X. im Polizeianzeiger ausgeschrieben. Am 28. September 1989 wurde ihm das Strafmandat von der Kantonspolizei gegen Empfangsbescheinigung ausgehändigt.
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Am 4. Oktober 1989 erhob X. Einsprache gegen das Strafmandat vom 30. Dezember 1988. Mit Verfügung vom 9. November 1989 trat der Kreispräsident Trin auf die Einsprache nicht ein.
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Die von X. gegen diese Verfügung erklärte Berufung ans Kantonsgericht (Ausschuss) von Graubünden blieb erfolglos. Mit Urteil vom 17. Januar 1990 wies der Kantonsgerichtsausschuss die Berufung ab, im wesentlichen mit der Begründung, X. habe aufgrund des gegen ihn laufenden Strafverfahrens mit der Zustellung von Gerichtsurkunden rechnen müssen und es sich daher selbst zuzuschreiben, dass er erst am 28. September 1989 Kenntnis vom Strafmandat erhalten und nur verspätet habe Einsprache erheben können. Das Bundesgericht heisst eine von X. gegen dieses Urteil erhobene staatsrechtliche Beschwerde gut.
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BGE 116 Ia, 90 (92)Aus der Erwägungen:
 
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a) Das Bundesgericht geht in seiner Praxis zur Zustellung von Gerichtsurkunden davon aus, dass eine nicht abgeholte, eingeschrieben zugestellte Gerichtsurkunde als am letzten Tag der Abholfrist zugestellt gilt (BGE 115 Ia 15 E. 3a mit Hinweisen). Die Zustellungsfiktion rechtfertigt sich, weil für die Verfahrensbeteiligten im Prozess die aus dem Grundsatz von Treu und Glauben abzuleitende Pflicht besteht, dafür zu sorgen, dass ihnen Gerichtsurkunden zugestellt werden können. Die genannte Empfangspflicht entsteht als prozessuale Pflicht freilich erst mit der Begründung eines Prozessrechtsverhältnisses (BGE 115 Ia 15 E. 3a mit Hinweisen; unveröffentlichtes Bundesgerichtsurteil i.S. M. vom 10. Februar 1988); erst nach dessen Begründung sind die Verfahrensbeteiligten verpflichtet, dafür zu sorgen, dass ihnen Entscheide, welche das Verfahren betreffen, zugestellt werden können.
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b) Diese Zustellungsgrundsätze, insbesondere über die Zulässigkeit der Zustellungsfiktion, sind freilich nicht Ausfluss des Bundesverfassungsrechts und bilden somit auch nicht Teil eines verfassungsmässigen Rechts (BGE 115 Ia 15 E. 2a). Übernehmen daher kantonale Behörden - wie im vorliegenden Fall der Kantonsgerichtsausschuss - mangels ausdrücklicher kantonaler Vorschriften die dargelegten Grundsätze in ihrer Praxis, so hat das Bundesgericht deren Anwendung nur unter dem Gesichtswinkel der Willkür zu überprüfen (BGE 115 Ia 15 E. 2a mit Hinweisen).
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c) Zu überprüfen ist nach dem soeben Ausgeführten, ob der Kantonsgerichtsausschuss, ohne in Willkür zu verfallen, davon ausgehen durfte, der Beschwerdeführer habe nach seiner Einvernahme auf der Alp Stätz mit der Durchführung eines Strafverfahrens und der allfälligen Zustellung eines Strafmandats rechnen müssen.
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aa) Das Bundesgericht hat bereits in dem die Zustellung einer Bussenverfügung nach einem Strassenverkehrsunfall betreffenden BGE 101 Ia 7 ff. ausgeführt, dass das blosse Erstellen eines Polizeirapportes für die Unfallbeteiligten die Durchführung eines Strafverfahrens noch nicht als derart wahrscheinlich erscheinen lässt, dass es eine Empfangspflicht für Gerichtsurkunden auszulösen BGE 116 Ia, 90 (93)vermöchte. An dieser Rechtsprechung ist festzuhalten: Allein durch die Einvernahme im Rahmen von polizeilichen Ermittlungen wird noch kein Prozessrechtsverhältnis begründet, welches den Verfahrensbeteiligten dazu verpflichtet, dafür zu sorgen, dass ihm in seiner Abwesenheit Gerichtsurkunden zugestellt werden können. Es ist daher im vorliegend zu beurteilenden Fall nicht vertretbar, wenn der Kantonsgerichtsausschuss einzig deshalb, weil der Beschwerdeführer von zwei Kantonspolizisten als Auskunftsperson/Tatverdächtiger auf der Alp Stätz zu den gegen ihn erhobenen Vorwürfen einvernommen worden war, davon ausgegangen ist, für den Beschwerdeführer sei damit ein Strafprozessrechtsverhältnis als begründet anzusehen gewesen und er habe deshalb mit der Zustellung von Gerichtsurkunden und insbesondere auch mit der Zustellung des Strafbefehls vom 30. Dezember 1988 rechnen müssen.
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bb) Als vertretbar erschiene die Auffassung des Kantonsgerichtsausschusses nur dann, wenn es über die polizeiliche Einvernahme hinaus gelungen wäre, dem Beschwerdeführer nach der Eröffnung der Strafuntersuchung durch die Staatsanwaltschaft eine diese betreffende Mitteilung (Vorladung, Mitteilung des Verhandlungstermins etc.) zur Kenntnis zu bringen. Anders als nach einer blossen polizeilichen Einvernahme wäre nämlich nach Kenntnisnahme einer solchen Mitteilung durch den Beschwerdeführer davon auszugehen gewesen, dass ihm das Bestehen des mit der Untersuchungseröffnung entstehenden Strafprozessrechtsverhältnisses bekannt geworden sei und ihn dementsprechend die prozessuale Empfangspflicht für Gerichtsurkunden getroffen hätte. Aus den Akten geht indessen hervor, dass zwar zweimal versucht wurde, den Beschwerdeführer zu Einvernahmen vorzuladen, ihm die an seine Adresse in Domat/Ems gerichteten Vorladungen indessen nicht zugestellt werden konnten. Die Annahme, der Beschwerdeführer habe von dem gegen ihn im Gang befindlichen Strafverfahren gewusst und sei daher verpflichtet gewesen, dafür zu sorgen, dass ihm Gerichtsurkunden nachgesendet werden können, erweist sich daher als unhaltbar und der angefochtene Entscheid ist aus diesem Grund aufzuheben.
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