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Informationen zum Dokument  BGE 116 Ia 186  Materielle Begründung
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Regeste
Sachverhalt
Aus den Erwägungen:
1. Die staatsrechtliche Beschwerde wegen Verletzung von Art. 58 B ...
2. Wo das Bundesrecht die Erschöpfung des kantonalen Instanz ...
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31. Auszug aus dem Urteil der I. Zivilabteilung vom 19. Juni 1990 i.S. X. AG gegen Genossenschaft Y. (staatsrechtliche Beschwerde)
 
 
Regeste
 
Zulässigkeit einer staatsrechtlichen Parallelbeschwerde bei freiwilliger Ausschöpfung des kantonalen Instanzenzuges (Art. 58 BV, Art. 86 Abs. 2 und 3 OG).  
 
Sachverhalt
 
BGE 116 Ia, 186 (186)A.- Mit Urteil vom 8. März 1989 wies das Handelsgericht des Kantons Bern eine Klage der X. AG gegen die Genossenschaft Y. ab. Vor der schriftlichen Urteilseröffnung machte der Anwalt der X. AG das Handelsgericht darauf aufmerksam, dass gegen eines seiner fachkundigen Mitglieder, welches am Entscheid mitgewirkt hatte, ein Ablehnungsgrund gegeben sei. Der Vizepräsident des Handelsgerichts trat auf das Ablehnungsbegehren nicht ein.
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B.- Nach der schriftlichen Eröffnung des handelsgerichtlichen Sachentscheids reichte die X. AG beim Appellationshof des BGE 116 Ia, 186 (187)Kantons Bern eine Nichtigkeitsklage auf Aufhebung dieses Entscheids wegen Mitwirkung eines ausstandspflichtigen Richters ein. Das Plenum des Appellationshofs wies die Nichtigkeitsklage am 7. Dezember 1989 ab.
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C.- Gegen das Urteil des Handelsgerichts hat die X. AG ebenfalls staatsrechtliche Beschwerde wegen Verletzung von Art. 4 und 58 BV erhoben. Den Entscheid des Appellationshofs über ihre Nichtigkeitsklage hat sie hingegen beim Bundesgericht nicht angefochten. Nachdem das Bundesgericht das Verfahren bis zum Entscheid über die kantonale Nichtigkeitsklage ausgesetzt hatte, trat es auf die Beschwerde nicht ein.
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Aus den Erwägungen:
 
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Die Beschwerdeführerinnen haben indessen von der Möglichkeit nach Art. 86 Abs. 3 OG Gebrauch gemacht und den Entscheid des Handelsgerichts zusätzlich mit kantonaler Nichtigkeitsklage angefochten, somit auch den kantonalen Rechtsmittelweg beschritten und diesen ausgeschöpft. Den Entscheid des Appellationshofs haben sie hingegen beim Bundesgericht nicht angefochten.
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Kumuliert ein Beschwerdeführer die staatsrechtliche Beschwerde mit einem kantonalen Rechtsbehelf, so befindet das Bundesgericht nach Erwägungen der Zweckmässigkeit darüber, ob es die bei BGE 116 Ia, 186 (188)ihm erhobene Beschwerde sofort behandeln oder das Verfahren bis zur Erledigung des kantonalen Rechtsmittels aussetzen will (BGE 115 Ia 161 E. 1a, BGE 112 Ia 87, je mit Hinweisen).
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a) Nicht restlos geklärt scheint nach der Rechtsprechung das Schicksal einer ausgesetzten staatsrechtlichen Beschwerde nach Abschluss des kantonalen Rechtsmittelverfahrens.
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In BGE 45 I 290 (E. 1b) vertrat das Bundesgericht die Auffassung, auf die staatsrechtliche Beschwerde sei nicht einzutreten, sofern die Beurteilung der Streitsache durch die kantonale Behörde sich als zweckmässig erweise. Nach BGE 49 I 348 (E. 1) wird in der Regel auf eine staatsrechtliche Beschwerde nicht eingetreten, solange noch ein kantonales Rechtsmittel hängig ist (ähnlich BGE 82 I 83, BGE 83 I 105 E. b, BGE 112 Ia 87).
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In BGE 49 I 551 (E. 2) bezeichnete das Gericht als reine Zweckmässigkeitsfrage, ob es eine staatsrechtliche Beschwerde neben einem kantonalen Rechtsmittel zulasse oder den Beschwerdeführer auf die spätere Anfechtung eines ihm ungünstigen Entscheids der kantonalen Rechtsmittelinstanz verweise. Nach BGE 101 Ia 68 (E. 2a) lädt das Gericht den Beschwerdeführer nach Beurteilung des kantonalen Rechtsmittels zu einer "allfälligen neuen Anfechtung" ein, falls es das Verfahren ausgesetzt hat. In die gleiche Richtung zielt BGE 115 Ia 161 (E. 1a).
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In der Literatur werden, soweit sie sich mit dem Problemkreis befasst, die unterschiedlichen Formulierungen der Rechtsprechung unverändert übernommen (so BIRCHMEIER, Bundesrechtspflege, S. 350; MARTI, Die staatsrechtliche Beschwerde, 4. Aufl. 1979, S. 111; KÄLIN, Das Verfahren der staatsrechtlichen Beschwerde, S. 285).
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b) Nicht klar beantwortet ist damit namentlich die Frage, ob das Bundesgericht das eingestellte Verfahren nach Vorliegen eines für den Beschwerdeführer ungünstigen kantonalen Rechtsmittelentscheids ohne weiteres wiederum aufnimmt oder sich mit der Sache bloss befasst, wenn auch dieser Rechtsmittelentscheid angefochten wird.
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In BGE 87 I 64 f. hat das Bundesgericht nicht ohne weiteres als gegeben erachtet, dass sich in Fällen, welche die Erschöpfung des kantonalen Instanzenzuges nicht bedingen, die staatsrechtliche Beschwerde bei freiwilliger Ausschöpfung der kantonalen Rechtsmittel (Art. 86 Abs. 3 OG) gleichfalls in erster Linie gegen den Rechtsmittelentscheid und nicht gegen das Sachurteil wenden müsse. Es hat allerdings die Frage offengelassen, ob die durch BGE 116 Ia, 186 (189) BGE 81 I 148 und BGE 84 I 234 f. (E. 1) eingeleitete Rechtsprechung, wonach die staatsrechtliche Beschwerde grundsätzlich an den Rechtsmittelentscheid anzuknüpfen hat, auch auf Beschwerden Anwendung finde, die vor Durchführung der kantonalen Rechtsmittel erhoben werden können.
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In BGE 109 IV 53 (E. 1b) erklärte das Bundesgericht, dass der Beschwerdeführer, welcher vorerst freiwillig den kantonalen Instanzenzug ausschöpfe (Art. 86 Abs. 3 OG), den Entscheid der unteren kantonalen Instanz bloss dann noch zusammen mit dem kantonalen Rechtsmittelentscheid anfechten könne, wenn der kantonalen Rechtsmittelinstanz nur eine beschränkte Überprüfungsbefugnis zukam. Unbeantwortet blieb auch in jenem Entscheid die Frage, ob dieser Grundsatz ebenfalls gelte, wenn die staatsrechtliche Beschwerde neben und nicht nach dem kantonalen Rechtsmittel ergriffen wird.
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c) Die Lösung dieser Frage ergibt sich aus dem Prinzip der relativen Subsidiarität der staatsrechtlichen Beschwerde (dazu AUER, Die schweizerische Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 217 Rz. 391) und den Zweckmässigkeitsüberlegungen, welche das Bundesgericht in konstanter Praxis für das verfahrensrechtliche Vorgehen als massgebend erachtet hat. Dabei ist allerdings der Grundsatz der Verfahrensfairness zu beachten, insbesondere die Zweckmässigkeit nach Grundsätzen zu beurteilen, welche den Rechtsunterworfenen das einzuschlagende Verfahren mit der gebotenen Klarheit erkennen lassen.
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aa) Keine grundsätzlichen Probleme bietet der Entscheid, ob die Behandlung einer Parallelbeschwerde zu einem kantonalen Rechtsmittel sogleich an die Hand zu nehmen oder bis zum Vorliegen des kantonalen Rechtsmittelentscheids auszusetzen ist. Im einen wie im andern Fall bleiben die Rechte des Beschwerdeführers gewahrt.
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bb) Wird das staatsrechtliche Beschwerdeverfahren ausgesetzt und weist die kantonale Behörde das bei ihr parallel eingelegte Rechtsmittel ab, ergibt sich folgendes:
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Hat die kantonale Rechtsmittelinstanz mit freier Kognition entschieden, tritt ihr Urteil an die Stelle desjenigen der unteren kantonalen Instanz und kann damit allein noch Anfechtungsobjekt der staatsrechtlichen Beschwerde sein.
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Hat die kantonale Rechtsmittelinstanz mit engerer Kognition entschieden, als sie dem Bundesgericht bei der Beurteilung der entsprechenden Rügen zukommt, kann sich die staatsrechtliche BGE 116 Ia, 186 (190)Beschwerde sowohl gegen ihren wie den vorangegangenen Entscheid richten. Eine Anfechtung bloss des unterinstanzlichen Entscheids ist dabei nach der Rechtsprechung ausgeschlossen, sofern der kantonale Instanzenzug erschöpft werden muss. Gleiches muss aber auch bei freiwilliger Erschöpfung des kantonalen Instanzenzuges gelten. Mit der Parallelanfechtung eines kantonalen Hoheitsakts nimmt der Beschwerdeführer in Kauf, dass das Bundesgericht vorerst den kantonalen Rechtsmittelentscheid abwartet und damit den kantonalen Behörden die Möglichkeit gibt, den angefochtenen Entscheid auf seine Recht- und Verfassungsmässigkeit zu überprüfen. Weist die kantonale Behörde alsdann die bei ihr erhobenen Rügen ab, obliegt dem Beschwerdeführer darzutun, dass und inwiefern die Rechts- und Verfassungskontrolle im kantonalen Verfahren fehlerhaft oder zufolge bloss beschränkter Kognition ungenügend ausgeübt wurde. Anders entscheiden hiesse das Bundesgericht verpflichten, einen unterinstanzlichen kantonalen Entscheid gegebenenfalls auch ohne Berücksichtigung der kantonalen Rechtsmittelerwägungen auf seine Verfassungsmässigkeit hin zu überprüfen, was kaum haltbar erscheint und zu widersprüchlichen Parallelentscheiden über denselben Streitgegenstand führen kann.
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Zu vollends unhaltbarem Ergebnis führt der Verzicht auf die Anfechtung des kantonalen Rechtsmittelentscheids schliesslich dort, wo neben der staatsrechtlichen Beschwerde gegen einen unterinstanzlichen Entscheid ein voll devolutives kantonales Rechtsmittel (Appellation, Berufung) ergriffen wird und die Rechtsmittelinstanz einen reformatorischen Sachentscheid fällt. Hier gäbe die Aufhebung des unterinstanzlichen Entscheids überhaupt keinen Sinn mehr, da der oberinstanzliche mangels Anfechtung in formelle und materielle Rechtskraft erwächst und einzig er einen Vollstreckungstitel abgibt, welcher selbst bei Aufhebung des ihm vorangegangenen Sachurteils nicht beseitigt würde.
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Im Falle von Parallelverfahren ist auf die sistierte staatsrechtliche Beschwerde nach Abweisung des kantonalen Rechtsmittels somit nur dann einzutreten, wenn ebenfalls dieser Rechtsmittelentscheid angefochten wird. Dies gilt jedenfalls dort, wo mit der staatsrechtlichen Beschwerde und dem kantonalen Rechtsmittel die gleichen Rügen vorgetragen werden. Damit hängt die Zulässigkeit einer staatsrechtlichen Parallelbeschwerde bei freiwilliger Ausschöpfung des kantonalen Instanzenzuges auch davon ab, dass der letzte kantonale Entscheid mitangefochten wird, sofern mit ihm auf das Rechtsmittel eingetreten wird.
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BGE 116 Ia, 186 (191)cc) Vorliegend haben die Beschwerdeführerinnen einzig den Sachentscheid des Handelsgerichts mit staatsrechtlicher Beschwerde angefochten. Dieser befasst sich mit der Ablehnung eines seiner Mitglieder nicht, da der Rekusationseinwand erst nach der Urteilsfällung erhoben wurde. Der Appellationshof sodann hat die bei ihm eingereichte Nichtigkeitsklage einzig gestützt auf kantonales Prozessrecht abgewiesen, welches ein Ablehnungsbegehren gemäss Art. 11 Ziff. 5 ZPO BE nach dem Termin der Urteilsfällung nicht mehr zulassen soll. Die Beschwerdeführerinnen hätten daher dartun müssen, dass und inwiefern die massgebenden Prozessrechtsbestimmungen oder deren Anwendung im konkreten Fall verfassungswidrig ist. Entsprechende Rügen aber wären in einer Beschwerde gegen den Entscheid des Appellationshofs vorzutragen gewesen. Da die Beschwerdeführerinnen auf dessen Anfechtung verzichtet haben, ist folgerichtig auf ihre Beschwerde gegen den Entscheid des Handelsgerichts nicht mehr einzutreten.
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