VerfassungsgeschichteVerfassungsvergleichVerfassungsrechtRechtsphilosophie
UebersichtWho-is-WhoBundesgerichtBundesverfassungsgerichtVolltextsuche...

Informationen zum Dokument  BGE 116 Ia 289  Materielle Begründung
Druckversion | Cache | Rtf-Version

Regeste
Sachverhalt
Aus den Erwägungen:
2. Das Strafgericht Basel-Stadt, auf dessen Begründung das A ...
3. Nach Art. 6 Ziff. 3 lit. d EMRK steht jedem Angeklagten das Re ...
Bearbeitung, zuletzt am 15.03.2020, durch: DFR-Server (automatisch)  
 
45. Auszug aus dem Urteil der I. öffentlichrechtlichen Abteilung vom 25. April 1990 i.S. X. gegen Staatsanwaltschaft und Appellationsgericht des Kantons Basel-Stadt (staatsrechtliche Beschwerde)
 
 
Regeste
 
Art. 4 BV, Art. 6 Ziff. 1 und Ziff. 3 lit. d EMRK; Recht des Angeschuldigten, Fragen an die Belastungszeugen zu stellen oder stellen zu lassen.  
 
Sachverhalt
 
BGE 116 Ia, 289 (289)Mit Urteil vom 2. Februar 1989 verurteilte das Strafgericht Basel-Stadt X. wegen wiederholter und qualifizierter Widerhandlung gegen das Betäubungsmittelgesetz zu einer mehrjährigen BGE 116 Ia, 289 (290)Gefängnisstrafe. Das Gericht stützte den Schuldspruch im wesentlichen auf die Aussagen von C., M., E. und K., welche - selbst des Verstosses gegen die Betäubungsmittelgesetzgebung angeschuldigt - in eigenen Strafverfahren einvernommen worden waren und auch bei den im Ermittlungsverfahren durchgeführten Gegenüberstellungen mit X. ihre belastenden Aussagen aufrecht gehalten hatten. Einzig K. hatte seine Aussage später - in der Hauptverhandlung des gegen ihn geführten Verfahrens - widerrufen. Den Beweisantrag des Angeklagten, C., M. und E. seien als Zeugen zur Hauptverhandlung zu laden und einzuvernehmen, wies das Gericht ab.
1
Auf Appellation von X. hin bestätigte das Appellationsgericht des Kantons Basel-Stadt am 4. Juli 1989 das strafgerichtliche Urteil vollumfänglich. Den im Appellationsverfahren erneut gestellten Antrag auf Ladung und Einvernahme von C., M. und E. als Zeugen, eventuell als Auskunftspersonen, wies das Appellationsgericht ab.
2
Gegen dieses Urteil führt X. staatsrechtliche Beschwerde wegen Verletzung von Art. 4 BV und Art. 6 Ziff. 3 lit. d EMRK. Das Bundesgericht heisst sie gut.
3
 
Aus den Erwägungen:
 
2. Das Strafgericht Basel-Stadt, auf dessen Begründung das Appellationsgericht vollumfänglich verweist, hatte den seinerzeit bereits von der damaligen Offizialverteidigerin des Beschwerdeführers gestellten Antrag auf Einvernahme der drei genannten Personen in der Hauptverhandlung mit der Begründung abgelehnt, eine erneute Befragung sei überflüssig. C., M. und E. hätten bei mehreren Einvernahmen im Ermittlungsverfahren im Kernpunkt stets gleichbleibend ausgesagt und seien auch bei den Konfrontationen mit dem Beschwerdeführer bei ihren Darstellungen geblieben. Es sei daher zu erwarten, dass sie im Falle einer erneuten Einvernahme in der Hauptverhandlung ihre früheren Aussagen bestätigen würden. Sie könnten auch nicht wie Zeugen mit sanktionsbewehrter Wahrheitspflicht zu einer wirklichkeitsgetreueren Darstellung angehalten werden. Ihre Aussagen besässen daher vor Gericht nicht mehr Gewicht und Überzeugungskraft als ihre Angaben im Ermittlungsverfahren. In bezug auf Art. 6 EMRK hielt das Gericht fest, mit der Konfrontation im Ermittlungsverfahren sei dem Erfordernis, einem Beschuldigten die Gelegenheit zu bieten, BGE 116 Ia, 289 (291)der Einvernahme ihn belastender Personen beizuwohnen und diesen Fragen zu stellen, Genüge getan worden.
4
b) Der Beschwerdeführer wendet sich gegen diese Betrachtungsweise. Nach seiner Auffassung wäre eine erneute Konfrontation mit den genannten Personen für die Beurteilung der Richtigkeit des ihm vorgeworfenen Verhaltens von entscheidender Bedeutung gewesen, weil sich sowohl Anklageschrift als auch erstinstanzliches Urteil im wesentlichen auf deren Aussagen gestützt hätten. Die Gegenüberstellungen im Ermittlungsverfahren hätten den Erfordernissen der Rechtsstaatlichkeit nicht genügt. Der Beschwerdeführer sei weder anwaltlich verbeiständet gewesen, noch habe er "de facto" die Möglichkeit gehabt, Fragen an die ihn belastenden Personen zu stellen. C. habe zudem wesentliche Belastungen erst nach der Konfrontationseinvernahme erhoben. Mit diesen Vorwürfen sei der Beschwerdeführer überhaupt nie direkt konfrontiert worden. Da auch das Appellationsgericht wie zuvor das Strafgericht eine Wiederholung der Konfrontation im Beisein der Privatverteidigerin nicht zugelassen habe, sei dem angefochtenen Urteil "Rechtsverweigerung", "Verletzung der Verteidigungsrechte" und Willkür, somit Verletzung von Art. 4 BV und Art. 6 Ziff. 3 lit. d EMRK vorzuwerfen.
5
6
a) Das Strafgericht geht unter Hinweis auf die bundesgerichtliche Rechtsprechung grundsätzlich zutreffenderweise davon aus, dass sich aus der zitierten Konventionsbestimmung nicht ableiten lässt, dem Angeschuldigten müsse mehrmals Gelegenheit geboten werden, den ihn belastenden Personen Fragen zu stellen oder stellen zu lassen. Insbesondere besteht auch kein Anspruch, dass alle Zeugenaussagen vor dem Richter in der Hauptverhandlung vor dem Strafgericht zu erfolgen hätten; Art. 6 Ziff. 3 lit. d EMRK will lediglich ausschliessen, dass ein Strafurteil auf Aussagen von Zeugen abgestützt wird, ohne dass dem Beschuldigten wenigstens einmal Gelegenheit gegeben worden wäre, Ergänzungsfragen zu stellen. Dabei genügt es, wenn diese Gelegenheit irgend einmal im Lauf des Verfahrens gewährt wird (BGE 113 Ia 422 E. 3c mit BGE 116 Ia, 289 (292)Hinweisen; VOGLER, in: Internationaler Kommentar zur EMRK, N. 151 zu Art. 6).
7
b) Wenn auch die Rechtsprechung somit eine nur einmalige Gelegenheit zur Stellungnahme als genügend ansieht, so steht die Zulässigkeit dieser Beschränkung doch unter dem Vorbehalt, dass der Angeschuldigte mit dieser Gelegenheit seine Verteidigungsrechte auch tatsächlich wirksam ausüben konnte. Wie die übrigen in Ziff. 3 von Art. 6 EMRK gewährleisteten Garantien ist auch das in lit. d enthaltene Recht auf Befragung der Belastungszeugen Ausfluss und Konkretisierung des Anspruchs des Angeklagten auf ein faires Verfahren; es ist daher immer im Zusammenhang mit Art. 6 Ziff. 1 zu sehen (vgl. etwa BGE 104 Ia 317 E. 4c; BGE 102 Ia 200; Urteil des Europäischen Gerichtshofs in Sachen Kostovski vom 20. November 1989, Publications de la Cour européenne des droits de l'homme, Série A, vol. 166 Ziff. 39). Grundlegendes Element dieses Anspruchs auf ein "fair hearing" oder, nach der deutschen Übersetzung, auf Anhörung "in billiger Weise" bildet die Garantie, dass dem Angeklagten in tatsächlicher wie in rechtlicher Hinsicht ausreichende und angemessene Gelegenheit zur Stellungnahme eingeräumt wird und er gegenüber der Anklagebehörde nicht benachteiligt wird (BGE 113 Ia 222 E. 3c mit Hinweisen). In Anwendung dieser Grundsätze hat der Gerichtshof in seinem Urteil in Sachen Kostovski (betreffend eine Verurteilung, die sich auf die Aussagen zweier anonym gebliebener Zeugen abstützte, welche der Angeklagte weder direkt noch indirekt befragen konnte) in allgemeiner Weise festgehalten, dass die Beweisführung grundsätzlich vor dem Angeklagten, in öffentlicher Verhandlung und in kontradiktorischem Verfahren zu erfolgen habe. Dies bedeute zwar nicht, dass eine Zeugenaussage nur dann taugliches Beweismittel sein könne, wenn sie öffentlich und vor Gericht gemacht worden sei. Die Verwertung von Aussagen aus dem Ermittlungsverfahren bleibe mit Art. 6 Ziff. 3 lit. d in Verbindung mit Ziff. 1 EMRK vereinbar, solange die Verteidigungsrechte des Angeklagten gewahrt würden. Dies sei aber nur dann der Fall, wenn der Angeklagte angemessene und ausreichende Gelegenheit gehabt habe, den ihn belastenden Aussagen entgegenzutreten (Urteil in Sachen Kostovski, a.a.O., Ziff. 41; in Sachen Barberà vom 6. Dezember 1988, Série A, vol. 146 Ziff. 78). Vor kurzem hat die Europäische Kommission für Menschenrechte diese Auffassung in einem Fall bestätigt, welcher dem vorliegend zu beurteilenden auch in tatsächlicher Hinsicht vergleichbar ist (Bericht der BGE 116 Ia, 289 (293)Kommission in Sachen Isgrò c/I vom 14. Dezember 1989; zu Zulassungsentscheid vgl. EuGRZ 1989, 465 f.). Der Beschwerdeführer war im wesentlichen gestützt auf die Aussage eines Zeugen verurteilt worden, dem er im Ermittlungsverfahren, allerdings ohne anwaltlichen Beistand, gegenübergestellt war. Der Zeuge wurde zur Hauptverhandlung geladen, war jedoch unauffindbar, so dass er von der Verteidigung nie befragt werden konnte. Die Kommission bejahte eine Verletzung von Art. 6 Ziff. 3 lit. d in Verbindung mit Art. 6 Ziff. 1 EMRK. Zwar sei der Beschwerdeführer im Untersuchungsverfahren mit dem Belastungszeugen konfrontiert worden und habe bei dieser Gelegenheit dessen Aussagen bestreiten und seine eigene Darstellung der Ereignisse entgegensetzen können. Er habe jedoch weder selbst noch durch den Untersuchungsrichter Fragen gestellt. Vor allem aber sei der Beschwerdeführer bei dieser Gegenüberstellung ohne Anwalt gewesen, welcher zu diesem Zeitpunkt noch nicht zugelassen gewesen sei. Diesem Umstand, so die Kommission, komme rückblickend besondere Wichtigkeit zu, da der Zeuge in der Hauptverhandlung nicht mehr habe befragt werden können (Bericht vom 14. Dezember 1989, Ziff. 57 f.).
8
c) Auch im vorliegenden Fall vermag die dem Beschwerdeführer im Ermittlungsverfahren eingeräumte Möglichkeit, die ihn belastenden Personen zu befragen, den durch Art. 6 EMRK sowie Art. 4 BV garantierten Ansprüchen auf ein faires Verfahren und auf rechtliches Gehör nicht zu genügen. Der Beschwerdeführer war bei den Konfrontationen im Ermittlungsverfahren noch ohne Rechtsbeistand. Wie aus den Einvernahmeprotokollen zu schliessen ist, hat er zwar auf Fragen des Untersuchungsbeamten geantwortet, jedoch den ihn belastenden Personen selbst keine Fragen gestellt oder durch den Untersuchungsbeamten stellen lassen. Die Frage, ob er nicht schon im Stadium des Ermittlungsverfahrens, sei es gestützt auf kantonales Recht (vgl. § 112 der Strafprozessordnung des Kantons Basel-Stadt), sei es gestützt auf die aus Art. 4 BV und Art. 6 Ziff. 3 lit. c folgenden Mindestansprüche (zum letzteren vergleiche den Kommissionsbericht in Sachen Q. c/CH vom 12. Februar 1990, insbesondere Ziff. 63, 66 f.), hätte anwaltlich vertreten sein müssen, ist vorliegend nicht zu beurteilen. Mangels entsprechender Rüge ist ebensowenig zu prüfen, ob das Strafgericht (bzw. das dessen Urteil bestätigende Appellationsgericht) in haltbarer Auslegung und Anwendung des kantonalen Prozessrechts auf eine unmittelbare Beweisaufnahme in der erstinstanzlichen BGE 116 Ia, 289 (294)Hauptverhandlung verzichten (bzw. diesen Verzicht schützen) durfte. Für die Beurteilung der Rüge des Beschwerdeführers ist jedenfalls davon auszugehen, dass er seine Verteidigungsrechte im Ermittlungsverfahren nicht gleich wirksam hat ausüben können, wie dies bei Anwesenheit eines Rechtsbeistandes der Fall gewesen wäre, und dass in der Hauptverhandlung vor dem Strafgericht die damalige Offizialverteidigerin keine Möglichkeit hatte, die drei den Beschwerdeführer belastenden Personen zu befragen. Bei dieser Sachlage hätte das Appellationsgericht den im Rechtsmittelverfahren erneut gestellten Beweisantrag auf Ladung und Einvernahme dieser Personen nicht ablehnen dürfen. Immerhin haben auch die Untersuchungsbehörden den Fall als so schwer bzw. so schwierig angesehen, dass sie dem Beschwerdeführer am 4. Januar 1989 die Offizialverteidigung bewilligt haben. Darüber hinaus fällt ins Gewicht, dass der Beschwerdeführer sämtliche der gegen ihn erhobenen Vorwürfe abgestritten hat. Das Bundesgericht hat diesbezüglich in einem ein Strafverfahren im Kanton Waadt betreffenden Urteil erwogen, dass in solchen Fällen eine für die Beweisführung wesentliche Zeugenanhörung im Ermittlungsverfahren auch in Anwesenheit des Angeschuldigten nicht genüge, um die dem Angeklagten aus Art. 4 BV und Art. 6 EMRK zustehenden Rechte zu gewährleisten (unveröffentlichtes Urteil vom 8. Dezember 1987 in Sachen D., E. 2a). Auch im vorliegend zu beurteilenden Fall stützt das Appellationsgericht die Verurteilung im wesentlichen auf die den Beschwerdeführer belastenden Aussagen von vier Personen, deren Richtigkeit der Beschwerdeführer bestreitet. Dass eine dieser Personen (K.) seine Beschuldigung in der gegen ihn durchgeführten Hauptverhandlung widerrufen hat und die Aussagen von C., wie der Beschwerdeführer mit Recht vorbringt, nicht frei von Unsicherheiten und Widersprüchen waren, kommt hinzu.
9
d) Unter den vorstehend dargelegten Umständen konnte das Appellationsgericht den Beweisantrag des Beschwerdeführers auf Ladung und Vernehmung von C., M. und E. in der Hauptverhandlung nicht ablehnen, ohne Art. 4 BV und Art. 6 EMRK zu verletzen. Der Beschwerdeführer wurde in einem Fall, in dem die Offizialverteidigung bewilligt wurde und vom Beschwerdeführer sämtliche Vorwürfe bestritten wurden, im wesentlichen gestützt auf Aussagen schuldig gesprochen, die ohne jede Kontrolle durch die Verteidigung im Ermittlungsverfahren abgegeben worden waren. Damit wurde der Anspruch des Beschwerdeführers auf BGE 116 Ia, 289 (295)rechtliches Gehör ebenso verletzt wie sein Recht auf ein faires Verfahren.
10
© 1994-2020 Das Fallrecht (DFR).