BGE 118 Ia 218 - Gemeindeautonomie im Schulbereich | |||
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Bearbeitung, zuletzt am 15.03.2020, durch: DFR-Server, A. Tschentscher | |||
29. Auszug aus dem Urteil der II. öffentlichrechtlichen Abteilung vom 8. Mai 1992 i.S. Gemeinde X. gegen Z. und Erziehungs-, Kultur- und Umweltschutzdepartement sowie Regierung des Kantons Graubünden (staatsrechtliche Beschwerden). | |
Regeste |
Gemeindeautonomie bei vorzeitiger Einschulung im Kanton Graubünden. |
2. Im Kanton Graubünden besteht bei der vorzeitigen Einschulung keine Gemeindeautonomie (E. 3e). | |
Sachverhalt | |
Der Schulrat der Gemeinde X. lehnte am 3. Juli 1991 ein Gesuch von Z. ab, ihren Sohn vorzeitig einzuschulen. Dessen kognitive Leistung und sozio-emotionale Entwicklung seien zwar fortgeschritten, doch beherrsche er das Romanische nicht genügend, um dem in dieser Sprache erteilten Unterricht bereits folgen zu können.
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Die Gemeinde X. erhob gegen diesen Entscheid am 6. September 1991 Verwaltungsbeschwerde bei der Regierung des Kantons Graubünden; am 19. September 1991 reichte sie zudem wegen Verletzung ihrer Gemeindeautonomie sowie von Art. 4 BV staatsrechtliche Beschwerde beim Bundesgericht ein. Zugleich beantragte sie, bis zum Entscheid über ihr kantonales Rechtsmittel das bundesgerichtliche Verfahren zu sistieren. Noch bevor dieses Gesuch beurteilt werden konnte, verneinte die Regierung des Kantons Graubünden am 30. September 1991 die Beschwerdelegitimation der Gemeinde X. und trat auf ihre Eingabe nicht ein; in einer Eventualerwägung führte sie aus, dass die Beschwerde materiell abzuweisen wäre.
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Gegen diesen Entscheid erhob die Gemeinde X. am 1. November 1991 erneut staatsrechtliche Beschwerde. Sie macht darin geltend, die Regierung des Kantons Graubünden sei zu Unrecht auf ihr Rechtsmittel nicht eingetreten, materiell habe sie, "indem sie die gesetzlichen Voraussetzungen für die vorzeitige Einschulung nicht beachtete", willkürlich gehandelt und den "geschützten Autonomiebereich der Gemeinde verletzt".
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Das Bundesgericht weist die staatsrechtlichen Beschwerden, soweit es darauf eintritt, ab
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aus den folgenden Erwägungen: | |
3. a) Eine Gemeinde ist in einem Sachbereich autonom, wenn das kantonale Recht diesen Bereich nicht abschliessend ordnet, sondern ihn ganz oder teilweise der Gemeinde zur Regelung überlässt und ihr dabei eine relativ erhebliche Entscheidungsfreiheit einräumt (BGE 117 Ia 355 E. 4a mit Hinweisen). Ob und wieweit eine Gemeinde in einem bestimmten Bereich autonom ist, richtet sich nach dem kantonalen Verfassungs- und Gesetzesrecht. Ein geschützter kommunaler Autonomiebereich kann auch bei der Anwendung kantonalen Rechtes vorliegen, wenn dieses der Gemeinde eine relativ erhebliche Entscheidungsfreiheit belässt (BGE 115 Ia 44 E. 3, BGE 110 Ia 199 E. 2a, BGE 103 Ia 488 E. 2; ULRICH ZIMMERLI, Die neuere bundesgerichtliche Rechtsprechung zur Gemeindeautonomie, in: ZBl 73/1972 S. 269 ff.). Der Schutz der Autonomie setzt eine solche nicht in einem ganzen Aufgabengebiet, sondern lediglich im streitigen Bereich voraus; ihr Vorliegen ist von Fall zu Fall differenzierend zu prüfen (BGE 115 Ia 44 E. 3 mit Hinweisen).
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Besteht in diesem Sinn Autonomie, kann sich die Gemeinde mit staatsrechtlicher Beschwerde dagegen zur Wehr setzen, dass eine kantonale Behörde im Rechtsmittelverfahren ihre Prüfungsbefugnis überschreitet oder die den betreffenden Sachbereich ordnenden kommunalen, kantonalen oder bundesrechtlichen Normen falsch anwendet. Soweit nicht die Handhabung von eidgenössischem oder kantonalem Verfassungsrecht in Frage steht, prüft das Bundesgericht den Entscheid der kantonalen Behörde aber nur unter dem Gesichtswinkel der Willkür (BGE 115 Ia 46 E. 3c, BGE 114 Ia 372 E. 2a, je mit Hinweisen).
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b) Gemäss Art. 40 der Verfassung vom 2. Oktober 1892 für den Kanton Graubünden (KV; SR 131.226) steht jeder Gemeinde das Recht zur "selbständigen Gemeindeverwaltung" zu (Abs. 2), sie hat "für gute Verwaltung ihrer Gemeindeangelegenheiten, namentlich auch für das Schulwesen und die Sozialhilfe zu sorgen, soweit diese nicht Sache der Bürgergemeinde und des Kantons ist" (Abs. 3).
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Art. 4 des Gemeindegesetzes nennt die "Schule" ausdrücklich (lit. a) als ein Gebiet der öffentlichen Verwaltung, das unter Vorbehalt der Zuständigkeit des Bundes und des Kantons zum Aufgabenbereich der Gemeinde gehört. Art. 2 des Gesetzes für die Volksschulen des Kantons Graubünden vom 19. November 1961 (SchG; BR 421.000) bezeichnet die Gemeinden oder Gemeindeverbände als Träger der öffentlichen Volksschulen; sie haben einen Schulrat zu bestellen, dem die Leitung und Beaufsichtigung der Schule obliegt (Art. 61 SchG). Jedes im Kanton wohnhafte bildungsfähige Kind, das bis zum 31. Dezember das siebte Altersjahr erfüllt haben wird, ist mit Beginn des Schuljahres zum Besuch der Primarschule verpflichtet (Art. 7 Abs. 1 SchG). Art. 7 Abs. 2 und 3 des Schulgesetzes regeln die Einschulung wie folgt:
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"Der Schulrat kann, unter schriftlicher Mitteilung an das
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Erziehungsdepartement, Kinder vorzeitig zum Schulbesuch zulassen oder in
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der Schulpflicht zurückstellen.
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Voraussetzungen und Verfahren regelt die Vollziehungsverordnung."
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Die vom Grossen Rat am 31. Mai 1961 erlassene Vollziehungsverordnung zum Schulgesetz (VVO; BR 421.010) führt diese Regelung, was den vorzeitigen Schuleintritt betrifft, in Art. 2 näher aus:
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"Der Schulrat kann die Bewilligung zum vorzeitigen Schuleintritt auf
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Gesuch hin erteilen, wenn ein ärztliches oder ein schulpsychologisches
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entwickelt ist und gegen seine Zulassung zur Schule keine Bedenken
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bestehen."
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c) Die Beschwerdeführerin beruft sich auf dem Hintergrund von Art. 40 KV und Art. 4 lit. a des Gemeindegesetzes auf die beiden wiedergegebenen Bestimmungen des Schulgesetzes sowie der dazugehörigen Verordnung und erblickt im Ermessensspielraum, der dem Schulrat nach diesen Vorschriften beim Entscheid über die vorzeitige Einschulung offenstehe, einen geschützten Bereich kommunaler Autonomie. Indem das Erziehungsdepartement als Beschwerdeinstanz die vorzeitige Einschulung entgegen der Auffassung des kommunalen Schulrates bewilligt habe, habe es die Gemeinde in ihrer Autonomie verletzt, zumal der Entscheid der Schulbehörde vertretbar gewesen sei. Der Beschluss des Departementes sei sachlich unhaltbar und willkürlich. Er berücksichtige völlig einseitig die Interessen des Kindes und lasse die besonderen Probleme ausser acht, welche die Einschulung deutschsprachiger Kinder in die in romanischer Sprache geführte Primarschule der Gemeinde X. mit sich bringe. Die Gemeinde unternehme grosse Anstrengungen zur Erhaltung des Romanischen und führe u.a. einen Sprachförderungsunterricht für Kinder im Vorschulalter. Bei einem vorzeitigen Schuleintritt deutschsprachiger Kinder sei der erforderliche Einzelförderungsunterricht wegen der Überlastung der Primarschul-Lehrkräfte nicht mehr gewährleistet; die übrigen Schüler würden in ihrem schulischen Fortkommen behindert.
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d) Diese Einwendungen der Gemeinde haben sachlich ein gewisses Gewicht, wie auch die Regierung in ihrem Entscheid zugesteht, wenn sie ausführt, dass entgegen der Ansicht des Erziehungs-, Kultur- und Umweltschutzdepartementes "Sprachprobleme dem Grundsatze nach sehr wohl Bedenken gegen eine vorzeitige Einschulung auslösen, gehört doch die sprachliche Verständigung zur Grundvoraussetzung für eine einwandfreie Vermittlung des Lernstoffes in einer normalen Grundschule"; jedenfalls könne nicht völlig ausgeschlossen werden, "dass mangelhafte Romanischkenntnisse in einer romanisch geführten Schule zu schulischen Problemen" führten.
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Für eine materielle Überprüfung der angefochtenen kantonalen Entscheide durch das Bundesgericht besteht nach dem Gesagten jedoch erst Raum, wenn diese die Gemeinde in einem geschützten Autonomiebereich treffen. Nicht jede Entscheidungsfreiheit begründet zugunsten der Gemeinde schutzwürdige Autonomie. Ob die der Gemeinde gewährte Freiheit in einem bestimmten Bereich "relativ erheblich" ist, ergibt sich aus ihrer Bedeutung für den Sinn der kommunalen Selbständigkeit, d.h. daraus, ob nach der kantonalen Gesetzgebung durch die kommunale Gestaltung unter anderem mehr Demokratie und Rechtsstaatlichkeit sowie eine bessere und sinnvollere Aufgabenerfüllung auf lokaler Ebene ermöglicht werden sollen (vgl. BGE 116 Ia 287 E. 3a; nicht veröffentlichtes Urteil des Bundesgerichts vom 13. Juni 1989 i.S. Politische Gemeinde Altstätten u. Mitb. c. Grossen Rat des Kantons St. Gallen, E. 2b; THOMAS PFISTERER, Die neuere Entwicklung der Gemeindeautonomie, insbesondere im Kanton Aargau, in: ZBJV 125/1989 S. 18 ff.; THOMAS PFISTERER, Die verfassungsrechtliche Stellung der aargauischen Gemeinden bei der Erfüllung der öffentlichen Aufgaben, St. Gallen 1983, S. 249 ff., insbes. 255-257; vgl. auch BGE 115 Ib 305 E. 4). Enthält ein kantonales Gesetz, das in erster Instanz von der Gemeindebehörde anzuwenden ist, einen unbestimmten Rechtsbegriff, so genügt dies allein noch nicht für die Annahme, dass die Gemeinde bei der Anwendung dieses Begriffes auch autonom sei (BGE 100 Ia 275 E. 6).
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e) Den Bündner Gemeinden steht im Schulbereich Autonomie nur in den Schranken der kantonalen Gesetzgebung zu (Art. 40 Abs. 3 KV); diese regelt den vorzeitigen Schuleintritt abschliessend. Zwar lassen das Schulgesetz und die dazugehörige Verordnung der erstinstanzlich zuständigen kommunalen Schulbehörde einen gewissen Entscheidungsspielraum, indem der Schulrat einen vorzeitigen Schuleintritt erlauben kann und die hierbei zu beachtenden Voraussetzungen als unbestimmte Rechtsbegriffe formuliert sind, doch tun sie dies, was sich aus der Natur der genannten Kriterien ergibt, nicht in erster Linie, um einer allfälligen Verschiedenheit der Bedürfnisse und Verhältnisse in den einzelnen Gemeinden und damit lokalen oder organisatorischen Anliegen Rechnung zu tragen, sondern um allgemein in jedem Einzelfall eine pädagogisch sachgerechte Entscheidung zu ermöglichen. Das in der Bündner Schulgesetzgebung dem kommunalen Schulrat eingeräumte Ermessen ist damit nicht "gemeindefreiheitsbezogen"(vgl. zu diesem Begriff: THOMAS PFISTERER, a.a.O., in: ZBJV 125/1989 S. 19) und stellt deshalb qualitativ keinen autonomiebegründenden Spielraum dar.
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Wenn der Schulrat gemäss Art. 2 VVO neben den im Vordergrund stehenden "kindbezogenen" Voraussetzungen (körperliche und geistige Entwicklung) auch berücksichtigen kann, ob gegen die "Zulassung zur Schule (...) Bedenken bestehen", und somit gewisse organisatorische oder sonstige äussere Gegebenheiten, welche einer erfolgreichen Einschulung allenfalls entgegenstehen, den Bewilligungsentscheid beeinflussen können, vermag dieser indirekte Zusammenhang mit den örtlichen Verhältnissen für sich allein doch noch keinen geschützten Autonomiebereich zu begründen. Der Gemeinde ist zuzugeben, dass sie durch Entscheide kantonaler Rechtsmittelinstanzen, welche Gesuche um vorzeitige Einschulung in Verletzung der massgebenden kantonalen Vorschriften bewilligen, wegen der unter Umständen damit verbundenen Störung oder Erschwerung des Schulbetriebes in ihren eigenen kommunalen Interessen beeinträchtigt wird. Solche Konflikte können indessen überall auftreten, wo die Gemeinde der Entscheidungsgewalt von übergeordneten Instanzen unterworfen ist. Der Schutz der Autonomie greift aber erst dann Platz, wenn die beanstandete kantonale Anordnung die Gemeinde in einem Bereich trifft, wo ihr das kantonale Recht einen im Hinblick auf ihre Rolle im Gemeinwesen und den damit verbundenen Zweck der Gemeindeautonomie erheblichen Spielraum selbständiger Gestaltung einräumt; dies ist nach dem Gesagten hier nicht der Fall.
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