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Informationen zum Dokument  BGE 92 I 201  Materielle Begründung
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Regeste
Sachverhalt
Aus den Erwägungen:
4. In bezug auf denjenigen Teil der Klageforderung, der sich auf  ...
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35. Auszug aus dem Urteil vom 28. September 1966 i.S. Gisler gegen Menzi und Obergericht des Kantons Glarus.
 
 
Regeste
 
Art. 59 BV.  
 
Sachverhalt
 
BGE 92 I, 201 (201)Aus dem Tatbestand:
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Mit Vertrag vom 1. Oktober 1959 vermietete Fritz Menzi dem in Zollikerberg (Kt. Zürich) wohnhaften Hermann Gisler Garageräumlichkeiten in Mollis (Kt. Glarus) für die Berufsausübung seines Bruders Paul Gisler. In der Miete inbegriffen war die Überlassung gewisser Werkzeuge mit der Vereinbarung dass das infolge Verschuldens des Mieters defekte oder fehlende Material auf dessen Kosten repariert und nötigenfalls ersetzt werden müsse. Nachdem Menzi die Miete auf Ende April 1964 durch Kündigung aufgelöst hatte, belangte er Hermann und Paul Gisler beim Zivilgericht des Kantons Glarus "einzeln, eventuell solidarisch" auf Bezahlung des Kaufpreises für verschiedene in den Monaten Januar-April 1964 gelieferte Waren und auf Ersatz für gemäss Mietvertrag übernommene, nicht mehr vorhandene Werkzeuge.
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Hermann Gisler bestritt die örtliche Zuständigkeit des Gerichts unter Berufung auf Art. 59 BV. Das Zivilgericht Glarus schützte diese Einrede, das Obergericht des Kantons Glarus dagegen, an das Menzi appellierte, wies sie ab, in bezug auf den aus dem Mietvertrag abgeleiteten Teil der Forderung aus folgenden Gründen: Das Bundesgericht habe in BGE 29 I 163 ff. Ansprüche aus Immobiliarmiete als persönliche im BGE 92 I, 201 (202)Sinne von Art. 59 BV betrachtet. Dieser Auffassung sei indes in der massgebenden Literatur widersprochen worden (Guldener, Das internat. und interkant. ZPR S. 77 N. 242 c; Burckhardt, Komm. zur BV S. 554; Haab N. 30 zu Art. 656 ZGB). Dem sei beizupflichten. Die Abgrenzung der persönlichen Ansprachen von den Immobilien betreffenden Klagen sei in erster Linie nach prozessualen Gesichtspunkten und nicht nach den materiellrechtlichen Begriffen vorzunehmen. Da nun bei Streitigkeiten aus der Miete von Grundstücken vielfach auf örtliche Auffassungen und Verhältnisse abzustellen und oft ein Augenschein erforderlich sei, erscheine der Richter am Ort des Mietobjekts weitaus am geeignetsten zur Beurteilung solcher Streitigkeiten. Dieser Gerichtsstand sei auch dem Beklagten, sei er Mieter oder Vermieter, ohne weiteres zuzumuten, da ein Mietgrundstück durchwegs eine enge Beziehung mit dem betreffenden Ort schaffe. Eine gemäss Art. 260 OR im Grundbuch vorgemerkte Miete wäre wohl in Analogie zu BGE 44 I 41 ff. von der Garantie des Art. 59 BV ausgenommen, was bei der Immobiliarmiete ebenfalls für einen einheitlichen Gerichtsstand am Sachort spreche. Diese Auslegung ergebe sich auch aus der Entstehungsgeschichte des Art. 59 BV, der sich bereits in der BV von 1848 gefunden habe und auf ein Konkordat von 1804 zurückgehe; da das in jener Zeit vorherrschende deutsche Recht die Miete ganz den dinglichen Rechten zugewiesen habe, könne Art. 59 BV nach der Absicht des damaligen Gesetzgebers die Immobiliarmiete nicht erfasst haben.
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Mit der staatsrechtlichen Beschwerde beantragt Hermann Gisler, das Urteil des Obergerichts des Kantons Glarus vom 4. Mai 1966 sei aufzuheben. Er macht in erster Linie Verletzung des Art. 59 BV, eventuell eine solche des Art. 4 BV durch willkürliche Auslegung von § 7 Ziff. 7 glarn. ZPO geltend.
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Das Bundesgericht heisst die Beschwerde gut.
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Aus den Erwägungen:
 
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In der ständigen Rechtsprechung des Bundesgerichts sind BGE 92 I, 201 (203)Klagen aus einem Vertrag, sei es auf Erfüllung desselben oder auf Schadenersatz wegen Nichterfüllung, sei es auf Aufhebung des Vertrags oder auf Feststellung seiner Unverbindlichkeit, auch dann als persönliche Ansprachen behandelt worden, wenn sich der Vertrag auf eine Liegenschaft bezog, wie der Grundstückkauf (BGE 69 I 7 Erw. 3 und dort angeführte frühere Urteile), die Grundstückmiete (BGE 29 I 167 Erw. 3) oder ein Vertrag über Arbeiten an einem Hause (BGE 6 S. 366; vgl. BGE 87 I 55); eine Ausnahme wurde einzig gemacht in Fällen, in denen der obligatorische Anspruch durch eine Vormerkung im Grundbuch gesichert war (BGE 44 I 47 Erw. 2, BGE 92 I 38 Erw. 2; ZBGR 11 S. 67). In der neuern Rechtslehre wird allerdings sozusagen einhellig die Auffassung vertreten, der Gerichtsstand der gelegenen Sache sollte allgemein anerkannt werden für Vertragsklagen auf Übertragung des Eigentums (oder dinglicher Rechte überhaupt) an einem Grundstück (vgl. die Zitate in BGE 92 I 40 /41). Ferner ist vereinzelt und ohne nähere Begründung die Ansicht geäussert worden, der Gerichtsstand der gelegenen Sache sei auch für Forderungsklagen aus Immobiliarmiete und -pacht zuzulassen (BURCKHARDT, Komm. der BV S. 554 und GULDENER, Das internat. und interkant. ZPR der Schweiz S. 77 Anm. 242; die im angefochtenen Urteil weiter angerufene Stelle bei HAAB N. 30 zu Art. 656 ZGB enthält dagegen nichts hierüber). Das Obergericht hat sich dieser Ansicht im angefochtenen Entscheid angeschlossen und hat zur Begründung dafür vor allem vorgebracht, dass bei Beurteilung solcher Klagen vielfach auf örtliche Auffassungen und Verhältnisse abzustellen und oft ein Augenschein erforderlich sei, was den Gerichtsstand der gelegenen Sache als am geeignetsten, als naturgemäss gegeben erscheinen lasse. Das Bundesgericht hat es indes bisher grundsätzlich abgelehnt, aus prozessökonomischen oder sonstigen Zweckmässigkeitserwägungen von Art. 59 BV abzuweichen (vgl. BGE 52 I 137, BGE 53 I 50 und 54, BGE 66 I 238, BGE 71 I 346 Erw. 2 a. E., BGE 90 I 109). Hieran ist festzuhalten. Art. 59 BV enthält eine an sich klare Garantie zugunsten des Schuldners, deren Tragweite, was den Begriff der persönlichen Ansprache betrifft, in einer über 100-jährigen Rechtsprechung zunächst des Bundesrates und dann des Bundesgerichts im gleichen Sinne verstanden worden ist. Diese verfassungsmässige Garantie aus blossen Zweckmässigkeitsgründen abzuschwächen und zu durchlöchern, verbietet sich BGE 92 I, 201 (204)schon aus grundsätzlichen Erwägungen, vor allem aber im Hinblick auf die Rechtssicherheit, die es als besonders wichtig erscheinen lässt, dass der Rechtssuchende zum voraus mit Bestimmtheit weiss, an welchen Richter er sich zu wenden hat. Nun gibt es neben den zahlreichen Forderungsklagen aus Verträgen, welche sich auf ein Grundstück beziehen, noch weitere Klagen, die mit einem Grundstück zusammenhängen, wie die Klage auf Ersatz des durch Besitzesstörung verursachten Schadens, Schadenersatzklagen gegen den Grundeigentümer wegen Überschreitung des Eigentums (Art. 679 ZGB) oder wegen Werkmängeln (Art. 58 OR), die Klage wegen Beschädigung von Grundeigentum usw., für welche das Bundesgericht den Gerichtsstand der gelegenen Sache bisher ebenfalls abgelehnt hat (BGE 3 S. 633, 30 I 296 mit Verweisungen, 66 I 235 Erw. 3). Bei allen diesen Klagen aus Vertrag oder einem andern Rechtsgrund lassen sich Zweckmässigkeitsgründe für den Gerichtsstand der gelegenen Sache anführen, wie im angefochtenen Entscheid für die Klage aus Immobiliarmiete. Müsste für jede Klage geprüft werden, ob und unter welchen Voraussetzungen diese Gründe gewichtig genug sind, um eine Ausnahme von Art. 59 BV zu rechtfertigen, so ergäbe sich für den Kläger wie für den Beklagten eine Rechtsunsicherheit, die nicht zu verantworten wäre und es als geboten erscheinen lässt, an der bisherigen klaren Unterscheidung zwischen persönlichen und dinglichen Klagen festzuhalten. Hiegegen bestehen, was die in Frage stehenden Streitigkeiten aus Immobiliarmiete betrifft, umso weniger Bedenken, als die Parteien den Unzukömmlichkeiten, die sich aus der Anwendung von Art. 59 BV für den Kläger oder den Beklagten unter Umständen ergeben mögen, dadurch begegnen können, dass sie sich durch eine Gerichtsstandsklausel im Mietvertrag dem Richter am Ort der gelegenen Sache unterwerfen, wie dies häufig geschieht.
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Unbehelflich ist schliesslich der Einwand des Obergerichts, Klagen aus Immobiliarmiete seien deshalb keine persönlichen Ansprachen im Sinne von Art. 59 BV, weil die Miete zur Zeit des Erlasses der BV von 1848 in weiten Teilen der Schweiz als dingliches Recht gegolten habe. Einmal vermöchte dies angesichts der jedenfalls seit dem Inkrafttreten des OR von 1881 eindeutig obligatorischen Natur der Miete keine Ausnahme von der klaren Garantie des Art. 59 BV und dem durch eine mehr als 100-jährige Rechtsprechung festgelegten Begriff der BGE 92 I, 201 (205)"persönlichen Ansprache" zu rechtfertigen. Davon abgesehen kam nach dem früheren deutschen Recht nur dem Benützungsanspruch des Mieters dinglicher Charakter zu, nicht einem Schadenersatzanspruch des Vermieters gegen den Mieter, wie er hier in Frage steht.
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