BGE 122 I 253 - Anschlussbeschwerde | |||
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Bearbeitung, zuletzt am 15.03.2020, durch: DFR-Server, A. Tschentscher | |||
34. Auszug aus dem Urteil der I. Zivilabteilung vom 20. Mai 1996 i.S. P. AG gegen R. und Handelsgericht des Kantons Aargau (staatsrechtliche Beschwerde) | |
Regeste |
Staatsrechtliches Beschwerdeverfahren (Art. 83 ff.); Gesetzeslücke; Waffengleichheit (Art. 6 EMRK). | |
Sachverhalt | |
A.- R. ist Eigentümer eines Grundstücks in B., das zu rund 40% mit einem Gewerbegebäude überbaut ist. Die P. AG, die Mieträume suchte, traf im Sommer 1990 durch Vermittlung eines Architekten mit R. zusammen. Sodann wurde ein Projekt für den Bau eines Gewerbegebäudes auf dem Grundstück von R. ausgearbeitet, wobei die P. AG beabsichtigte, lediglich einen Teil des Neubaus zu mieten. Die Parteien liessen Pläne ausarbeiten, konnten sich aber nicht auf die Höhe des Mietzinses einigen. Anfangs Januar 1992 wurde die Baubewilligung erteilt. Da weiterhin keine Einigung über den Mietzins erzielt werden konnte, brach die P. AG Ende Januar 1992 die Verhandlungen ab.
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B.- Am 3. Mai 1993 reichte R. beim Handelsgericht des Kantons Aargau Klage gegen die P. AG ein. Er verlangte die Zahlung von Fr. 369'977.10 nebst Zins zu 5% seit dem 1. Juni 1992, eventualiter die Liquidation der einfachen Gesellschaft R./P. AG. Die P. AG beantragte die vollumfängliche Abweisung der Klage und widerklageweise die Zusprechung von Fr. 58'603.-- nebst 5% Zins seit dem 29. Juli 1993. In der Replik reduzierte R. sein Begehren auf Fr. 369'689.25.
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In teilweiser Gutheissung der Klage und in Abweisung der Widerklage verpflichtete das Handelsgericht am 28. April 1995 die P. AG, R. den Betrag von Fr. 101'970.10 zuzüglich 5% Zins seit dem 3. Mai 1993 zu bezahlen.
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C.- In der Vernehmlassung zur staatsrechtlichen Beschwerde der P. AG schliesst R. auf Abweisung des Rechtsmittels und erhebt eine sogenannte "Anschlussbeschwerde", mit der er ebenfalls die Aufhebung des angefochtenen Urteils beantragt.
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Das Bundesgericht tritt auf die sogenannte "Anschlussbeschwerde" nicht ein,
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aus folgenden Erwägungen: | |
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a) Für die Interpretation des Prozessrechts gelten die allgemeinen Regeln über die Gesetzesauslegung. Allfällige Lücken sind analog zu Art. 1 Abs. 2 ZGB durch richterliche Rechtsschöpfung zu füllen (MAX GULDENER, Schweizerisches Zivilprozessrecht, 3. Aufl., 1979, S. 52 f.; MEIER-HAYOZ, Berner Kommentar, N. 72 ff. zu Art. 1 ZGB). Die im materiellen Zivilrecht für die Lückenfüllung entwickelten Grundsätze gelten analog für das Prozessrecht (HENRI-ROBERT SCHÜPBACH, Traité de procédure civile, Bd. I, S. 182 ff.).
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Eine Lücke "praeter legem" liegt vor, wenn das Gesetz auf eine sich stellende Frage überhaupt jede Antwort schuldig bleibt (echte Lücke) oder eine Antwort gibt, die aber als sachlich unhaltbar angesehen werden muss (unechte Lücke; vgl. MEIER-HAYOZ, Berner Kommentar, N. 271 zu Art. 1 ZGB). Ob eine unechte Lücke von den Gerichten über den Rahmen von Art. 2 Abs. 2 ZGB hinaus ausgefüllt werden darf, ist in der Lehre mit guten Gründen bestritten worden (MEIER-HAYOZ, Berner Kommentar, N. 295 ff. zu Art. 1 ZGB). Die Frage braucht hier nicht erörtert zu werden, da weder eine echte noch eine unechte Lücke vorliegt.
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b) Aus dem Umstand, dass das Bundesrechtspflegegesetz die Frage nicht ausdrücklich regelt, kann nicht auf das Vorliegen einer echten Lücke geschlossen werden. Grundsätzlich sind nur die Rechtsmittel zulässig, die das Gesetz ausdrücklich vorsieht. Das Nichterwähnen einer sogenannten Anschlussbeschwerde im Verfahren der staatsrechtlichen Beschwerde kann im Sinn eines qualifizierten Schweigens verstanden werden. Der Beschwerdegegner behauptet zu Recht nicht, das Gesetz hätte sich zu dieser Frage ausdrücklich äussern müssen. Er hält vielmehr das Fehlen einer "Anschlussbeschwerde" als rechtspolitisch nicht vertretbar, als gegen den aus Art. 6 EMRK abgeleiteten Grundsatz der Waffengleichheit verstossend.
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c) Die neuere Rechtsprechung trägt dem Gebot der Waffengleichheit insoweit Rechnung, als eine staatsrechtliche Beschwerde nicht bereits gutzuheissen ist, wenn der kantonalen Instanz in irgendeinem Punkt eine willkürliche Sachverhaltsfeststellung oder Rechtsanwendung vorgeworfen werden kann. Der angefochtene Entscheid muss sich vielmehr auch im Ergebnis als verfassungswidrig erweisen (BGE 118 Ia 118 E. 1c mit Hinweisen; KARL SPÜHLER, Die Praxis der staatsrechtlichen Beschwerde, Rz. 502). Der Beschwerdegegner kann sich in seiner Vernehmlassung nicht nur mit den Rügen der beschwerdeführenden Partei auseinandersetzen. Er darf auch eigene Rügen erheben, soweit diese darlegen sollen, dass trotz der Stichhaltigkeit der vom Beschwerdeführer vorgebrachten Rügen und in Abweichung der im angefochtenen Urteil getroffenen Feststellungen und vorgenommenen Rechtsanwendung der getroffene Entscheid im Ergebnis richtig ist (BGE 101 Ia 521 E. 3, BGE 115 Ia 27 E. 4a; WALTER KÄLIN, Das Verfahren der staatsrechtlichen Beschwerde, 2. Aufl., 1994, S. 221 f.; MESSMER/IMBODEN, Die eidgenössischen Rechtsmittel in Zivilsachen, S. 229 Fn. 25; KARL SPÜHLER, a.a.O., Rz. 75). Dem Beschwerdegegner stehen somit für die Verteidigung des angefochtenen Entscheides, mit dem er sich grundsätzlich abgefunden hat, der Beschwerde ebenbürtige Behelfe zur Verfügung. Die Waffengleichheit ist insoweit gewahrt.
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d) Eine Verletzung der Waffengleichheit könnte allenfalls denkbar sein, wenn die im kantonalen Verfahren unterlegene Partei ausschliesslich Berufung erhebt, weil das kantonale Gericht Bundesrecht falsch angewendet haben soll. Diesfalls kann der Rechtsmittelgegner in der Berufungsantwort nicht geltend machen, der Vorwurf der falschen Rechtsanwendung sei zwar zutreffend, der Entscheid im Ergebnis aber dennoch richtig, weil das Gericht den Sachverhalt willkürlich festgestellt habe. In einem solchen Fall könnte es sich rechtfertigen, mit einer sogenannten staatsrechtlichen Anschlussbeschwerde auf die Berufung der Gegenpartei zu reagieren. Das Bundesgericht hat aber auch in diesen Fällen einen anderen Weg beschritten, indem es - in Abweichung zu einzelnen Entscheiden (BGE 89 I 513 E. 4 S. 523) - die im kantonalen Verfahren obsiegende Partei als legitimiert angesehen hat, innert der gesetzlichen Frist staatsrechtliche Beschwerde für den Fall zu erheben, dass die Gegenpartei mit einer Berufung an das Bundesgericht gelangt (BGE 86 I 224 ff., BGE 96 I 462 E. 3; MESSMER/IMBODEN, a.a.O., S. 201 und 229 Fn. 25; siehe auch THOMAS GEISER, in: Prozessieren vor Bundesgericht, Rz. 1.5).
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Eine vorsorgliche staatsrechtliche Beschwerde, die nur im Hinblick auf eine allfällige eidgenössische Berufung der Gegenseite ergriffen wird, kann für die beschwerdeführende Partei mit einem erheblichen Aufwand verbunden sein, der sich möglicherweise im nachhinein als überflüssig erweist. Dies gilt aber auch für jene Partei, welche ihre Berufung mit einer staatsrechtlichen Beschwerde verbindet. Wird eines der beiden Rechtsmittel gutgeheissen, erweist sich das andere als vorsorgliche Rechtsvorkehr, und die das Rechtsmittel erhebende Partei hat die entsprechenden Verfahrenskosten zu tragen, obgleich sie möglicherweise wegen des anderen Rechtsmittels ihr Ziel erreicht hat. Diese Unzukömmlichkeiten sind die zwingende Folge des Umstandes, dass mit der Berufung keine Verfassungsverletzung geltend gemacht werden kann.
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